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Ulrich Greiner
Die Begründungsfalle
Zur Legitimierung altsprachlicher Bildung

Vortrag Altphilologenkongress Marburg 29. April 2000

Ich möchte mich bei Herrn Professor Maier und bei Ihnen allen herzlich für die Einladung bedanken. Es ist für mich eine Ehre, zu Ihnen sprechen zu dürfen, eine vielleicht unverdiente Ehre, denn ich bin, wie Sie wissen, kein Altphilologe. Zwar habe ich eine humanistische Schule besucht, das Heinrich-von-Gagern-Gymnasium in Frankfurt am Main, wir haben Horaz und Euripides gelesen, und ich erinnere mich an eine Schüleraufführung des Aias von Sophokles. Aber von Hause aus bin ich Germanist. Meine Tätigkeit ist die des Literaturkritikers, des Literaturredakteurs, ich bin, um es kurz zu sagen, Journalist.

Als solcher besuchte ich kürzlich eine internationale Konferenz zum Thema der neuen elektronischen Medien, also Internet, E-Commerce, E-Book, Online-Buchhandel. Das Vorstandsmitglied eines der größten Medienkonzerne hielt einen Vortrag, natürlich auf Englisch und natürlich mit Hilfe eines Computers, der Thesen und Statistiken auf eine Leinwand projizierte. Der Mann, vielleicht Anfang vierzig, eilte im Sturmschritt auf das Podium und sprang die drei Stufen in einem einzigen Satz hinauf. Das passte optimal zu den Siegesmeldungen, die er danach verkündete. Das Internet, so sagte er sinngemäß, ist eine Goldmine, und wer nicht jetzt seine Claims absteckt, hat verloren. Denjenigen aber, die massiv in die neue Ökonomie investieren, sind Markt und Macht und Erfolg sicher.

Nahezu alle Konferenzteilnehmer schienen von diesem Goldrausch gepackt. Nur ein kleines Problem tauchte eher am Rande auf: content. Es gibt, so war zu erfahren, einen gewissen Mangel an content. Die Informationstechnologie (man sagt, wie ich gelernt habe, IT dazu) bietet eine geradezu unendliche Vielzahl neuer Gefäße und Kanäle, aber die Frage, was da hinein soll, wird offenbar zum Problem. Um eine alte Metapher abzuwandeln: Es gibt zwar massenhaft neue Schläuche, aber der Wein ist alle.

Content also, Inhalt. Wir können dafür einen Begriff einsetzen, der neuerdings wieder Konjunktur hat: Bildung. Jedenfalls schließe ich das aus dem erstaunlichen Erfolg, den Dietrich Schwanitz mit seinem Buch Bildung - Alles was man wissen muss erzielt hat. Seit vielen Wochen steht es auf den Bestsellerlisten. Ganz offensichtlich gibt es ein großes Bedürfnis nach Autorität und Bildung. Die beschleunigte Informationsgesellschaft erzeugt eine zentrifugale Bewegung, in deren Mitte ein gewaltiges Loch gähnt. Schwanitz hat das kaltblütig erkannt.

Welche Art von Bildung brauchen wir, damit wir in den Informationsfluten nicht untergehen? Schwanitz behauptet, es zu wissen. Diese Welt ist ja dreigeteilt: Ganz unten sind die Menschen, die überhaupt keinen Zugang zu den Informationen haben, sei es, weil sie Analphabeten sind, sei es, weil sie aus geografischen oder finanziellen Gründen fern von jeder Bibliothek und jedem Internet-Anschluss leben. In der Mitte sind diejenigen, die alle Informationsmöglichkeiten haben, aber nicht damit umgehen und nichts daraus machen können. Und die dritte Gruppe, die Elite wird von jenen gebildet, die die Informationsströme beherrschen, sie auswählen, aus- oder abschalten können, weil sie Kriterien und Maßstäbe besitzen. Die Frage, ob humanistische Bildung dafür taugt, vielleicht in besonderem Maße taugt, solche Maßstäbe zu prägen, beschäftigt natürlich Sie, die Sie in den alten Sprachen zu Hause sind, sie beschäftigt aber auch mich.

Vielleicht ist es von Interesse, wenn ich den autobiografischen Hintergrund erwähne, der mich dazu bewogen hat, diese Einladung anzunehmen. Meine älteste Tochter, nunmehr 14 Jahre alt, besucht das einzige wirklich altsprachliche Gymnasium in Hamburg, die 1529 gegründete Gelehrtenschule des Johanneums. Mit dem Ausdruck "wirklich altsprachlich" meine ich die Tatsache, dass man am Johanneum Griechisch lernen muss, während an den anderen altsprachlichen Gymnasien Hamburgs - es sind alles in allem nahezu sieben - die Freiheit besteht, zwischen Griechisch und Französisch oder Griechisch und Russisch wählen zu dürfen. Eine Wahl, die den meisten Schülern nicht schwer fällt, zumal sie in einem Alter zu treffen ist, dessen Heroen naturgemäß nicht Sokrates oder Antigone heißen sondern Leonardo di Caprio oder Back Street Boys.

Das führt dazu, dass im entsprechenden Jahrgang schätzungsweise hundert Schüler Altgriechisch lernen, eine Zahl, von der man annehmen sollte, dass sie in einer Stadt mit 1,7 Millionen Einwohnern als erträglich und hinnehmbar erschiene, und wenn schon nicht aus Überzeugung, dann vielleicht aus Gründen des Artenschutzes. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass die Hamburger Schulpolitik die altsprachlichen Gymnasien direkt abschaffen wollte. Es gibt, wie Sie wohl aus eigener Erfahrung wissen, andere Möglichkeiten, die nicht weniger wirkungsvoll sind.

Eine besteht darin, den Auslandsaufenthalt in der zehnten Klasse massiv zu fördern, unter anderem durch eine finanzielle Beihilfe, was aber darauf hinausläuft, den Bildungsauftrag der Schule preiswert ans Ausland zu delegieren. Es sind nämlich die Eltern, die in der Hauptsache für die Kosten aufkommen, und die Schulbehörde spart Geld, weil sie die Stundenzuweisung um die Zahl der abgemeldeten Schüler kürzt. Das Verfahren erinnert an die Büsumer Krabben, die nach Marokko geflogen, dort von billigen Arbeitskräften geschält und wieder zurückgeflogen werden. Die aus dem Ausland heimgekehrten Schüler verspüren in der Regel wenig Lust - oder sie trauen es sich nicht zu - , das einmal angefangene und ein Jahr unterbrochene Griechisch erfolgreich fortzusetzen. Da am Johanneum eine der beiden alten Sprachen Prüfungsfach sein muss, wählen die meisten Latein.

Eine andere Möglichkeit, den altsprachlichen Gymnasien das Leben schwer zu machen, besteht in der Einführung des Englischen in der Grundschule. Die Kinder und die Eltern sehen nicht ein, weshalb sie am altsprachlichen Gymnasium das Englische zunächst nicht fortführen können, sondern Latein lernen müssen. Die logische Konsequenz bestünde darin, den Beginn des Lateinunterrichts zu verschieben. Ich bin sicher, das wäre der Schulbehörde nicht unangenehm. Es gibt dort Überlegungen, das Johanneum in ein zeitgemäß neusprachliches Gymnasium umzuwandeln, falls die Nachfrage nach altsprachlicher Bildung anhaltend sinken sollte. Glücklicherweise tut sie das nicht, trotz der beschriebenen Schwierigkeiten.

Ich will Sie mit solchen Hamburgensien nicht langweilen. Sie sind der Hintergrund, vor dem ich selber den Legitimationsdruck erfahre. Gute Freunde fragen uns besorgt, weshalb wir unsere Tochter sehenden Auges in die Sackgasse altsprachlicher Bildung schicken. Latein, das mag ja noch angehen, aber Griechisch? Um Himmels willen! Wenn man sich schon das Leben schwer machen will, warum nicht Chinesisch? Das immerhin wird von mehr als einer Milliarde Menschen gesprochen. Jedes Jahr kommen die Eltern und Kinder zum Tag der Offenen Tür, sehen sich die Schule an und stellen immer dieselbe Frage: Ist es wirklich wahr, dass man hier Griechisch lernen muss? Und wieso? Nur wenige haben aus eigener Erfahrung einen Begriff von humanistischer Bildung, wobei übrigens diejenigen, die eine solche Erfahrung haben, keineswegs immer dazu neigen, sie auch ihren Kindern zuteil werden zu lassen. Teils, weil sie üble Erinnerungen an die Paukerei haben, teils, weil sie glauben, in einer Welt der Globalisierung und des Internets sei die alte Bildung nicht länger brauchbar.

Wie also kann man sie rechtfertigen? Ich resümiere jetzt die Argumente, wie sie üblicherweise auch am Johanneum vorgebracht werden, Argumente, die ich keineswegs für schwachsinnig halte. Sie drücken allerdings eine gewisse Hilflosigkeit aus, und diese Hilflosigkeit soll das Thema meiner Überlegungen sein.

Das erste Argument lautet, Latein müsse man lernen, weil die meisten Fremdwörter und wissenschaftlichen Begriffe lateinischen Ursprungs seien. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass diese Feststellung am ehesten Eltern minderen Bildungsgrades einleuchtet. Die Vorstellung, ihre Kinder würden endlich all die Fremdwörter beherrschen, vor denen sie selber immer die Flucht ergriffen haben, scheint zunächst verlockend. Aber wenige Eltern sind so blöde, dass sie nicht nach einigem Nachdenken auf die naheliegende Frage kämen, ob denn der Lateinunterricht nicht ein ziemlich umständlicher Umweg zum Erlernen von Fremdwörtern sei.

In der Tat. Vor einiger Zeit fiel mir das Lexikon deutscher Wörter arabischer Herkunft in die Hände. Hätten Sie gewusst, dass Wörter wie Admiral oder Alkohol, Giraffe oder Gitarre, Mütze oder Tasse, Ziffer oder Zucker arabischen Ursprungs sind? Was also spräche dagegen, Arabisch zu lernen? Nicht mehr als gegen Latein oder gar Griechisch. Das Fremdwort-Argument lässt sich allenfalls ein einziges Mal anwenden, und wer damit auch noch den Griechisch-Unterricht begründen wollte, der müsste schon mit einer geradezu heiligen Einfalt seiner Zuhörer rechnen. Rhythmus und Melodie kommen also aus dem Griechischen? Das ist ja aufregend!

Das zweite Argument lautet, Latein sei die Mutter aller westeuropäischen Sprachen, und wer Latein könne, dem falle Englisch und Französisch gewissermaßen im Fluge zu, von Spanisch und Italienisch ganz zu schweigen. Na ja. Ich habe Latein gelernt und kann bis heute kein Italienisch. Sprachgeschichtlich ist das Argument okay, aber jeder verständige Zeitgenosse wird sich fragen, ob es nicht gescheiter wäre, den Kindern gleich die modernen Fremdsprachen beizubringen, in jenem Alter nämlich, da sie von einer geradezu verblüffenden Lernfähigkeit sind, die dann ja, mit dem mählichen Eintritt ins Erwachsenenalter, rapide abnimmt. Und wieder sehe ich, dass diese Begründung allenfalls für Latein taugt, fürs Griechische aber schon nicht mehr.

Das dritte Argument lautet, im Lateinunterricht lerne man die grundlegenden Gesetze der Sprache, ihrer Syntax und Grammatik. Durch die Arbeit am Text und seiner Übersetzung wachse das Verständnis auch für die eigene Sprache. Das stimmt. Aber es stimmt auch, dass die Eigenheiten des Lateinischen nicht ohne weiteres auf andere Sprachen anwendbar sind. Es gibt eben einen Unterschied zwischen Imperfekt und Präteritum. Und es fragt sich, ob nicht das Erlernen der griechischen Grammatik im Sinne dieses Arguments einen Overkill darstellt. Die monströse Menge der Flexionsformen kann doch im Ernst nicht als zwingende Voraussetzung zum allgemeinen Sprachverständnis gelten.

Ich unterbreche hier die Erörterung der Rechtfertigungsargumente, weil, wie ich hoffe, klar geworden ist, worum es mir geht: Der Legitimationsdruck fördert eine Verteidigungsstrategie, die sich die Bedingungen vom Gegner vorgeben lässt. Die Gegner sind die Technokraten, die Modernisten, die Effizienzfanatiker. Sie sitzen in den Arbeitsämtern und in den Handelskammern, in den Schulbehörden und auch in den Elternräten. In ihren Augen zählt allein das Nützlichkeitsargument, die Vorbereitung auf die Erfordernisse des Arbeitsmarktes.

Hier lauert die Begründungsfalle, in die man gerät, wenn man sich auf die Nützlichkeitsebene einlässt, wenn man versucht, die Sprache derer zu sprechen, die allein an Effizienzkriterien interessiert sind und sonst an nichts. Ein typisches Argument, das in der Defensive geboren wurde, lautet, Latein sei deshalb keine tote Sprache, weil es Asterix auf Latein gebe. Wenn die humanistische Bildung von Asterix abhängt, dann gute Nacht, dann ist die Begründungsfalle zugeschnappt.

Im Feuilleton der Frankfurter Rundschau (31. 3. 00) war vor wenigen Wochen ein Artikel zu lesen, der den Mangel an deutschen Computerspezialisten auf die, wie es heiß, "dominierende Rolle von Philosophie und Philologie im deutschen Geistesleben" zurückführte. Der Autor schrieb: "Die einst am humanistischen Gymnasium praktizierte Schulung des Geistes an lateinischer und griechischer Grammatik muss jetzt im algorithmischen Denken erfolgen, das man am besten beim Schreiben kleiner Computerprogramme lernt." Sie sehen an diesem Beispiel, dass man in des Teufels Küche kommt, wenn man altsprachliche Bildung auf Effizienzkriterien herunterdiskutiert. Was immer an nützlichen Gründen für die alten Sprachen sprechen mag: Es wird jederzeit modernere Lehrgegenstände geben, an denen man Dasselbe oder etwas Ähnliches lernen kann.

Es lässt sich nicht übersehen, dass der neoliberale Ökonomismus auf die Schulen und Hochschulen voll durchschlägt. Und zwar von oben wie von unten. Von oben dergestalt, dass der derzeit amtierende Bundeskanzler mit einem zeitlichen Verzug von vier Jahren Bill Clinton nacheifert und in Lissabon den Anschluss einer jeden Schulbank ans Internet ankündigt. Von unten dadurch, dass ein nervös gewordener Mittelstand an den Erfolgsaussichten seines mühsam gezeugten Nachwuchses zweifelt, die eigenen Versäumnisse den Lehrern vorhält und verschärfte Leistung abfordert. Ich kenne Eltern, die der Überzeugung sind, die Vorbereitung fürs Abitur müsse schon in der Grundschule beginnen.

Früh krümmt sich, was ein Häkchen werden will - das ist die Logik, die der Markt der Nützlichkeiten zu erzwingen scheint. In dieser Situation geraten alle scheinbar nichtnützlichen Fächer in die Defensive. Ein Berliner Professor hat kürzlich herausgefunden - es stand nebenbei bemerkt in der ZEIT - , dass regelmäßige musikalische Praxis nicht allein die soziale Kompetenz verstärkt, sondern auch die Intelligenz fördert. Ich habe keinen Anlass, dieses willkommene Forschungsergebnis zu bezweifeln. Ich sehe nur, dass hier eine Begründungsmechanik bedient wird, die einem früher komisch erschienen wäre und die, wie ich behaupte, objektiv absurd ist.

In einem Liederbuch meiner Schulzeit stand als Motto zu lesen: "Sprich, und du bist mein Mitmensch. Singe, und du bist mein Bruder." Auch das ist komisch, wie ich sofort zugebe, aber der Gedanke, es könnte ein gelungenes Schulkonzert für alle Beteiligten nicht nur einen Spaß, sondern eine große innere Bereicherung, eine Vertiefung des Empfindens und Verstehens bedeuten - dieser Gedanke ist zwar im pädagogischen Binnenraum evident, er hat aber in den Außenbeziehungen zu den Effizienzagenturen der Wirtschaft und des Staates keinen Marktwert. Um es einfacher auszudrücken: Wer zahlt, schafft an.

Die zwei Kulturen, von den C. P. Snow gesprochen hat, existieren noch immer, aber sie haben sich verändert. Auf der einen Seite befindet sich der technisch-industrielle Komplex, der sein Verwertungsinteresse zum generellen Maßstab macht. Das hat seine Folgen. Nahezu alles, was die beschleunigte Informationsgesellschaft um- und antreibt, ob Computer oder Mode, Umwelt oder Globalisierung, Internet oder Fernsehen, erhebt Anspruch auf Berücksichtigung in Lehre und Forschung. Was Schüler heute kennen und können sollen, ist, verglichen etwa mit den friedlichen Sechzigern, geradezu monströs. Da verlangen rasend gewordene Modernisten die völlige Umstellung des Unterrichts aufs Internet, da wird, natürlich in Hamburg, deutsche Geschichte auf englisch unterrichtet. Nicht anders an der Universität: Da wirft ein Traditionsfach wie die Germanistik ihre Standards über den Haufen, verkleidet sich als Kulturwissenschaft und erforscht die Mechanismen der Talk Shows.

Aber die andere Kultur, bei C. P. Snow die geisteswissenschaftlich intellektuelle, existiert nach wie vor. Sie hat sich allerdings aufgespalten in verzagte Modernisierer und weltflüchtig konservative Bildungsbürger. Einer davon ist Botho Strauß. Er hat einmal verzweifelt gefragt: "Wer liefert das Vokabular zu einer gräßlichen Kritik der demokratischen Sinnenwelt? Ihre Übel gilt es anzuführen als Grundübel, ohne süßliche Relativismen, erzählt und bezeugt von einem Juvenal-Standort."

Auf seltsame Weise weltflüchtig oder gegenwartsflüchtig ist auch Manfred Fuhrmann, den Sie vermutlich alle kennen. In seinem bemerkenswerten Buch Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters schildert er mit gelassener Kennerschaft die Entstehung, Verbreitung und Bedeutung dessen, was er den europäischen Kanon nennt: Einen aus der Antike schöpfenden, überall in Europa verbreiteten Begriff von Kenntnis und Bildung, der sich auf einen ziemlich genau begrenzten Fundus der Kunst und der Philosophie bezieht und das Reich des Wissenswerten in jenem Ensemble von Fächern ordnet, das noch heute rudimentär an den Gymnasien Gültigkeit hat.

Das Erstaunliche an dieser Darstellung ist ihre vollkommene Rückwärtsgewandtheit. Fuhrmann macht einen breiten Rücken gegen die verdrießliche Gegenwart, indem er ausschließlich über das Zeitalter des Bürgertums spricht, das vom späten 17. bis zum frühen 20. Jahrhundert Träger dieser Bildungsidee gewesen war. Dieses Bürgertum, so Fuhrmann, existiere nicht mehr, ebensowenig wie sein zentraler Bildungsort, das Gymnasium, und damit sei auch der europäische Bildungskanon verschwunden. Der Leser vergießt eine Träne. Hat ihm doch Fuhrmann den schönen Reichtum der europäischen Kultur verlockend vor Augen geführt, um ihn dann ungetröstet in die Kälte der Massenkultur zu entlassen. Johanna geht, und nimmer kehrt sie wieder.

Ist das klug oder resignativ? Die Klugheit könnte darin bestehen, dass Fuhrmann den auf Bildungsentzug gesetzten Leser zum Widerstand gegen den Verlust animieren möchte. Ich habe meine Zweifel an dieser Lesart. Es scheint eher so, als segele Fuhrmann ungern im seichten Brackwasser gegenwärtiger Misere, als fühle er sich auf den tiefen Meeren der Geschichte wohler. Aus seinem Buch spricht der Geist der Exklusivität, der weiß, dass die Schätze, die er zu bieten hat, an den Börsen nicht notiert werden, was ihm aber nichts ausmacht.

Ich gestehe, dass mir diese Haltung, die man gerade bei gebildeten Zeitgenossen nicht selten findet, missfällt. Wenn nämlich Fuhrmanns Gedanke zutrifft, dass der Begriff Europa auch ein Bildungsbegriff ist, dann kommt es mir ziemlich eskapistisch vor, auf Intervention zu verzichten. Bei Botho Strauß, von dem ich glaube, dass er einer der letzten radikal gesellschaftskritischen Intellektuellen ist, fand ich die folgende Bemerkung: "Dass Naturwissenschaft und Technik einmal so unfruchtbar stagnieren wie die Altphilologie heute, dass die letzten Innovationen im Automobilbau einmal Dezennien zurückliegen, dass eine Periode anbricht, in der die Technik, dem Weg aller Kulturleistungen folgend, an allgemeinem Interesse verliert, wie Kunst und Kirche, das nimmt sich heute so unwahrscheinlich aus wie die Erfindung einer negativen Science fiction."

Dass die Altphilogie stagniere, ist eine Behauptung, die ich nicht überprüfen kann, mir scheint aber, dass Fuhrmann eine Chance vergeben hat. Selbst wenn man zugesteht, dass es ein Bildungsbürgertum im Sinne Fuhrmanns nicht mehr gibt, so wird man doch feststellen können, dass eine andere soziokulturelle Schicht, eine andere Elite an dessen Stelle getreten ist. Irgendjemand wird es ja sein, der Sloterdijk oder Habermas liest, der die ZEIT oder die FAZ oder den Merkur abonniert, ins Theater oder in die Museen geht. Allein die Quantität der heutzutage verkauften Klassiker übertrifft um ein Vielfaches die Zahlen der von Fuhrmann gerühmten Epoche. Weder kann man unterstellen, die Konsumenten läsen nicht oder sie verstünden nicht, was sie lesen und sehen, noch kann man unterschiedslos von Massenkultur reden.

Die Frage ist weniger, wie man die Funktionselite, die dem Bürgertum gefolgt ist, näher umgrenzt und bezeichnet, sondern wie sie sich bildet und bilden sollte. Und damit sind wir wieder bei der Legitimationsfrage. Wie könnte man die Notwendigkeit altsprachlicher Bildung zeigen, ohne in die Begründungsfalle zu tappen? Bevor ich eine Antwort darauf versuche, möchte ich den Spieß herumdrehen und behaupten: Die Beweislast liegt nicht beim Angeklagten, sondern beim Ankläger. Wer altsprachliche Bildung abschaffen will, der muss begründen weshalb.

Angenommen, eine Bürgerinitiative hätte sich die Abschaffung des Mathematikunterrichts zum Ziel gesetzt und die Mathematiklehrer müssten - übers einfache Rechnen hinaus - die Notwendigkeit ihres Fachs begründen, sie kämen in nicht geringe Schwierigkeiten. Der Umgang mit einem Taschenrechner ist schnell erlernt, und höhere Mathematik ist für die meisten Berufe nicht notwendig. Ich jedenfalls habe das meiste aus meinem Mathematikunterricht vergessen und nie wieder gebraucht.

Aber leider ist klar, dass der Hase so nicht läuft. Die öffentlichkeitswirksamen Kriterien sind andere. Ich bin zum Beispiel der Meinung, dass ein literarischer Kanon existiert, und zwar ganz unabhängig davon, ob er anerkannt wird oder nicht. Es gibt keinen vernünftigen Zweifel daran, dass Goethe, Hölderlin, Kleist, Kafka, Rilke und Thomas Mann, um nur ein paar wenige Namen aus der deutschen Literatur zu nennen, die kulturelle Tradition, in der wir stehen, so entscheidend mitbestimmt haben, dass ihre Kenntnis bei einem Abiturienten vorausgesetzt werden muss - so wie ein Abiturient selbstverständlich wissen sollte, was eine Parabel oder eine Hypotenuse ist. Dieses apodiktische Urteil wird aber nur von wenigen geteilt, obwohl ihre Zahl allmählich wieder zunimmt, erfreulicherweise. Aber noch immer ist es so, dass die Notwendigkeit der Kafka-Lektüre oder gar der Homer-Lektüre unter einem Beweisdruck steht, der für andere Kenntnisse keineswegs gilt.

Kürzlich sprach ich mit einen Altphilologen des Johanneums darüber, dass es ja wohl nicht ganz leicht sei, den Eltern und Schülern die Notwendigkeit des Griechischen zu begründen. Der in Heiterkeit ergraute Mann sagte mit listigem Lächeln: "Das können Sie nicht begründen. Es ist schön."

Natürlich muss man, und das ist die große Aufgabe der Schule, den Schönheitssinn hervorlocken und entwickeln. Aber wir leben in einer Zeit, in der die Schönheit einer Sache nicht als hinreichender Daseinsgrund gilt. Ich meine damit natürlich nicht Mode oder Kosmetik oder ähnliches, sondern Ästhetik. Die ästhetische Gestalt eines Rilke-Gedichts oder einer Passage aus der Odyssee ist, davon muss ich Sie nicht überzeugen, jedes Lernens und Nachdenkens wert. Aber ganz ohne Liebe, ohne Leidenschaft geht das nicht, und die Schwierigkeit besteht darin, dass man nur denjenigen von Schönheit überzeugen kann, der ein Gespür dafür hat. "Ein Kunstgebild", sagt Mörike, "wer achtet sein? Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst."

Mit Schönheit allein, das gebe ich zu, kann man den Kampf der Argumente nicht gewinnen. Aber das Ideal der humanistischen Bildung hat sich ja nie auf diesen Gedanken allein gegründet. Es war immer auch geistespolitisch motiviert. Werfen wir einen Blick auf den scheinbaren Antipoden all dessen, was altmodischen Humanisten am Herzen liegt. Ich spreche von Amerika, jenem Land, aus dem in kulturkonservativer Sicht alles Unheil der Moderne gekommen ist und kommt, vom Coca Cola bis zur Talk Show und zum Internet. Aber das ist natürlich nur die eine Seite.

Die andere Seite besteht, darin, dass sich die amerikanischen Gründungsväter immer als die besseren Europäer verstanden haben. Sie stützten sich auf die Tradition des Christentums und der Antike. Es war das neue Jerusalem, die biblische Stadt auf dem Hügel, The City upon the Hill, die John Winthrop, der Gouverneur der Massachusetts Bay Company, 1630 errichten wollte. Und noch im Januar 1997, in seiner zweiten Inaugurationsrede, berief sich Präsident Clinton auf das Promised Land, das Gelobte Land und das Land der Verheißung. Er sagte: "Lasst uns, geleitet durch die überlieferte Vision des Gelobten Landes, ein Land neuer Verheißung in den Blick fassen."

Zum Land der Verheißung gehört auch der Rekurs auf die Antike. Das ist leicht zu erkennen, wenn man die Federalist Papers liest, die in den Jahren 1787 und 1788 von Alexander Hamilton, James Madison und John Jay verfasst wurden. Die Federalist Papers bilden die Gründungsschrift der Vereinigten Staaten von Amerika, indem sie zwei scheinbar unvereinbare Dinge versöhnen und zum Ausgleich bringen: die Freiheit des Individuums und die Ordnung des Gemeinwesens.

Vor allem Hamilton und Madison berufen sich dabei auf antike Vorbilder. Ausführlich diskutieren sie die Verfasstheit der griechischen Stadtstaaten und ihre Bündnispolitik. Es ist imponierend, mit welcher Selbstverständlichkeit die Autoren über rund zweitausend Jahre hinweg eine Traditionslinie ziehen, die nach ihrem Verständnis in der neuen amerikanischen Verfassung zur Vollendung kommt.

Sichtbarer Ausdruck dieses Vermächtnisses ist die antikisierende Architektur amerikanischer Parlamentsgebäude, die dazu geführt hat, dass nahezu jede amerikanische Provinzhauptstadt ihr Kapitol besitzt. Die seltsamste Pointe dieser Antikenbegeisterung ist die herculaneische Villa dei Papiri, die der Ölmilliardär Getty 1975 in Malibu nachbauen ließ. Sie leuchtet weiß unter einem blauen californischen Himmel. Aber der Pazifik ist halt doch nicht das Mittelmeer.

Ich bin nicht sicher, ob die politische Diskussion, die zur Gründung der europäischen Union und zu den römischen Verträgen geführt hat, eine derart in die Tiefe der Geschichte reichende Dimension hatte, wie sie die Verfassungsdiskussion der Federalist Papers auszeichnete. Aber ich bin sicher, dass sich Europa, wenn es gelingen soll, nicht bloß auf den Euro, auf das Preisbindungsverbot und den Freihandel stützen darf. Dieses historische Kraftwerk Europa, das nicht selten auf seinen GAU zugesteuert ist, muss Gegenstand der Lehre und des Unterrichts sein. Und Europa beginnt in Athen. Ohne Kenntnis des eigenen Herkommens, also der kulturellen Tradition, ist Europa nicht zu haben.

Aus diesem Grund finde ich das bereits erwähnte Buch von Dietrich Schwanitz verdienstvoll, ungeachtet der berechtigten Kritik, die es auf sich gezogen hat. Mir gefällt an Schwanitz, dass er die Begründungsfalle einfach überspringt und ebenso frech wie überzeugend behauptet, dass humanistische Bildung keiner anderen Legitimation bedarf als die einer Erzählung, die uns unsere Herkunft und unsere Konflikte erklärt und anschaulich macht.

Das eigentlich Spannende an seinem Kompendium ist die Logik, ist die Zielrichtung dieser Erzählung. Sie behauptet erstens, dass es eine europäische Bildungsidee gibt, und zweitens, dass sie nach wie vor gilt. Sie entsteht aus zwei antagonistischen Kräften: der christlich-jüdischen Tradition und der griechischen Antike. Folglich zieht Schwanitz, manchmal kalauernd wie ein Alleinunterhalter, die gesamte Bibel und die gesamte griechische Mythologie als eine Nummernrevue ab, aber zugleich so eindringlich, dass klar wird, wie die Geschichte Europas, bis in die geografischen Verzweigungen hinein, bis in die großen Darstellungen der Künste und der Literatur, immer wieder von diesem ebenso furchtbaren wie fruchtbaren Grundkonflikt vorangetrieben wird - selbst noch der Krieg in Jugoslawien, der sicherlich anders verlaufen wäre, der vielleicht sogar hätte vermieden werden können, wenn die westlichen Staatsmänner und Medien etwas weniger unwissend gewesen wären.

Die humanistische Bildung ist ein gutes Mittel zur Verringerung dieser historischen Unwissenheit, die sich ja nicht selten mit dem Trugschluss beruhigt, je länger etwas zurückliege, umso weniger sei es von Bedeutung. Es gehört zu den großen Irrtümern unserer Zeit, dass wir geneigt sind, Maßstäbe der Technik und der Wirtschaft auf alle anderen Sphären auszudehnen. Demnach wäre die humanistische Bildung veraltet, so wie der Vergasermotor oder das Drehscheibentelefon veraltet sind.

In geistigen Dingen gibt es kein Veralten. Es gibt nur das Vergessen. So wie der Balkan gewissermaßen vergessen worden war. Plötzlich erinnerte man sich an den grandiosen Roman Die Brücke über die Drina von Ivo Andric. Man las ihn und sah, dass man ihn schon längst hätte lesen sollen, weil da alles schon gesagt war, man sah, dass Andric die jugoslawische Katastrophe vorausgesehen hatte.

Zu meinen Bildungserlebnissen gehört die Wahrnehmung, dass die vielgepriesenen Aquädukte der Römer, die jeder Reiseführer mit drei Sternen kennzeichnet, insofern ein historischer Nonsens waren, als die anderthalbtausend Jahre ältere minoische Kultur das Prinzip der kommunizierenden Röhren schon gekannt hatte. Es war in Vergessenheit geraten, und der Fall mag ein Beispiel dafür sein, dass das Studium der Geschichte Umwege ersparen kann.

Ein anderes Beispiel war die sogenannte Sloterdijk-Debatte vor etwa einem Jahr. Sie war alles in allem nicht nur ein Philosophenstreit darüber war, wie mit dem eugenischen Potential der modernen Biotechnik umzugehen sei, sondern auch ein Kampf um die Diskurshegemonie im neuen wiedervereinigten Deutschland. Die Antike spielte dabei eine zentrale Rolle, und das Bemerkenswerte daran war, dass zweitausend Jahre alte Gedanken plötzlich wieder aktuell wurden. Nicht allein in der Auseinandersetzung mit Nietzsche, der ein Altphilologe war, sondern vor allem im Rückgriff auf Platon. Dessen Politeia haben wir damals im Unterricht gelesen, und so wenig ich behaupte, nur derjenige könne hier mitreden, der Platon im Original kenne, so sehr glaube ich andererseits, dass eben die genaue Lektüre des Urtextes demjenigen einen Vorsprung sichert, der die ethischen Fragen der Gentechnik genauer verstehen will.

Ihre Aktualität nimmt ja zu, wenn wir an den Kampf zwischen Craig Venter und dem HUGO-Projekt denken. Ich wüsste übrigens gerne, und dafür reichen meine längst verblassten Griechisch-Kenntnisse nicht mehr aus, ob Sloterdijks Lesart des Politikos und der Politeia zutreffend ist. Woran ich zweifle. Es sollte möglichst viele Menschen geben, die Platons Texte im Original lesen und mitdiskutieren könnten.

Andererseits ist die Aktualität Platons überhaupt nicht erstaunlich, wenn wir uns vor Augen halten, dass die grundlegenden Mythen, von denen unsere Kultur bestimmt ist, ihren Ursprung in der griechischen und der römischen Kultur haben. Die tragischen Stoffe, ob Antigone oder Ödipus, sind nie inaktuell geworden, und noch jüngst hat Christa Wolf in ihren Büchern das Medea- und das Kassandra-Motiv literarisch neu interpretiert und gestaltet.

Obgleich man zugeben muss, dass Christa Wolfs Adaptionen eine Antike mit Filter darstellen, gewissermaßen Antike light, so wird doch dadurch, wie geschwächt auch immer, eine bestimmte Tradition wach gehalten, und ich bin sicher, dass es eine andere Generation geben wird, die einen neuen Sinn für das Tragische und für die fundamentalen menschlichen Konflikte entwickelt und dass sie dies an den antiken Stoffen und Formen lernt - im Gegensatz zu jener systematischen Seichtigkeit und Gedankenferne, die derzeit nicht allein die Talk Shows, sondern auch die aktuelle Kunstproduktion beherrscht. Wobei man nur hoffen kann, dass dieses tragische Verständnis nicht durch äußere Zwänge, durch Not und Krieg, gefordert wird.

Niemand verlangt, alle Gymnasiasten oder Oberschüler sollten eine altsprachliche Bildung erhalten müssen. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass eine europäische Elite, die den Namen verdient, davon Kenntnis haben sollte. Seitdem der vormalige Bundespräsident Roman Herzog für Elite plädiert hat, darf man ja wieder darüber reden.

Elitisierungsprozesse sind in jeder Gesellschaft unvermeidlich. Wenn sie offen gewollt sind und unter nachprüfbaren Bedingungen ablaufen, sind sie legitim und produktiv. Dann kann ein jeder, der begabt und leistungsbereit ist, daran teilhaben, und zugleich wird er, wenn diese öffentlich geförderte Elitisierung richtig funktioniert, sich ständig daran erinnert sehen, dass der Begriff der Elite eine besondere Verantwortung für das Öffentliche und für das Gemeinwohl mit einschließt.

Wenn aber, wie es unter dem Diktat der elitefeindlichen, scheinbar egalitären Bildungspolitik der vergangenen Dezennien der Fall war, die Elitisierungsprozesse subkutan ablaufen, dergestalt etwa, dass vermögende Eltern ihre Kinder auf Privatschulen und -universitäten vornehmlich des Auslandes schicken, weil sie die Erfahrung machen, dass unsere sogenannten Gesamtschulen und Gesamthochschulen eher Wartehallen gleichen als Bildungseinrichtungen, dann koalieren auf alte Weise Besitz und Bildung, was niemand wollen kann.

Eigentlich bemerkenswert ist aber die Tatsache, dass die humanistischen Gymnasien immer noch nicht ausgestorben sind, dass sie sich, wenn auch auf minimaler Basis, im Gegenteil eines anhaltenden, sogar leicht ansteigenden Zuspruchs erfreuen. Woran liegt das? Ich bin Realist genug um zu sehen, dass etwa die Eltern, die ihre Zöglinge aufs Johanneum schicken, in der Regel keine glühenden Anhänger humanistischer Bildung sind. Oftmals wissen sie gar nicht, was das ist, und spätestens, wenn die Tochter klagend vor ihren Lateinaufgaben sitzt, werden erste Zweifel wach.

Es gibt aber in unserer Gesellschaft, in der ja, sofern die Penunzien reichen, und das ist in Hamburg Winterhude oftmals der Fall, im Prinzip alles käuflich ist, es gibt in dieser Gesellschaft ein starkes Bedürfnis nach Distinktion. Wenn jedermann eine Rolex haben kann oder ein Rolex-Imitat, das vom Original nicht zu unterscheiden ist, dann erzielt man plötzlich mit der Kenntnis des Faust oder des Lateinischen einen Distinktionsgewinn, der sonst so leicht nicht zu haben ist.

Ich finde an dieser Motivation nichts Beklagenswertes, weil Entscheidungen für Bildungswege selten unvermischter Natur sind. Das Bedrückende ist nur, dass heutzutage die Begriffe Elite und humanistische Bildung zweierlei sind und selten zusammengedacht werden. Die Bildungsfeindlichkeit, die Ende der sechziger Jahre begann, hat ein Traditionsloch gerissen, von dem ich nicht weiß, wann es je wieder gefüllt werden kann.

Ich weiß wohl, dass meine Generation, die sogenannten Achtundsechziger, daran schuld ist, und deshalb kenne ich auch die guten Gründe, die dazu geführt haben. Der Muff von tausend Jahren - diese Kritik war berechtigt und zwingend. Ich erinnere mich eines Satzes aus dem Griechisch-Unterricht, der mich immer wieder beschäftigt hat: Jung stirbt, wen ein Gott liebt. Neos d'apollyth' hon tin' an phile theos. Wir mussten diesen Satz des Iterativs wegen lernen, aber wir haben nie darüber gesprochen, was er bedeutet. Er bedeutet, wie Sie sich denken können, für einen jungen Menschen sehr viel. Aber so etwas gehörte nicht in den Griechisch-Unterricht - damals.

Ich wünsche Ihnen und uns allen, dass solche Versäumnisse heute seltener vorkommen, dass Sie mit Ihren Schülern nicht allein über den Iterativ sprechen, sondern auch über die geistige Welt, aus der er kommt, und dass Sie immer genügend Schüler haben, die sich dafür interessieren.

Ich bedanke mich für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen für den Fortgang der Tagung alles Gute.


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