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Ulrich Greiner Vom Recht, rechts zu sein. Gedanken eines heimatlosen Konservativen. Der folgende Beitrag erschien in der ZEIT vom 24. März 2016
Dem Ausgang der Wahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt blicke auch ich voller Spannung entgegen und bin zugleich froh, dass ich in Hamburg lebe und mein Votum nicht gefragt ist. Ich wüsste nämlich nicht, welcher Partei ich meine Stimme gäbe, und es könnte gut sein, dass ich mich der Wahl enthielte – zum ersten Mal in meinem Leben. Mein Dilemma besteht nämlich darin, dass ich keine Partei sehe, die meine Wertmaßstäbe vertritt. Ich bin konservativ, und der konservative Gedanke ist heimatlos geworden. Um das zu verstehen, können wir uns einen historisch informierten und insofern aufgeklärten Konservativen vor Augen führen, der in vielen gegenwärtig diskutierten Fragen eine vom herrschenden Diskurs abweichende und von keiner Partei vertretene Meinung hegt. Nennen wir stellvertretend drei Beispiele. Dieser Konservative ist erstens der Meinung, dass der im Grundgesetz garantierte Schutz von Ehe und Familie für das aus ehrwürdiger Tradition stammende Modell heterosexueller Eltern und ihrer auf natürliche Weise gezeugten und geborenen Kinder gedacht ist. Das Institut "Ehe und Familie" auf alle möglichen Kombinationen und auf diverse Reproduktionstechniken auszudehnen hält er für falsch. Zwar begrüßt er die Freiheit zu Partnerschaften jeglicher Variation. Ihnen jedoch den Status der Ehe zuzuerkennen verstieße gegen den Gedanken der Verfassungsväter: Der Staat soll Ehe und Familie schützen, weil ihm daran gelegen sein muss, die Generationenfolge zu erhalten. Die Generationenfolge sorgt dafür, dass jedes Kind seine Abstammung kennt und in der Kette der Fortpflanzung seinen erkennbaren Platz findet. Und sie sorgt, jedenfalls der Idee nach, für den Ausgleich von Geben und Nehmen: Was ich von meinen Eltern an emotionaler und materieller Zuwendung erfahren habe, gebe ich an meine Kinder weiter. Es stimmt, dass diese Idee schwach geworden ist, doch folgt daraus nicht, man dürfe sie dadurch weiter schwächen, dass man alle Lebensformen einander gleichstellt. Der Konservative weiß, dass er mit dieser Ansicht zu einer Minderheit zählt, aber er glaubt, dass er ein Recht dazu hat, und er sieht keine Partei, mit Ausnahme versprengter Einzelner, von der er sich verstanden fühlt. Unser gedachter Konservativer ist – zweitens – mit der Verfassung dieses Landes höchst einverstanden. Er glaubt, dass Deutschland noch nie ein derart demokratisches und relativ gerechtes Land gewesen ist, und er beobachtet deshalb voller Misstrauen, dass der Bundestag, den er gewählt hat, Zuständigkeiten an Gremien der EU, die er nicht gewählt hat, abzugeben bereit war. Er hat den Verdacht, dass die Euro-Rettung, die längst nicht gelungen ist, sowohl dem Grundgesetz wie auch der europäischen Verfassung widerspricht. Er findet, dass das Projekt, die europäischen Länder immer mehr miteinander zu verflechten, sogar eine gemeinsame Außen- und Finanzpolitik zu etablieren, in die Irre geführt hat. Europa könnte froh sein, wenn es ein halbwegs funktionierender Staatenbund wäre (wovon es weit entfernt ist). Zum Bundesstaat, den manche sich erträumen, kann es niemals werden, weil er ein funktionierendes gemeinsames Parlament voraussetzen würde und dieses wiederum eine europäische Öffentlichkeit, folglich eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Erfahrungen und Interessen. Wiederum fragt sich unser Mann, wo denn eine Partei wäre, die seiner Skepsis Ausdruck gäbe. Drittens verfolgt dieser Konservative die Flüchtlingskrise mit einiger Sorge. Zwar verabscheut er die Anschläge auf Asylantenheime und den Fremdenhass, der sich darin Bahn schafft. Doch findet er die Warnung vor einer Islamisierung keineswegs absurd. Er zweifelt daran, dass die Eingliederung von vielen Hunderttausend Menschen, denen unsere Kultur und Geschichte naturgemäß fremd sind, in absehbarer Zeit gelingen kann. Im Übrigen glaubt er nicht, dass es einen generellen Fremdenhass in diesem Land gibt. Kroaten und Polen, Ukrainer und Russen, die hier in nennenswerter Anzahl leben, haben zuweilen mit abschätzigen Reaktionen zu tun, doch nicht mit einer Pogromstimmung – ganz zu schweigen von Japanern, Italienern, Franzosen und vielen anderen Ausländern. Angenommen, Island müsste wegen eines Vulkanausbruchs evakuiert werden, und alle Isländer müssten hier unterkommen – es wäre ein Problem, aber ein lösbares. Auf die Gefahr hin, islamophob genannt zu werden, sieht unser Mann das Problem im Islam, genauer gesagt in jenem Strom von Immigranten, die einer bedeutenden, aber vormodernen Kultur entstammen und die das Recht in Anspruch nehmen werden, ihrer Tradition treu zu bleiben. Wer die Kälte, die physische und die moralische, unserer Breiten erfährt, wird dazu neigen, im Glauben seiner Väter Trost zu suchen. Auch der okzidentale Konservative sucht im Glauben seiner Väter Trost, denn er rechnet sich zu jenen, denen der Begriff Abendland noch etwas bedeutet. Er hält die Kultur des Christentums samt ihrem ungeheuren Schatz an Kathedralen und Klöstern, an musikalischen, literarischen und bildnerischen Kunstwerken für kostbar. Er beklagt, dass die maßgebliche geistige Tradition des Abendlandes infolge eines Mangels an Kenntnis und an Überlieferungslust in Vergessenheit gerät. Er bedauert, dass sich die Kirchen leeren, und er sieht in der Errichtung von Moscheen, deren Prediger kaum zu kontrollieren sind, keinen Gewinn. Die These, je weniger "deutsch" Deutschland werde, je mehr es sich internationalisiere, umso ungefährlicher, kompatibler und erfolgreicher werde es, hält der Konservative für einen Ausdruck des üblichen deutschen Selbsthasses. Er beobachtet hingegen, dass Gemeinschaften nur auf der Basis einer gewissen Homogenität gedeihen und dass die Idee eines allseits fruchtbaren Multikulturalismus nur jenen einleuchtet, die reise- und spracherfahren, also halbwegs gebildet, halbwegs betucht sind, kaum aber den Menschen am Rand, die sich als die Verlierer der Globalisierung betrachten müssen. Sie nämlich sind es – und nicht die Altbaubewohner vom Prenzlauer Berg oder vom Eppendorfer Baum –, denen die zugewanderte industrielle Reservearmee Konkurrenz macht. Der zitierte Konservative bin ich (und sicherlich nicht nur ich), und ich sehe keine Partei, deren Ziele den meinigen nahekämen. Die CDU nämlich, die ich jetzt wählen könnte, ist von Angela Merkel ihrer konservativen Herkunft entfremdet und so weit nach links geschoben worden, dass die SPD in Existenznot gerät. Was mich mit Trauer erfüllt, da ich weiß, was diese heroische Partei für die soziale Hygiene des Landes getan hat. Und ich erinnere mich daran, dass ich zeit meines Lebens so gut wie immer SPD gewählt habe. Doch nun, da ich alt bin, nehme ich das Recht für mich in Anspruch, konservativ geworden zu sein. Dass junge Menschen zum Idealismus neigen, ältere hingegen zum Realismus – ist es nicht auch eine Form des Generationenvertrags? Mit der CDU habe ich kein Mitleid, immer war sie eine Machtgewinnungs- und Machterhaltungspartei. Doch frage ich mich, weshalb die Beseitigung ihrer konservativen Ursprünge so leicht möglich gewesen ist. Es liegt wohl an jenem schon lange herrschenden Ökonomismus, der Traditionen und Loyalitäten als Hindernisse beim globalen Kampf um Marktanteile betrachtet. Wer hier mitspielen will, tut gut daran, alte Zöpfe abzuschneiden und sich Sentimentalitäten nicht zu gestatten. Der neue Mensch, den der Kommunismus vergeblich zu erschaffen suchte – im Kapitalismus ist er Wirklichkeit geworden. Auf dem Weg der Selbstertüchtigung und Selbstermächtigung hat ein anderer Prometheus den Gott der Christen verdrängt und schickt sich an zu einem ewigen Leben im Diesseits. Dieses allseits akzeptierte Programm ist revolutionär. Es befördert den Konservativen in die Nische schöngeistiger Kontemplation. Zudem ist es ein Problem, in Deutschland konservativ zu sein. Nicht wenige Konservative haben den Nationalsozialisten bei ihrem Aufstieg zur Seite gestanden. Keineswegs alle, denn es gab namhafte Konservative, die den braunen Terror aus christlicher Überzeugung bekämpft oder die ihn von der Warte eines Aristokratismus herab verachtet haben. Anders als der englische und im Wesentlichen menschenfreundliche Konservatismus zerfiel der deutsche schon früh in einen reaktionären Legitimismus einerseits, in eine völkisch-romantische Ideologie andererseits. Versuche seitdem, dem Konservatismus ein neues Ansehen zu verschaffen, haben wenig gefruchtet. Politisch gesehen steht er rechts, und rechts zu sein widerspricht dem Komment. Am deutlichsten wird das in jenem Vokabular, das zur moralischen Disqualifizierung offenbar genügt. Ob "rechtsradikal", "reaktionär", "rechtspopulistisch" oder "rechts" – das alles ist dem Zeitgeist dieselbe Chose. Rechts zu sein gilt ihm als unanständig. Dabei fällt auf, dass es keineswegs als unanständig gilt, links zu sein. Die von Botho Strauß vor Jahren geforderte Äquidistanz zu den verbrecherischen Großideologien läuft ins Leere, weil der Kommunismus noch immer für eine letztlich humanitäre Idee gehalten wird, obwohl die Zahl seiner Opfer ins Guinness Buch der Rekorde gehört. Konservativ und rechts zu sein ist folglich nicht sehr angenehm, und es wird nicht angenehmer dadurch, dass die AfD, die anfangs eine respektable konservative Partei zu sein schien, schmutzige Signale aussendet, sei es, weil manche ihrer Anführer daran glauben, sei es, weil sie bloß Wähler fangen wollen. Vermutlich ist es sinnlos, von Parteien eine wahrnehmende, vorausschauende Intelligenz zu erwarten. Doch wer am Politischen Anteil nimmt, kommt an ihnen nicht vorbei, zumindest am Wahltag nicht. Trotz alledem fühle ich mich mit meinen Ansichten keineswegs allein, und ich sehe, dass Schriftsteller wie Botho Strauß, Martin Mosebach, Sibylle Lewitscharoff oder Ulrich Schacht, Intellektuelle wie Rüdiger Safranski, Peter Sloterdijk oder Udo Di Fabio einen seriösen Konservatismus vertreten, der zum geistigen Spektrum eines kultivierten Landes selbstverständlich dazugehört. Dieser Konservatismus könnte jenen "Akt der Auflehnung" leisten, von dem Botho Strauß einmal gesprochen hat, die Auflehnung "gegen die Totalherrschaft der Gegenwart, die dem Individuum jede Anwesenheit von geschichtlichem Gewordensein, von mythischer Zeit rauben und ausmerzen will". Die Gegenwart ist im Fluss, und der fließt immer schneller. Was die Parteien betrifft: Sie alle sind derzeit am Schwimmen (wobei die AfD noch gar nicht schwimmen kann), und ich werde beobachten, wohin sie schwimmen. Jedenfalls bin ich froh, am Sonntag nicht wählen zu müssen.
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