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Ulrich Greiner
REPRODUKTIONSMEDIZIN.
Die Herstellung des Menschen. Wir gewöhnen uns an sie, aber sie bleibt ein Skandal: Mit der Reproduktionsmedizin handeln wir uns nicht nur ein Züchtungsprojekt ein, sondern verlieren auch eine große kulturelle Errungenschaft, die Genealogie.

Der folgende Beitrag erschien in der ZEIT vom 15. Oktober 2014

Die Empörung über den Fall Gammy hat sich schon wieder gelegt. Irgendwann vielleicht wird sich herausstellen, ob das australische Ehepaar den von einer Leihmutter geborenen Knaben in Thailand zurückließ und lediglich die gesunde Zwillingsschwester mit nach Hause nahm, weil Gammy behindert ist, oder ob die Darstellung der Australier zutrifft, wonach ihn die thailändische Leihmutter nicht hergeben wollte, aus welchen Gründen auch immer.

Thailand ist eine beliebte Adresse bei der Suche nach einer Leihmutter. Man kriegt sie schon für zehntausend Euro. Aufgeschreckt durch den Gammy-Skandal, durchsuchte die thailändische Polizei Fertilitätskliniken. Dabei stieß sie auf einen Japaner, der offenbar einen schwunghaften Handel mit künstlich hergestellten Babys trieb. Mindestens 15 Eizellen von Frauen unter anderem aus Schweden und Spanien hatte er mit seinem Samen befruchtet und von thailändischen Leihmüttern austragen lassen.

Erst allmählich begreifen wir die Revolution, die uns durch die fortgeschrittene und immer weiter fortschreitende Reproduktionsmedizin blüht. Sie kann Menschen machen. Das hat zwei Folgen, deren Tragweite noch nicht hinreichend bedacht worden ist. Die erste Folge ist die Eugenik. Die Welt des Machens unterliegt dem Gesetz der Steigerung und der Verbesserung. Wer Menschen macht, will sie optimal machen.

Die zweite Folge ist die Multiplizierung und somit die Aufhebung konventioneller Abstammung. Ahnentafeln, wie wir sie aus Geschichtsbüchern kennen, wird es für künftige "Geschlechter" nicht mehr geben, weil es das Abstammungssystem „Geschlecht“ nicht mehr geben wird. Allein in Deutschland entstehen auf künstlichem Weg pro Jahr etwa tausend Kinder unklarer oder verborgener biologischer Herkunft. Die genealogische Ordnung, die eine kulturelle Leistung ersten Ranges darstellt, scheint an ihr Ende gekommen.

In seinem überaus gründlichen, wenngleich von einem einfältigen Fortschrittsoptimismus erfüllten Buch „Kinder machen“ (im Frühjahr bei S. Fischer erschienen) schildert Andreas Bernard die Arbeitsweise der Samenbanken. Natürlich möchte man gute Spermien. Man wählt aus der erstaunlich großen Menge der Spendewilligen diejenigen, die gut aussehen, groß sind, zumeist ethnisch weiß und die einen reputierlichen, womöglich akademischen Hintergrund haben.

Liest man Bernards Darstellung, so wundert man sich über die Hemdsärmeligkeit vieler Reproduktionsmediziner. Jedenfalls herrschte sie zu Beginn, als man froh war, die In-vitro-Fertilisation (IVF) halbwegs im Griff zu haben. Noch ist man nicht so weit, die Qualität des einzelnen Spermiums genau bestimmen zu können. Es kann passieren, dass der potent wirkende Samen eines Nobelpreiskandidaten zufällig ein dummer Samen ist. Die erwartbare Qualität beruht lediglich auf einer statistischen Wahrscheinlichkeit. Man kann jedoch sicher sein, dass die Technik weiter voranschreitet. Die Selektion, die bei der Züchtung von Rennpferden oder Milchkühen schöne Erfolge zeitigt, wird auch beim Menschen gelingen. Den „Geburtenfatalismus“, von dem Peter Sloterdijk einmal gesprochen hat, wird in absehbarer Zeit eine Zuchtwahl auf wissenschaftlicher Basis ersetzen.

Diese Vision beflügelt die äußerst profitablen Reproduktionszentren. Auch wenn die Befruchtungen mit wachsender Routine preiswerter werden, so lässt sich doch voraussehen, dass die optimierte Menschenherstellung den gebildeten und gut situierten Schichten vorbehalten bleibt, während sich das Volk am Boden auf hergebrachte Weise fortpflanzt. Dass es damit am Ende besser fährt, ist sehr gut möglich.

Die Optimierungsvision, die zugleich ein Optimierungswahn ist, fügt sich gut in die herrschende Ideologie der Selbstertüchtigung um jeden Preis. Lediglich altmodische Christen und wertkonservative Bildungsbürger erheben ihre Stimme. Vielleicht gibt es bei einer stillen Mehrheit ungute Gefühle. Von lautem Protest allerdings ist nichts zu hören. Es scheint aussichtslos, sich gegen das zu stemmen, was ohnehin geschieht und nach Fortschritt aussieht.

Wer es dennoch tut, wie es mit geradezu ritterlicher Tapferkeit die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff getan hat (in ihrer Dresdener Rede vom März dieses Jahres), als sie die Reproduktionstechniken „abscheulich“ nannte, gibt nicht Anlass für eine ernsthafte Debatte, sondern bloß für allerlei Gekränktheiten und die medienübliche Empörungslust.

Elisabeth Beck-Gernsheim hat kürzlich in der FAZ von „neuartigen transnationalen Verwandtschaftsverhältnissen“ gesprochen und geschrieben: „Ob das schwule Paar aus Oslo, das im Labor eigenes Sperma mit den Eizellen einer Ukrainerin mixen und die Embryonen von einer indischen Leihmutter austragen lässt; ob die sechzig Jahre alte Bankerin in New York, die nach erfolgreicher Karriere ihren Kinderwunsch entdeckt und in einschlägigen Katalogen sich einen kalifornischen Samenspender und eine russische Eispenderin aussucht – mit Hilfe der globalisierten Reproduktionsmedizin werden Weltbürger in einem ganz neuen Sinne gezeugt.“ Und hoffnungsfroh fragte die Autorin: „Dürfen wir sie uns als Wegbereiter einer friedlicheren Weltordnung vorstellen?“

Aber sicher dürfen wir das. Wir kommen jedoch nicht um die Frage herum, wie wir mit der zweiten Folge der neuen Techniken umgehen, mit dem Verlust der Genealogie. Andreas Bernard sagt, in Deutschland gebe es mehr als hunderttausend durch eine Samenspende gezeugte Kinder, und er schätzt, dass lediglich fünf bis zehn Prozent wissen, wer ihr biologischer Vater ist. Das Recht auf Auskunft, das ihnen mittlerweile zugesprochen worden ist, nutzt ihnen wenig, weil die früheren Samenspenden anonym geleistet wurden. Es leben also rund 90.000 Menschen unter uns, die ihre Abkunft nicht kennen. Ist das schlimm?

„Du musst nicht glauben, dass wir unseren Schlafplatz mit jemandem teilen, der nicht sagen will, welcher Familie er entstammt.“ So spricht Akka von Kebnekajse. Die ehrwürdige Wildgans kommt aus einem uralten Adelsgeschlecht. Nils Holgersson nun ist kein IVF-Kind, sondern Sohn achtbarer schwedischer Bauern. Seine Herkunft hat er nur deshalb verschwiegen, weil er sich seiner Geschichte schämt – jener Untaten, die dazu führten, dass er in einen Däumling verwandelt wurde. In diesem Augenblick jedoch erwacht in ihm der Stolz, und er erzählt, wer er eigentlich ist und woher er stammt. Er nimmt also den Schmerz der Erinnerung auf sich, er nimmt die Schuld auf sich, und das ist der Anfang seiner Rückkehr unter die Menschen.

Selma Lagerlöfs Geschichte bezieht sich auf die hergebrachte genealogische Ordnung, der bis dato jeder Mensch unterworfen war und aus der er sein Selbstbewusstsein bezog. Er musste, um sagen zu können, wer er war, angeben können, woher er kam. Wir sind immer auch die, die wir geworden sind. Dieses Gesetz galt für jedes Volk, jeden Staat, so wie es für jeden Einzelnen galt. „Je suis mon passé“, sagt Jean-Paul Sartre: „Ich bin meine Vergangenheit.“

Wer die Genesis liest, muss darüber staunen, welche Bedeutung den endlos wirkenden Stammtafeln zugemessen wird. Ausschließlich geht es dabei um Vaterschaft, doch keineswegs nur im Sinn einer als monogam gedachten Familie. Man erinnere sich an die unfruchtbare Sara, die ihren Gemahl Abraham auffordert, mit der ägyptischen Sklavin Hagar zu schlafen. Hagar bringt Ismael zur Welt. Zweitausend Jahre später wird Herman Melville seinen „Moby-Dick“ mit dem Satz beginnen: „Nennt mich Ismael“, und jeder Leser wird wissen, wer das war.

Wie alle Ordnungssysteme ist auch das genealogische mit Repression verbunden und weckt Widerstand. Peter Sloterdijk schildert das in seinem neuen Buch „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ (eben erschienen bei Suhrkamp). Sein Interesse gilt den Traditionsbrüchen, doch versäumt er es nicht, den Sinn der Genealogie zu benennen. Über den berühmten Fall des Ödipus, der seinen Vater umbrachte und mit seiner Mutter schlief, schreibt er: „Die Paarung von Mutter und Sohn ist weit davon entfernt, nur eine erotische Aberration zu bilden – sie steht für eine Mesalliance von ontologischer Mächtigkeit: Sie zieht Wahnsinn, Reue und Irrfahrt nach sich, weil sie das Subjekt aus der positionellen Ordnung des Lebens entwurzelt. Indem sie die genealogische consecutio temporum auf den Kopf stellt, lädt sie das Anfangschaos ein, sich inmitten der humanen Ordnung einzunisten.“

Wir können das Anfangschaos auch das Kaninchenprinzip nennen, und Leser, die sowohl Kinder als auch Kaninchen hatten, werden sich daran erinnern, dass es nicht immer leicht war, das Paarungsverhalten der Tiere zu erklären. Geschwister, Eltern – das war den Kaninchen egal, Hauptsache, Nachkommen. Die Frage der Generation, die den Kindern am Herzen lag, die Frage, wer jetzt wessen Vater oder Schwester sei, war nicht zu beantworten, weil Kaninchen den Begriff „Generation“ nicht kennen.

Es war eine der größten kulturellen Leistungen, das Kaninchenprinzip außer Kraft zu setzen. Eben darin liegt der Grund des Inzest-Tabus. Die consecutio temporum, die Abfolge von zeugender und gezeugter Generation, ist wesentlich für die Selbstverortung des Menschen. Sie war es. Der reproduzierte neue Mensch findet seinen Ort außerhalb genealogischer Zusammenhänge. Ebendas ist die neue Utopie, der Nirgendsort.

Die Generation, die in den Reproduktionsfabriken hergestellt wird, ist die Generation Neustart. Sie beginnt mit einer jungfräulichen Festplatte und hinterlässt nach Möglichkeit wiederum eine leere. Die Mahnung des Edmund Burke: „Wenn ihr eure Vorväter geachtet hättet, hättet ihr gelernt, euch selbst zu achten“, geht an ihr vorbei. Die Macht der Vorväter ist erloschen, die Selbstachtung hängt nicht mehr an der Tradition, sondern am Hier und Jetzt – und an der Samenqualität.

Elternschaft, reproduktionstechnisch betrachtet, ist nur noch ein schwaches soziales Konstrukt, das mit Blutsbanden nichts mehr zu tun hat und sich von Fall zu Fall neu zusammensetzt. Die Liebe zwischen zwei Partnern ist erheblich nur für die Aufzucht, für Zeugung und Geburt jedoch bedeutungslos. Deshalb spricht alles dafür, die Reproduktion jenen zu überlassen, die sie am besten beherrschen: den Technikern.

Schillers Traum „Alle Menschen werden Brüder“ (in seiner Ode an die Freude) ist auf traurigste Weise insofern Realität geworden, als tatsächlich sehr viele Menschen Brüder und Schwestern geworden sind – allerdings ohne ihr Wissen. Bernard zitiert eine alleinerziehende Mutter, die sich auf die Suche nach den Halbgeschwistern ihres IVF-Sohnes gemacht und ein Verzeichnis der durch Samenspenden erzeugten Verwandtschaften erstellt hat. Über ihr Register sagt sie: „Wir haben über hundert Gruppen mit mehr als zehn Halbgeschwistern und rund zwanzig Gruppen mit mehr als 35.“ Von diesen wiederum gebe es einige, in denen mehr als hundert Kinder die Produkte desselben Spenders seien. Das übertrifft alle Fruchtbarkeitsfantasien der Genesis.

Sloterdijk beschäftigt sich in seinem Buch mit der rhythmisch wiederkehrenden antigenealogischen Revolte. Er scheint sie zu begrüßen. Seltsamerweise übergeht er die Reproduktionstechnik. Einen der Revoluzzer erkennt er im Marquis de Sade, den er nicht als den berüchtigten Lüstling beschreibt, sondern als den radikalen Zerstörer des genealogischen Gedankens.

In seinem Traktat „Die Philosophie im Boudoir“ (1795) schildert Sade, wie die junge Eugénie von einer Madame sowie unter Mithilfe eines Monsieur in sexuelle Praktiken eingeführt wird. Eugénie, die den erigierten Penis des Herrn interessiert betastet, fragt: „Und diese Kugeln, wozu dienen sie?“ Madame antwortet: „Diese Kugeln enthalten jenen fruchtbaren Samen, dessen Erguss in die Gebärmutter der Frau die menschliche Gattung hervorbringt. Aber wir wollen uns nicht bei diesen Einzelheiten aufhalten, die mehr in den Bereich der Medizin als in den der Libertinage fallen. Ein hübsches Mädchen sollte sich nur damit befassen, zu ficken und niemals zu zeugen. Wir werden alles übergehen, was den banausischen Mechanismus der Vermehrung angeht.“ Man muss die Weitsicht des Marquis de Sade bewundern. Der „banausische Mechanismus der Vermehrung“ fällt heutzutage tatsächlich in den „Bereich der Medizin“.

Mit der Einführung der Pille begann die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung. Dem Prinzip Verhütung ist nun das Prinzip Herstellung ergänzend zur Seite getreten. Mehr kann man nicht wollen. Der Vater allerdings ist dabei abhandengekommen. Alexander Mitscherlichs berühmtes Buch „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ (1963) hat sich auf ungeahnte Weise bewahrheitet. Die fortgeschrittene Frau lässt ihre Eizellen einfrieren und besorgt sich, wenn der Kinderwunsch an die Reihe kommt, den passenden Samen von der Bank. Der mythische Vatermord entfällt nun endlich. Die klassische Revolte einer jungen Generation gegen die etablierte erscheint als atavistisches Ritual. Die vom biologischen Fatalismus befreite Generation Neustart hält sich damit nicht auf. Man kann das als einen Gewinn betrachten.

Die berühmteste Revision einer starr gewordenen Genealogie war die des Jesus von Nazareth. Der scheinbare Widerspruch, dass Matthäus einerseits die Abstammung Jesu auf David zurückführt, andererseits die Jungfräulichkeit Marias betont, löst sich auf, wenn man die alte Genealogie als horizontale Achse betrachtet, die von der vertikalen Achse einer neuen Genealogie geschnitten wird. Der Gottessohn ist doppelt legitimiert: Einerseits steht er in der Messias-Tradition, ist Teil einer mächtigen Abstammungskette, andererseits steht er am überzeitlichen Schnittpunkt der Offenbarung, ist gezeugt vom Heiligen Geist und erhält seine Legitimität vom Allerhöchsten.

Die Verbindung des Horizontalen mit dem Vertikalen, die Versöhnung der historisch-leiblichen mit der göttlichen Abstammung ist ein wahrhaft revolutionärer Gedanke, den man nur glauben oder verwerfen kann. Er schließt die Überzeugung ein, dass der Mensch nicht Herr seines Schicksals ist. Sibylle Lewitscharoff hat in ihrer Dresdener Rede ganz unverblümt gesagt: „Mein Schicksal liegt in Gottes Hand und nicht in meinen Händen.“ Dass dieser Glaube weithin unverständlich geworden ist, bedeutet nicht, dass ihm keine Wahrheit zukommt.

Im „Spiegel“ hat sich kürzlich eine Redakteurin zum „Social Freezing“, zum Einfrieren ihrer Eizellen bekannt und sich gegen den Vorwurf des Egoismus mit der Frage gewehrt: „Was spricht dagegen, das Beste aus seinem Leben herausholen zu wollen?“ Ja, was spricht dagegen? Wer so redet, dem bleibt gar nichts anderes übrig, als das Beste aus seinem Leben herauszuholen.

Den Fantasien der Selbstermächtigung und Selbsterlösung kommt die Reproduktionsmedizin aufs Verlockendste entgegen. Sie verspricht, jeden, der es bezahlen kann, zum Herrn oder zur Herrin des eigenen Lebens zu machen. Sie optimiert den Menschen als Kunstprodukt. Wie bei allen Optimierungsprozessen werden sich auch hier Fehlprodukte nicht vermeiden lassen. Es wird Abfall entstehen, wie es schon jetzt das Schicksal zahlloser per IVF befruchteter Eizellen ist. Man wird sich daran gewöhnen, doch ist und bleibt es ein krimineller Vorgang.


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