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Ulrich Greiner

Ach! - Die Venus ist perdü
Ein Porträt des Altphilologen Manfred Fuhrmann

Fuhrmann wurde am 23. Juni 1925 in Hiddensen bei Detmold geboren; er starb am 12. Januar 2005 in Überlingen am Bodensee. Dort besuchte ich ihn im September 2004.


Manfred Fuhrmanns bekannteste Schrift, sein Reclam-Heft mit dem lapidaren Titel Bildung (2002), ist unter der geradezu beängstigenden Fülle seiner Werke das schmalste und hat ihm vermutlich die geringste Mühe bereitet; während ihn die Biografie Ciceros (1989) und die Übersetzung der sämtlichen Reden (rund dreitausend Seiten, 1970 bis 1982) viele Jahre gekostet hat. Was Bildung ist, war für den Altphilologen Fuhrmann sowieso immer klar. Dass er es für eine größere Leserschaft noch einmal klipp und klar zusammengefasst hat („Bildung ist eine Form des Bewahrens, wie die Religion oder die Moral – sie hat neben anderem den Zweck, Tradition zu sichern“), verdankt sich jener Phase seines Lebens, als er sich, längst im Ruhestand, folgenreich in die Bildungsdebatte eingemischt und versucht hat, „Anschluss an allgemeine Dikussionsthemen der Gegenwart zu finden“.

Die für ihn typische Untertreibung steht in einem Brief, den er mir zur Vorbereitung unseres Treffens per Fax geschickt hat. Wir sitzen im Wohnzimmer seines hoch am Hang gelegenen Hauses in Überlingen, und zur Vorbereitung gehört auch ein auf der Kommode zurechtgelegter Bücherstapel. Es wird sich allerdings im Verlauf unseres Gesprächs zeigen, dass der Stapel eben doch nicht hinreicht, und immer wieder wird sich der hagere, nunmehr 79 Jahre alte Riese aus seinem Sessel emporschrauben, um aus dem Nachbarzimmer neues Material zur Untermauerung des Gesagten herbeizuschaffen, das Unterrichtsbuch für Latein etwa oder sein Werk über Die Dichtungstheorie der Antike, lateinische Anekdoten für Schüler oder sein Buch über den europäischen Bildungskanon.

„Zunächst“, so stand in seinem Brief, „bemühte ich mich, ein guter Latinist zu werden.“ Das ist er ja nun unzweifelhaft geworden, aber wie kam er dazu? Manfred Fuhrmann„Eigentlich wollte ich Pianist werden, ich war sogar Schüler des berühmten Hans Richter-Haaser.“ Als ich verständnislos gucke, sagt Fuhrmann: „Der kommt bei Kaiser vor.“ In der Tat, in Joachim Kaisers Beethoven-Buch wird Hans Richter-Haaser mehrfach rühmend erwähnt. Aber der letzte Schritt zum wirklich großen Pianisten gelang dann eben doch nicht, und so wählte Fuhrmann ein Fach, das seinem Bedürfnis nach Genauigkeit entgegenkam. In Freiburg studierte er bei Franz Wiacker, einem Spezialisten für römisches Recht. So betrat er das Reich der Antike nicht auf dem blumigen Weg der Poesie, sondern auf dem schwierigen Pfad der Rechtsgeschichte, und es verstand sich von selbst, dass er zusätzlich noch Jura studierte. Später, als er sich immer mehr der Spätantike zuwandte, inspiriert durch den Niederländer Jan Hendrik Waszink in Leiden („Wiacker und Waszink, das waren meine beiden Lehrer“, sagt er), kamen Philosophie und Theologie dazu, das Fach Geschichte ohnehin.

„Und Griechisch?“ Er sieht mich befremdet an: „Wie wollen Sie Vergil verstehen ohne Theokrit und Homer?“ Für seine Dichtungstheorie hat er sich ausführlich mit Aristoteles beschäftigt, folglich auch mit Platon. Den Wolken des Aristophanes hat er zum Spaß eine zeitgemäße deutsche Fassung gegeben. „Aristophanes war das Kabarett der Antike.“

Dass Manfred Fuhrmann anspruchlos sei, kann man wirklich nicht behaupten. „Ich habe die Latinistik entklassifiziert“, sagt er zufrieden. Die klassische römische Belletristik erschien ihm „lammfromm“ – verglichen mit den Konvulsionen der Spätantike und jenem gigantischem Kampf heidnischer und christlicher Ideen, aus dem das heutige Europa hervorgegangen ist. Die Menge des überlieferten lateinischen Schrifttums aus dieser Zeit und danach sei dreißig mal so groß wie die der klassischen Latinität. Dass sich der Lateinunterricht, wo es ihn noch gibt, zumeist auf die klassischen Texte beschränkt, hat er immer für einen Fehler gehalten.

Schon wieder erhebt sich Fuhrmann aus seinem Sessel – es ist Zeit für einen Imbiss. Wir gehen nach nebenan, in ein Durchgangszimmer zur Terrasse. Und hier sehe ich Fuhrmanns Depot: eine ganze Wand voller Bücher, eine ganze Wand voll mit seinen Werken, alle in mindestens drei Exemplaren. „Für meine drei Kinder“, sagt er. Draußen fällt eine heiße, durch die Markise gemilderte Spätsommersonne auf den gedeckten Tisch, und zwischen den Bäumen hindurch geht der Blick auf den von weißen Segelbooten durchkreuzten Bodensee.

Frau Fuhrmann hat sich zu uns gesetzt. Sie ist Romanistin und hat lange an Gymnasien unterrichtet. Nun ist sie siebenfache Großmutter, was unter anderem die Aufgabe mit sich bringt, für einen der Enkel, der morgen Geburtstag hat, den gewünschten Fußball zu besorgen, hoffentlich den richtigen. Sie stammt aus Überlingen, und das alte, bescheiden eingerichtete Haus, dessen Schönheit wir genießen, ist das ihrer Großeltern. Auf der anderen Seite, hinter dem Bodanrücken, der im Mittagsdunst verschwimmt, liegt Konstanz, wo Manfred Fuhrmann von 1966 bis 1990 lehrte. Dort war er auch Mitglied der berühmten Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“. Zur Universität ist er immer mit dem Fahrrad oder dem Bus gefahren, unten am Ufer entlang bis Meersburg, dann mit dem Schiff über den See.

Während wir unser Mahl verzehren (ab und zu eine lästige Wespe mit Hand wegfuchtelnd), erzählt Fuhrmann von seinen Eltern. Der Vater, der Student bei Virchow gewesen war, hatte ein Sanatorium unterhalb des Hermannsdenkmals in Detmold. Schon früh wurde der Psychiater Mitglied der NSDAP, brachte es bis zum Kreisleiter, zerstritt sich aber mit den Genossen und trat am 1. Januar 1933 aus der Partei aus. In seinem Buch Aus der Bahn geworfen – Die Stationen des jüdischen Theatermannes Dr. Hans Kaufmann (2003) schildert Fuhrmann, wie der von den Nazis gejagte Freund der Familie in den Räumen des Sanatoriums Unterschlupf fand, bis ihn ein Denunziant verriet. Als der Vater 1939 im Sterben lag, bat er die Familie, im Westen zu bleiben. Deutschland werde den Krieg verlieren und den Osten an die Russen abtreten müssen. Diese Mischung aus Verblendung und Hellsicht habe ihn, so Fuhrmann, immer stark beschäftigt. Sein Buch über den Vater erscheine demnächst. Die wesentlich jüngere Mutter entstammte einem Rotterdamer Geschlecht, das bis auf das Jahr 1199 zurückgeht. Fuhrmanns erste Sprache war also niederländisch, und leicht hätte er nach dem Krieg die niederländische Staatsbürgerschaft erlangen können. „Aber ich hätte das für unehrlich gehalten, ich wusste ja, dass meine eigentliche Herkunft die deutsche ist.“ Als man 1947/48 im Freiburger Seminar Platons totalitären Staatsentwurf der Politeia diskutierte, war vom NS-Staat keine Rede, und nicht einmal die zurückgekehrten jüdischen Emigranten erwähnten das Thema. Man sei, so Fuhrmann, freundlich miteinander umgegangen. Man tat, als ob nichts gewesen wäre. Der Schrecken war noch zu nah, und man beschwieg ihn aus Furcht oder Scham.

Es ist klar, darin stimmen wir überein, dass sich dieser Schock tief ins deutsche Bildungsverständnis eingegraben hat. Zunächst kehrte man zurück zum Vertrauten, aber mit der Oberstufenreform von 1976, so schreibt Fuhrmann in seinem Buch Latein und Europa (2001), kam der endgültige Abschied von der humanistischen Bildungstradition – ein Unglück deshalb, weil die europäische Bildung auf zwei Säulen ruht, auf der Antike und auf der jüdisch-christlichen Tradition.

Wenn das stimmt, so frage ich Fuhrmann, wenn also die eine Säule, die der Antike, so tief in den Boden gesunken ist, dass man sie kaum mehr sieht, und wenn nur die andere der christlichen Tradition bleibt (minus der verworfenen jüdischen) – wie kann das auf Dauer bestehen, wenn der Glaube fehlt? Er antwortet: „Die christliche Kultur oder der christliche Späthorizont, wie Hans Blumenberg ihn nennt, ist eine Ausrede. Auf die Dauer geht es nicht ohne den christlichen Glauben.“ Er denkt eine Weile nach und sagt: „Man kann die Ethik zu retten versuchen. Aber wir leben in einem zentrifugalen Zeitalter. Von den christlichen und humanistischen Inhalten der Bildung spricht kaum noch einer. Bei Wilhelm Busch können Sie‘s schon lesen: Ach! - Die Venus ist perdü -/ Klickeradoms! - von Medici!“

Die Bemerkung zeigt mir, dass Fuhrmann keineswegs, wie er manchmal missverstanden wird, zur Resignation neigt. Das widerspräche seinem streitlustigen Temperament. Er hat sich in den Jahren der Revolte mit den Studenten angelegt, ist wegen des Lateinunterrichts mit der Ministerin Schavan in Streit geraten (erfolglos) und hat wegen ausgefallenen Religionsunterrichts an den Bischof geschrieben (erfolgreich). Aber er ist Realist und weiß, dass man derzeit jener Vergangenheit, der er sein Leben gewidmet hat, kaum mehr etwas abgewinnen kann. Wer das Glück hat, mit Fuhrmann reden zu können (ersatzweise kann er seine Bücher lesen), der merkt allerdings, dass diese Vergangenheit gar nicht vergangen ist – so lebendig und wirkungsmächtig erscheint sie in seiner Darstellung.

Die Tendenz des Zeitalters geht in eine andere Richtung, hin zum transzendenzlos Nützlichen und Technisch-Ökonomischen. Und jetzt wird er melancholisch, als er sagt: „Ich bin ein Späthistorist, ich lebe in der bürgerlichen Welt. Mein Lebenswerk ist abgeschlossen. Meine Aufgabe bestand darin, zu zeigen, was war und was wir wiedergewinnen müssen.“ Er weiß, dass er vieles bewirkt hat, und er zögert nicht, sein Leben „erfüllt“ zu nennen. Aber sein großes Ziel, „die europäische Landschaft des Geistes“ für alle sichtbar zu machen, hat er, so kommt es ihm jetzt vor, nicht erreicht.

Das Lateinische als die Sprache aller Gelehrten sei heute durch das Englische ersetzt, sage ich jetzt, das müsse noch kein Fehler sein. Ja, entgegnet Fuhrmann, im Falle der Naturwissenschaften sei das in Ordnung. Die Geisteswissenschaften aber, vor allem die Philologien, seien auf den „Beschreibungsreichtum“ der eigenen Sprache angewiesen. Das Problem, so kann man es in seinen Büchern nachlesen, entstand, als die Nationalsprachen das Lateinische verdrängten – ein irreversibler Vorgang.

Die notorische Bildungsdebatte, das merkt man im Gespräch, bereitet ihm einen gewissen Verdruss. Denn Fuhrmann, geschult an den Meistern der Antike, ist ein Stilist hohen Grades, seine Schriften sind Meisterstücke der Klarheit und Präzision. Allzu häufig aber über Bildung zu reden, führt unweigerlich in die schiere Redundanz oder ins phrasenhaft Wolkige. Das liegt ihm nicht, und aus diesem Grund vermutlich wird er jetzt ein bisschen sarkastisch, als ich ihn frage, was Bildung unter den gegebenen Umständen noch sein könne. „Ich versuche es mal mit Gorgias, der in seiner Schrift Peri tou me ontos gesagt hat, dass erstens nichts existiert; dass zweitens, wenn etwas existiert, es nicht begreifbar ist, und das drittens, wenn es begreifbar ist, es nicht mitteilbar ist. Auf die Bildung angewendet: Wir haben keine Bildung. Und wenn wir Bildung hätten, könnten wir nicht sagen, worin sie besteht. Und wenn wir es sagen könnten, könnten wir uns nicht verständlich machen.“

Nun ist es aber genug. Die Sonne wirft schon lange Schatten. Auf dem See herrscht Flaute, und die Boote stehen mit hängenden Segeln. Frau Fuhrmann muss jetzt schnell wegen des Fußballs los. Wir plaudern noch ein Weniges, dann bringt er mich die steile Treppe hinab bis vor die Tür. Auf dem Rasen liegt schon das erste Laub.

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