Home - Gewalt - Am Tor des Unheils


 

Ulrich Greiner

Am Tor des Unheils

Irrationale Mordtaten Jugendlicher erschüttern unser Weltbild. Ratlos fragen wir nach Gründen. Aber schon die Mythen und die Bibel zeigen, dass das Böse zum Menschen gehört

Kein Skandal ist größer als der Mord ohne Grund. Wann immer uns die Nachricht von der mörderischen Gewalt jugendlicher Täter erreicht, fragen wir zuallererst nach dem Grund, nach dem Motiv - als ob die begriffene Untat geringeres Gewicht hätte als die unerklärte und unerklärliche. Dabei liegt es auf der Hand, dass der Tote, den die Tat, wie motiviert auch immer, zurückließ, in jedem Fall tot bleibt.

Dennoch ist die Suche nach der Ursache plausibel, sogar unausweichlich. Der Rechtsstaat muss das Motiv der Tat herausfinden, weil sich das Strafmaß danach richtet. Es ist ein Unterschied, ob ich jemanden in Notwehr töte, aus Geldgier oder im Suff. Auch die Gesellschaft hat ein Interesse daran, die Ursache des Verbrechens zu kennen. Nur so lässt es sich bekämpfen. Aber wenn es den grundlosen Mord wirklich gibt, also das Urverbrechen aus nichtigem Anlass, dann ist die Rationalität unseres Zusammenlebens weniger stabil, als wir zu denken geneigt sind. Natürlich gelten die Gesetze der Kausalität für jede Tat, also auch für die Gewalttat. Insofern gibt es, logisch gesprochen, den grundlosen Mord nicht. Aber es gibt Gründe, die wir nicht ertragen, die wir als Gründe nicht akzeptieren.

Die Erzählung Der Fremde von Albert Camus (1953) gehört zu jenen zahlreichen Texten der Weltliteratur, in denen der Mord ohne Grund geschildert wird. Die entscheidende Szene spielt an einem nordafrikanischen Strand. Dort sieht der Erzähler aus einiger Entfernung einen Araber und erkennt in ihm einen der beiden Männer, mit denen es kurz zuvor eine Schlägerei gegeben hatte. Ein flüchtiger Bekannter des Erzählers hatte sie angezettelt. Der Erzähler aber, der von der Ursache des Streits nichts wusste, war untätig dabeigestanden, obwohl ihm der Bekannte einen Revolver in die Hand gedrückt hatte.

In dieser Szene nun geht der Erzähler nicht, wie er eigentlich vorhat, unauffällig seines Wegs, sondern er bewegt sich auf den einsam im Schatten eines Felsens ruhenden Mann zu. »Ich wusste, dass das dumm war, dass ich die Sonne nicht los würde, wenn ich einen Schritt weiter ginge. Aber ich tat einen Schritt, einen einzigen Schritt nach vorn. Und diesmal zog der Araber, ohne aufzustehen, sein Messer und ließ es in der Sonne funkeln. Licht sprang aus dem Stahl, und es war wie eine lange, funkelnde Klinge, die mich an der Stirn traf. Da geriet alles ins Wanken. Vom Meer kam ein starker, glühender Hauch. Mir war, als öffnete sich der Himmel in seiner ganzen Weite, um Feuer regnen zu lassen. Ich war ganz und gar angespannt, und meine Hand umkrallte den Revolver. Der Hahn löste sich, und mit einem harten, betäubenden Krachen nahm alles seinen Anfang.«

Wir sehen hier die teuflische Imitation des paradiesischen Augenblicks. Wir sehen die Zeichen der Offenbarung: das Licht, den geöffneten Himmel - gerade so, als ob ein Gott sich zeigen und das Heilsgeschehen seinen Anfang nehmen wollte. »Dann schoss ich noch viermal auf den leblosen Körper, in den die Kugeln eindrangen, ohne dass man es sah. Und es waren gleichsam vier kurze Schläge an das Tor des Unheils.« Das Bild vom Himmel, der Feuer regnen lässt, wirkt wie eine Illustration jener Äußerung von Jesus, die Lukas berichtet (10,18): »Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz.«

In seinen Gesprächen mit jugendlichen Gewalttätern stieß der Soziologe Ferdinand Sutterlüty immer wieder auf die Beschreibung eines rauschhaften Offenbarungserlebnisses auf dem Gipfel der Untat (Was die Erfahrung der Gewalt erklärt, in: Stimmen der Zeit, Jg. 128, Heft 11/2003). Der Täter gerät in einen Ausnahmezustand, den er um jeden Preis verlängern will. Das erklärt die lustvolle, hingebungsvolle Grausamkeit, mit der manche Opfer zu Tode gequält werden. So wie der Erzähler bei Camus davon berichtet, der erste und tödliche Schuss habe ihm nicht genügt, sondern er habe vier weitere abgeben müssen.

Welch scheinbaren oder wirklichen Grund auch immer eine Mordtat haben mag: Im Augenblick der Wiederholung ist er aufgehoben, die Gewalt wird zum Selbstzweck. Sutterlüty sagt, die Tat folge nun Motiven, »die aus der Erfahrung der Gewaltausübung selbst hervorgehen und keiner situationsexternen Ziele und Zwecke mehr bedürfen«. Die Gewalt nährt sich von sich selbst, sie wird autonom, und hier bildet sich die schwankende und verführerische Brücke zur Ästhetik, die ja ihrerseits Anspruch auf Autonomie erhebt. Der prekären Faszination, die das Böse auf die Kunst ausübt, ist Karl-Heinz Bohrer in seiner Ästhetik des Schreckens (1978) nachgegangen, wo er sich vor allem mit dem Werk von Edgar Allan Poe und Ernst Jünger auseinandersetzt.

Ein Dichter des Schreckens ist auch Kleist. Er hat das doppelte Gesicht der Gewalt beschrieben wie kein anderer: als zirkulären Mechanismus der Rache und als rauschhaften Selbstgenuss. Sein Kohlhaas ist der Rächer aus verlorener Ehre, den die Willkür der Obrigkeit dazu bringt, sich selbst Recht zu verschaffen. Die Kette der Demütigungen, denen er ausgesetzt wird, entwickelt eine derart tückische Gewalt, dass dem Leser die Gegengewalt des Kohlhaas geradezu willkommen erscheint, so wie sie auch Kleist, seiner einleitenden Bemerkung zum Trotz, Kohlhaas sei in seiner Tugend ausgeschweift, willkommen ist. Denn er schildert, wie Kohlhaas, nachdem er Haus und Hof verkauft und eine Schar Getreuer bewaffnet hat, die Burg seines Feindes überfällt, sie an allen Ecken anzündet und alles, was sich ihm in den Weg stellt, niedermacht. »Der Engel des Gerichts fährt also vom Himmel herab«, heißt es mitten in dem langen Satz, der damit endet, dass Kohlhaas »einen Junker Hans von Tronka, der ihm entgegen kam, bei der Brust fasste und in den Winkel des Saals schleuderte, dass er sein Hirn an den Steinen versprützte«. In der gewaltigen Architektur des Satzes leuchtet beides auf, einerseits die von oben gerechtfertigte Durchsetzung des Rechts (»der Engel des Gerichts«); andererseits eine diabolisch überschießende Gewalt, die sich frei macht von jeglicher Vernunft. Die Logik der Vergeltung hat sich verabsolutiert, der rechtschaffene Kohlhaas wird plötzlich zu einer anderen Person, zu ihrem blinden, selbstvergessenen Gegenbild.

Wir wissen aus eigener Beobachtung ebenso wie aus wissenschaftlichen Studien, dass jugendliche Delinquenten sehr oft dramatische Ohnmachts- und Gewalterfahrungen am eigenen Leib erlebten, bevor es ihnen endlich gelang, den Spieß umzudrehen. Diese Herleitung aber ist keineswegs zwingend. Nicht jeder, der drangsaliert wurde, wird zum Mörder. Und es scheint Mörder zu geben, die mehr oder weniger hatten, was man eine glückliche Kindheit nennt. Auch ist bekannt, dass die Elenden und Entrechteten nur in seltenem Fall zu Krieg und Terror neigen. Im Gegenteil sind es oft die Gutsituierten und Gebildeten, die das Rad des Schreckens in Schwung halten.

Mit dem Mord ohne hinreichenden Grund beginnt, wie die Genesis uns erzählt, die Geschichte der Menschen. Begründet die Tatsache, dass Gott das Opfer Abels wohlgefällig anschaut, das Opfer Kains jedoch nicht, wirklich den Brudermord? Der Religionsphilosoph Martin Buber schreibt dazu: »Kein Motiv reicht zu, auch nicht das der Eifersucht, um das Ungeheure zu erklären. Man muss bedenken, dass es der erste Mord ist: Kain weiß noch nicht, dass es das gibt, er weiß nicht, dass man morden kann. Nicht ein Motiv entscheidet, sondern ein Anlass.« Das heißt: Die Gewalt steht am Anfang, sie ist ursprünglich.

Nun ist klar, dass solche und ähnliche Erzählungen keine tatsächliche Abfolge berichten. Sie versuchen eine Antwort auf die erste und drängendste Frage der Menschheit: wie es gelingen kann, die Gewalt zu zähmen. Erstaunlich ist, wie viele Gründungsmythen mit einem Mord beginnen. Wie Kain den Abel erschlägt, so erschlägt Romulus den Remus. Die Studien des französischen Anthropologen René Girard eröffnen dafür einen neuen Blick. In seinem Buch Das Heilige und die Gewalt (1972) interpretiert er den uns fremd gewordenen Gedanken des Opfers und sagt: Weil die Gewalt jederzeit aus jedem hervorbrechen kann, begannen die Menschen sich vor ihr zu schützen, indem sie die gewalttätigen Energien bündelten und auf ein einziges Ziel richteten. Sie suchten sich ein wehrloses Opfer und brachten es um, getreu der Devise, es sei besser, einer stürbe für alle als alle für einen. Die antike Mythologie folgt dieser Sündenbocklogik immer wieder - wobei wir uns klarmachen müssen, dass der Sündenbock zumeist ein Mensch war. Girard empfiehlt uns übrigens, die Mythen der Antike wörtlich zu nehmen, als Berichte über tatsächlich begangene Verbrechen, und sie nicht bloß symbolisch zu verstehen. Liest man so, dann erkennt man, dass Gewalt das Normale und Gewaltverzicht das Außerordentliche ist.

Die zivilisatorische Leistung des Judentums besteht eben darin, dass es ihm gelang, das Menschenopfer durch ein Tieropfer zu ersetzen. (Später wird es die Leistung des Juden Jesus sein, die Opfermechanik durch den Kreuzestod aufzuheben.) Das Opfer aber musste möglichst menschenähnlich sein, und Blut musste fließen, damit die Ersatzhandlung Gültigkeit erlangen konnte. Und hier wird klar, weshalb Kain, der lediglich Karotten und Kartoffeln opfert, keine Gnade finden kann. Dieses Opfer taugt nicht als mordverhinderndes Mittel.

Nach der Ermordung seines Bruders sagt Kain: »Zu groß ist meine Schuld, als dass ich sie tragen könnte. Rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein, und wer mich findet, wird mich erschlagen.« Gott erlässt ein Tötungsverbot für Kain, indem er ihm das Kainsmal gibt, und Kain gründet das Geschlecht der Städtebewohner. Von einem der Nachkommen Kains, Lamech mit Namen, heißt es: »Einen Mann erschlage ich für eine Wunde und einen Knaben für eine Strieme.«

Ungeachtet dessen, dass die Genesis uns noch von Seth, dem dritten Sohn Adams, erzählt, aus dessen Stamm das Volk Israel hervorgehen wird: Die Vergeltungslogik Kains ist bis heute virulent. Girard betont den Fortschritt, den der Rechtsstaat mit seinem Gewaltmonopol bedeutet. Aber wir sehen seine Grenzen. Er ist nicht allein geografisch begrenzt, weil er von der Rachekultur der Stammesreligionen und der Fundamentalismen bedroht wird. Er ist auch von innen her begrenzt, weil er die Folgen der Gewalt reduzieren kann, nicht aber ihren Ursprung.

René Girard macht uns darauf aufmerksam, dass keine Religion dem Begreifen dieses Ursprungs so nahegekommen ist wie das Christentum. Es ist zwar, zu seinem und unserem Unglück, allzu oft hinter den eigenen Erkenntnisstand zurückgefallen. Das aber gilt für jeden Fortschritt, den die Menschheit erzielt hat. Er versteht sich nie von selbst, er muss immer von Neuem erobert werden und jede Generation muss ihn sich aneignen.

Soziale Techniken sind dabei hilfreich, aber sie greifen nicht an die Wurzel. Man wird womöglich gut daran tun, gewaltverherrlichende Spiele und Medien zu verbieten, wobei man sich vor Augen halten muss, dass jedes Verbot seine Übertretung einschließt. Wir sollten uns nicht einbilden, administrative Maßnahmen könnten jene Logik des Schreckens aufheben, vor der uns die biblischen Texte und die Werke der Literatur seit Anbeginn warnen. Sie können unsere Wachsamkeit für das Unheimliche schärfen, von dem etwa das kindliche Lied aus Des Knaben Wunderhorn spricht: »Will ich in mein Gärtlein gehn, / Will mein Zwiebeln gießen; / Steht ein bucklicht Männlein da…«

Als Kain merkt, dass Gott seine Opfergabe nicht einmal anschaut, überläuft es ihn heiß, und er senkt seinen Blick. Gott sagt zu ihm: »Warum senkst du deinen Blick? Wenn du recht tust, darfst du aufblicken. Wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn!«

DIE ZEIT, 01.02.2007 Nr. 06


zum Seitenbeginn

blog comments powered by Disqus