Ulrich Greiner
Historisierung oder Normalisierung?
Versuch über das Gedenken
Vortrag Jüdisches Museum Rendsburg 16. November 2005
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich bedanke mich sehr für diese Einladung, und es ist mir eine Ehre, zu Ihnen sprechen zu dürfen. Ich will nicht behaupten, dass es mir eine Freude oder gar ein Vergnügen sei, und zwar deshalb nicht, weil die Frage des angemessenen Umgangs mit der deutschen Vergangenheit eine der schwierigsten Fragen überhaupt ist. Schon mit dem einigermaßen undeutlichen Begriff „deutsche Vergangenheit“ fängt das Problem ja an, wobei ich nicht weiß, ob die quasi metaphorischen Begriffe wie „Auschwitz“ oder „Holocaust“ wesentlich besser wären. Ich muss gestehen, dass ich in meinem Leben als Kritiker und als Journalist dieser Thematik eher aus dem Weg gegangen bin, von wenigen Ausnahmen abgesehen, und ich habe diese Einladung angenommen, weil ich das Gefühl hatte, dieser Frage nicht länger ausweichen zu sollen. Es handelt sich bei dem, was ich Ihnen im Folgenden sagen will, um eine Art Klärungsversuch. Erwarten Sie also bitte keine neuen oder gar umstürzenden Einsichten.
Ich beginne mit einem merkwürdigen Erlebnis, das ich in diesem Sommer in Berlin hatte. Meine Frau und ich hatten die Geburtstagsfeier eines Freundes besucht, und wir machten am folgenden Tag einen Spaziergang durch das neue Regierungsviertel. Es war ein strahlender Tag, wir wanderten am Kanzleramt vorbei bis zum Reichstag und zum Brandenburger Tor und kamen zufällig zum neuen Holocaust-Denkmal. Ich weiß, dass das Wort „zufällig“ in gewisser Weise gegen mich spricht, weil es wahrscheinlich die Pflicht eines verantwortungsbewussten und kritischen Zeitgenossen gewesen wäre, diesen Ort absichtsvoll aufzusuchen. Wir kamen also absichtslos und ganz unvorbereitet zu diesem Mahnmal, und ich war, nachdem wir eine Weile darin umher gegangen waren, völlig verblüfft. Ich hatte den jahrelangen Zwist noch gut im Kopf, den endlosen, zum Teil erhellenden, zum Teil zermürbenden Streit, der ja auch in meiner Zeitung ausgetragen worden ist. Und was ich nun sah, strahlte im Gegensatz dazu eine gewissermaßen anmutige Harmlosigkeit aus – ich kann es nicht anders sagen. Der Wellengang der Wege zwischen den Stelen hindurch ergab eine schöne rhythmische Bewegung, und die raffiniert aus dem Lot fallenden Perspektiven und Sichtachsen versetzten den Besucher in einen keineswegs unangenehmen Taumel. Das Denkmal wirkte an keiner Stelle irgendwie düster oder bedrohlich, es war einfach nur interessant, apart und irgendwie eindrucksvoll.
Nach einer Weile machten wir Rast an einem der höher gelegenen Punkte, blickten über diese hin- und herwogende Landschaft aus Quadern und sahen den Kindern zu, die in den Gängen spielten und von einem Stein zum nächsten sprangen. Eine Frau sprach uns deswegen an und fragte, ob wir das richtig fänden. Sie schien irritiert und ratlos, ebenso wir wir. Wir redeten eine Zeit miteinander, kamen aber zu keinem Ergebnis. Denn einerseits war dies doch ein Denkmal, ja sogar das Denkmal für die ermordeten Juden und also kein Spielplatz. Andererseits hatte das Spiel der Kinder etwas Unschuldiges. Dieser Ort war offensichtlich kein Friedhof, und die Kinder taten ja niemandem etwas an. Und wenn man sich überlegte, wie denn am richtigsten dieser ungeheuren Untat zu begegnen und zu gedenken wäre, dann konnte man zu dem Ergebnis kommen, dass das Spielen der Kinder auch nicht unangemessener war als die ganze Idee, ein solches Denkmal zu errichten.
Der Berliner Tagesspiegel veröffentlichte am 9. Juni 2005 ein Gespräch mit Henryk Broder und Wolfgang Menge über das Holocaust-Mahnmal. Broder kritisiert darin die Architekten Peter Eisenman und Daniel Libeskind. Er nennt sie „Scharlatane“ und kommt auf das Jüdische Museum zu sprechen. Er sagt: „Das Allerschlimmste dort ist der Turm der Stille. Da gehen Leute hinein, machen die Tür hinter sich zu, kommen ganz erschüttert wieder heraus und sagen, jetzt wissen wir, wie sich die Juden im Viehwaggon gefühlt habe. Einen Dreck wissen sie.“
Im Verlauf des Gesprächs entgegnet Wolfgang Menge: „Es geht doch um Normalität. Ist es nicht das, was man auch mit dem Mahnmal erreichen will?“
Und Broder antwortet: „Sie möchten Normalität? Zwischen Juden und Deutschen?“
Wolfgang Menge: „Wenn es einen Prozess gäbe, der zu normalen Beziehungen zwischen Deutschen und Juden führen könnte, dann müsste man ihn unterstützen. Ich will diese Verklemmtheit überwinden. Der Bau des Mahnmals hängt doch auch damit zusammen, dass man auf deutscher Seite der Meinung war, irgendetwas Großes machen zu müssen.“
Broder: „Ich bin gegen Normalität. Die Forderung nach Normalität ist an sich schon anormal. Die deutsche Normalität den Juden gegenüber war immer antisemitisch. Da halte ich mich lieber an der nicht-antisemitischen Anormalität fest, als dass ich zur antisemitischen Normalität zurückkehren möchte.“
Menge: „Vielleicht ist Normalität das falsche Wort. Aber wie sollte man es sonst nennen?“
Der Reporter des Tagesspiegels stellt nun die Frage: „Ist das Denkmal nicht eigentlich ein Denkmal für den anständigen Deutschen, der getan hat, was möglich war?“
Broder antwortet: „Ja, zuerst beim Holocaust und dann bei seiner Aufarbeitung. Das ist der ,deutsche Sündenstolz‘, sagt Hermann Lübbe.“
Weitere Frage des Reporters: „Das Mahnmal als Tummelplatz. Wie gefällt Ihnen das?“
Antwort Broder: „Ich finde das gut. Indem die Berliner sich der suggestiven Architektur verweigern, beweisen sie einen Sinn fürs Normale. Wenn im Tiergarten halbe Lämmer gegrillt werden, warum dann nicht Skateboardfahren zwischen Stelen? Unser Noch-Kanzler hat vor sieben Jahren in einem Interview mit Stefan Aust gesagt, er möchte ein Mahnmal, zu dem man gerne hingeht. Sein Wunsch ist erhört worden.“
Wir kennen Henryk Broder als einen zuweilen begnadeten, manchmal aber bloß aggressiven Polemiker. Was den letzten Satz anbelangt, das Holocaust-Mahnmal sei ein Ort, zu dem man gerne hingehe, so bin ich geneigt, ihm zuzustimmen. Schwieriger aber finde ich seine Reaktion auf Wolfgang Menges Wunsch nach Normalität. Denn Wolfgang Menge ist ja nicht naiv. Abgesehen davon, dass er nunmehr 81 Jahre alt ist und die Welt als Reporter zu einem Zeitpunkt bereist hat, als Broder noch ein kleiner Junge war: Menge ist Sohn einer jüdischen Mutter und hat seine Verwandten in den Lagern verloren. Wenn also Menge den Wunsch äußert, die Verklemmtheit zu überwinden, so äußert sich da einer, der in dieser Sache eine gewisse Autorität besitzt.
Sollen wir ihm folgen? Das Wort „Normalität“ klingt verführerisch. Nichts möchten wir Deutsche zumeist lieber sein als normal – und vielleicht sogar noch etwas Schöneres, so wie es Hans Eisler 1949 in seiner Hymne der DDR formuliert hat: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“. In der dritten Strophe heißt es: „Lasst uns pflügen, lasst uns bauen, / lernt und schafft wie nie zuvor, / und der eignen Kraft vertrauend / steigt ein frei Geschlecht empor.“ Dieses Pathos ist uns fremd geworden, und im Rückblick gesehen spricht aus diesem Text eine nahezu fahrlässige Selbstgewissheit, eine Selbstüberbietung, diesmal in die andere Richtung, die aufs Neue zum Scheitern verurteilt war.
Gerade deshalb wäre doch der Wunsch nach Normalität insofern plausibel und vernünftig, als alle Versuche, das deutsche Geschick als es ein besonderes Schicksal zu verstehen, ins Unheil geführt haben. Die deutsche Besonderheit wurde als Verspätetheit, als Zurückgebliebenheit betrachtet, aus der schließlich in einem Akt der Neugeburt das weltstürzend Außerordentliche hervorgehen sollte. Und das ist ja dann auch passiert. Wenn also Normalisierung gelingen könnte, dann müsste man alles tun, um sie herbeizuführen.
Es ist aber klar, dass dies aus vielen Gründen nicht möglich ist. Zunächst einmal ist der Wunsch nach Normalität selber nicht normal, weil Normalität ein selbstevidenter Zustand ist, den man nicht absichtsvoll herbeiführen kann. Wer darauf pocht, gleicht einem Mann, der laut schreiend durch die Gegend läuft und nach Ruhe verlangt. Ruhe stellt sich dadurch ein, dass man eben ruhig bleibt; Normalität dadurch, dass keiner sie schreiend einfordert. Der entscheidende Grund ist aber der, dass die Überlebenden und ihre Nachkommen nichts mehr fürchten müssen als eine Normalisierung, die erst durch das Vergessen und Verschweigen ermöglicht würde, eine Normalisierung schließlich, die dann zu jener Normalität führen könnte, von der Henryk Broder spricht, der Normalität eines ungehemmten Antisemitismus. Es läuft also alles darauf hinaus, dass wir Normalisierung weder wollen dürfen noch erreichen können. Es gibt aber einen anderen Prozess, auf den niemand Einfluss hat, und das ist die Historisierung. Sie ist unvermeidlich, weil sie generell alles erfasst, und sie ist in diesem Fall unvermeidlich, weil es in absehbarer Zeit keine leibhaftigen Zeugen mehr geben wird, sondern nur mehr die Kinder und die Kindeskinder der Täter wie der Opfer. Es liegt auf der Hand, dass diese Tatsache unsere Erinnerungskultur beeinflussen und verändern muss. Auf welche Weise tut sie das? Es ist mit Sicherheit noch zu früh, eine Geschichte dieser Erinnerungskultur zu schreiben. Ich will dennoch versuchen, ein paar Veränderungen zu benennen.
Dolf Sternberger hat 1988 in dem so genannten Historikerstreit mit folgendem Beitrag interveniert:
Der Historiker Ernst Nolte hat abermals seine These verteidigt, das Archipel Gulag sei „ursprünglicher“ als Auschwitz. Er hat zur Verteidigung dieser seiner hartnäckig wiederholten These den Geist der Wissenschaft selber in Anspruch genommen, dessen Forderung nämlich, „ein Phänomen soweit wie möglich verstehbar zu machen“. Ich will jetzt nicht von neuem seine These erörtern, auch nicht die logische Sonderbarkeit seines Begriffes vom „Ursprünglichen“ und „Ursprünglicheren“ beleuchten, der offenbar aus Heideggers Sprache stammt und dem gewiss nicht diejenige rationale Eindeutigkeit eigen ist, welche ein Verfechter reiner Wissenschaftlichkeit anstreben sollte. Vielmehr möchte ich darauf aufmerksam machen, dass die ehrwürdige Lehre vom Verstehen an massive Wände stößt, ja dass der Umkreis der historischen Phänomene, die „verstehbar“ sind oder gemacht werden können, sehr viel enger gezogen ist, als der auf die „Geistesgeschichte“ eingeschworene Gelehrte annimmt.
Nach diesen einleitenden Worten kommt Sternberger auf das entscheidende Argument:
Die wahnsinnige Untat, die mit dem Namen „Auschwitz“ bezeichnet wird, lässt sich in Wahrheit gar nicht verstehen, sie lässt sich nur berichten. Auch wenn nachgewiesen würde, dass der Plan zur „Endlösung der Judenfrage“ in Hitlers Gehirn als eine Art Antwort auf frühere Untaten des Bolschewismus ausgeheckt worden wäre, so würde das die wirkliche Ausführung, nämlich den tatsächlichen fabrikmäßigen Massenmord, nicht um einen Deut verstehbarer machen. Allenfalls würde ein neues Licht auf die Kolportage-Fantasie des handelnden Verbrechers fallen, und wenn man diese trübe Sphäre für einen Gegenstand der Geistesgeschichte ansehen will, so würde von solcher Erkenntnis vielleicht die Geistesgeschichte einen kleinen Gewinn haben. Aber die Tat und Untat selbst ist kein Gegenstand der Geistesgeschichte. Auch besteht der Vorgang „Auschwitz“ nicht allein aus der Untat der methodischen Menschenvertilgung, sondern zugleich aus dem millionenfachen unhörbaren Schrei der unschuldigen Opfer, und auch daran ist nichts zu „verstehen“, da dieser Schrei ja gar nicht hat laut werden können. Es scheint mir ganz vergeblich, ja von Grund auf verfehlt, sich um ein Verständnis von Auschwitz zu bemühen. Verstehen lässt sich das Verständige – und wäre es etwa die technische Verbesserung der Kapazität der Gaskammern von Auschwitz im Vergleich zu denen von Treblinka, deren sich der Lagerkommandant Höß gerühmt hat. Wer aber den Zweck dieser Vorrichtung, wer die Ausführung dieses Planes als solche verstehen wollte, der müsste darüber den Verstand verlieren. Und wer den Verstand nicht zu verlieren imstande ist, der hat dieses Phänomen „Auschwitz“ noch gar nicht eigentlich wahrgenommen. (Ich weiß, das ist ein Paradox, aber anders lässt es sich nicht ausdrücken.) Wenn wahrhaftig die Absicht des Verstehens den Sinn von Wissenschaft ausmachte, so müsste man den Schluss ziehen, dass zur Erkenntnis des Phänomens „Auschwitz“ die Wissenschaft untauglich sei. (FAZ vom 6. April 1988).
Mich hat diese Intervention damals sehr beeindruckt, und ich habe sie in einem Aufsatz zitiert, den ich zum 20. Jahrestag der Studentenbewegung geschrieben habe. In diesem Beitrag für die ZEIT (29.4.1988) ging es um den Generationskonflikt zwischen den Achtundsechzigern und ihren Vätern. Mir war klar geworden, dass die Söhne das Thema Auschwitz instrumentalisiert hatten, um mit ihren Vätern abzurechnen. In den so genannten Faschismus-Theorien, die damals in Umlauf waren, konnte man insofern einen Fortschritt sehen, als sie endlich die verschwiemelte und verdrückte Betroffenheitsprosa ablösten, die bis dahin vorgeherrscht hatte, und den Versuch unternahmen, Auschwitz in einen größeren Zusammenhang einzuordnen und dadurch zu verstehen. Dolf Sternberger aber lehrte mich, dass es da im üblichen Sinn gar nichts zu verstehen gab, und dass dieses wohlfeile Gerede über den Faschismus auch eine Entlastungsfunktion hatte. Erlauben Sie bitte, dass ich aus meinem Aufsatz zitiere:
"Es zeigt sich, dass der Generationskonflikt, der sich am Faschismusthema entzündete, ein Konflikt zwischen den Tätern von gestern und ihren Söhnen war. Die Opfer und die Kinder der Opfer hatten wir vergessen. Das Auschwitz-Argument hatten wir als besonders schlagkräftige Waffe im Kampf gegen die Väter gebraucht und also missbraucht. Wir hatten es uns erspart, darüber nachzudenken, ob uns nicht die Schuld der Väter als ein Erbe zugefallen war, das wir nicht ausschlagen konnten, ohne aufs Neue verlogen zu sein. Unbewusst und also leichtfertig hatten wir, noch bevor die Redewendung in Umlauf kam, die Gnade der späten Geburt für uns in Anspruch genommen."
Schlagendes Beispiel dafür ist jener Satz, den Gudrun Ensslin am 2. Juni 1967, nachdem der Student Benno Ohnesorg von der Kugel eines Polizisten tödlich getroffen worden war, auf einer Versammlung des SDS in den Saal gerufen hat: „Ihr könnt nicht mit Leuten reden, die Auschwitz gemacht haben!“ Die Wut, die sich darin ausdrückte, hatte mit den Opfern nichts zu tun.
Es ist eine bittere Tatsache, dass sich das Leid der Opfer einem nachvollziehenden Begreifen entzieht. Noch vor wenigen Jahren hat der Historiker Reinhart Koselleck den Gedanken von Sternberger aufgegriffen und über das Thema Auschwitz gesagt: „Das lässt sich vielleicht, und schwer genug, erzählen, aber daraus abzuleiten, dass es ein kollektives Gedächtnis oder gar eine kollektive Erinnerung gäbe, die davon in Deutschland Zeugnis ablegen könnten, ist ein wohlmeinender Trugschluss. Die in den Leib gebrannte Erfahrung der absurden Sinnlosigkeit lässt sich, als Primärerfahrung, nicht in das Gedächtnis anderer oder in die Erinnerung nicht Betroffener übertragen.“ Und auf die Frage, wie wir also damit umgehen sollen, gibt Koselleck die folgende Antwort, die ebenso paradox ist wie die von Sternberger: „Was ist also zu erinnern? Das Unausdenkliche denken zu müssen, das Unaussprechbare aussprechen zu lernen und das Unvorstellbare vorzustellen versuchen.“ (Verbrechen erinnern - Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. Hrsg. Volkhard Knigge und Norbert Frei. C.H.Beck, München 2002, S. 24)
Wie soll das gehen, wie kann das gelingen? Im Januar 1979 wurde von der ARD die amerikanische Fernsehserie Holocaust in vier Folgen ausgestrahlt. Die Wirkung war, wie sich einige von Ihnen vielleicht erinnern, gewaltig. Es war als hätten die deutschen Zuschauer zum ersten Mal begriffen, dass in Auschwitz wirkliche Menschen umgebracht worden sind. Die Fernsehnation war aufgewühlt und erschüttert, und ich gebe zu, dass auch ich aufgewühlt und erschüttert war. Es ist aber damals das, was Sternberger und Koselleck gefordert haben, natürlich nicht eingetreten, sondern das Gegenteil. Die ungeheuerliche Untat, die man bislang mit dem Begriff Auschwitz bezeichnet hatte und die nach der Serie zumeist nur noch Holocaust genannt wurde, war nun eine Tat geworden, die man sich Abend für Abend im Fernsehen angucken konnte. Die Tränen, die nicht wenigen Zuschauern in die Augen traten, drückten Anteilnahme und Betroffenheit aus, aber es war nicht so, dass man darüber den Verstand verloren hätte, um noch einmal mit Sternbergers Worten zu reden.
Mit der Holocaust-Serie begann, so kommt es mir heute vor, der Prozess der Historisierung. Die Ereignisse, auf die sich bezog, lagen nun mehr als eine Generation zurück, sie fingen an, in den Schatten der Geschichte zu treten. Und alle späteren Erinnerungswellen haben diesen Vorgang aufs Neue und immer stärker demonstriert. Der Historikerstreit 1986 war der letzte Versuch, ihn aufzuhalten und einer Historisierung Einhalt zu gebieten, die einer Relativierung gleichkam. Aber auch Jürgen Habermas, mit dessen Attacke auf Ernst Nolte der Streit begonnen hatte, war letzten Endes der Meinung, es sei angebracht, sich dem Nationalsozialismus mit der „Arbeit des distanzierenden Verstehens“ zu nähern. Die nahezu einhellige Begeisterung, mit der dann 1996 Daniel Goldhagens Buch über Hitlers willige Vollstrecker aufgenommen wurde, trug Züge einer negativen Erweckungsbewegung. Die Historikerin Ute Frevert hat dazu bemerkt: „Dass die verstörende These vom Publikum so gern gehört wurde, hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass jenes Publikum, sofern es aus Nachgeborenen bestand, von Goldhagen kollektive Absolution erhielt. Zwar sei der eliminatorische Antisemitismus tief in der deutschen Kultur verwurzelt gewesen, aber nach 1945 habe er sich nicht wieder regen können.“ (Aleida Assmann / Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999; S. 262)
Wichtig scheint mir Ute Freverts Hinweis auf die Nachgeborenen. Goldhagens These von einer tief sitzenden antisemitischen Mordgier der Deutschen wäre von der Generation der Täter mit einem Schrei der Empörung beantwortet worden. 1996 aber waren die meisten Täter nicht mehr am Leben oder sie waren so alt, dass sie den öffentlichen Diskurs nicht mehr bestimmen konnten. Zum Prozess der Historisierung gehört die eigentlich merkwürdige Tatsache, dass die Zahl der Bücher und Filme, der wissenschaftlichen Abhandlungen, persönlichen Erinnerungen und Erzählungen immer mehr zunimmt, je weiter die Ereignisse zurückliegen. Man hätte doch annehmen können, dass die wissenschaftliche Aufarbeitung irgendwann eine Sättigung erreicht haben würde. Aber es scheint so, als würden mit jeder weiteren Publikation die Fragen wachsen, als würde die Neugier der Forscher mit der Ausdehnung des Wissens zunehmen. Zwar sind viele Archive erst durch Wegfall des Eisernen Vorhangs zugänglich geworden, so dass Defizite nun aufgefüllt werden können. Zugleich aber gilt, dass mit wachsendem historischem Abstand die Aussagekraft von Augenzeugenberichten abnimmt.
Dasselbe gilt für die Unzahl der Erzählungen, die nunmehr von den Kindern und Enkeln vorgelegt werden. Auch ihre dokumentarische Bedeutung kann, je weiter die Ereignisse zurückliegen, wahrlich nicht zunehmen. Nicht selten gibt es den Fall des false memory, der falschen Erinnerungen. Jan Assmann hat in seinem Buch über das kulturelle Gedächtnis auf den Fall Wilkomirski hingewiesen. Sie erinnern sich: Der 1941 geborene Bruno Dösseker lebte offenbar in dem Glauben, seine Kindheit in den Lagern von Majdanek und Auschwitz zugebracht zu haben, und die Schilderung der Grausamkeiten, die er dort erlebt haben will und die er 1995 unter dem Titel Bruchstücke und unter dem Namen Binjamin Wilkomirski veröffentlichte, erregte großes Aufsehen. Auch die Fachwelt war beeindruckt, bis Daniel Ganzfried die Wahrheit über diese erfundene Biografie aufdeckte. Assmann nimmt dies als Beispiel für die Konstruktion eines kollektiven Gedächtnisses, in dem Privates, Gelesenes, Erfahrenes ununterscheidbar verschmilzt. (Jan Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis. Verlag C.H.Beck, München 2000; S. 14)
Mit der Historisierung verschwimmt die Grenzlinie zwischen dem historischem Faktum und jener Konstruktion oder Rekonstruktion, die das kollektive Gedächtnis vornimmt. Das ist die eine Seite. Und die andere ist, dass sich die Größe des Verbrechens mit wachsender Entfernung mindert. Sie wird kommensurabel – und sie wird konsumierbar. Ich habe Oliver Hirschbiegels Film Der Untergang mit einem ausgesprochen unguten Gefühl gesehen. Es schien mir obszön, mit welcher geradezu gespenstischen Perfektion der ansonsten wunderbare Schauspieler Bruno Ganz den Hitler gab, und ich glaube, dass mit diesem Film eine neue Stufe der Historisierung erreicht ist: Der historische Vorgang, der einst unbegreiflich, undenkbar, unvorstellbar erschien, wird nun zu einem theatralischen Akt von geradezu mythischer Qualität.
Dies zu beklagen ist deshalb sinnlos, weil den Lauf der Geschichte niemand aufzuhalten vermag. Die entscheidende Frage ist allerdings, ob diese Historisierung mit einer Relativierung einhergeht. Die Frage ist, ob mit ihr nicht doch eine heimlich-unheimliche Normalisierung geschieht. Es ist sicherlich wahr, dass diese Normalisierung von nicht wenigen gewollt und betrieben wird. Der sichtbarste Ausdruck dafür war Helmut Kohls Schachzug, den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan zu einem Besuch auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg zu gewinnen. Und sicherlich gehört dazu auch Gerhard Schröders Wunsch, das Holocaust-Mahnmal möge ein Ort werden, an den man gerne hingeht. Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass der Historiker Kohl absichtsvoll Geschichtspolitik betrieben hat, während man Gerhard Schröder wohl nicht Unrecht tut, wenn man annimmt, dass er sich für Geschichte nicht sonderlich interessiere.
Man muss aber, um gerecht zu sein, darauf hinweisen, dass die deutsche Öffentlichkeit, jedenfalls die der meinungsführenden Intellektuellen und Publizisten, immer versucht hat, zwischen unvermeidlicher Historisierung und vermeidbarer Relativierung eine deutliche Grenze zu ziehen. Und ich will hinzufügen, dass meiner Beobachtung nach diese Grenzziehung nicht immer auf gerechte Weise geschehen ist und geschieht. Die Sache selber führt ja, wie ich zu zeigen versucht habe, in eine Aporie: Einerseits ist Auschwitz, da hat Sternberger Recht, nicht verstehbar und nicht erklärbar; andererseits muss man die Erinnerung daran an die jeweils nächste Generation weitergeben. Und wie kann das anders geschehen, als dass man davon erzählt? Jede weitergegebene Erzählung aber ist zugleich ein Deutungsversuch, ein Erklärungsversuch, das kann nicht anders sein. Und weil das so ist, äußert sich die Kritik an einer vermuteten Grenzüberschreitung immer an der Sprache. Das ist auch plausibel, denn es gibt im Umgang mit der deutschen Vergangenheit eine Sprachregelung. Auch wenn man Sprachregelungen generell für problematisch hält, so muss man sie doch in diesem Fall befürworten. Der bereits erwähnte Jan Assmann hat zusammen mit seiner Frau Aleida Assmann ein begriffliches Instrumentarium entwickelt, mit dessen Hilfe wir besser verstehen können, wie ein kollektives Gedächtnis entsteht und welche Bedeutung es hat.
Dieses kollektive Gedächtnis bewahrt die Erinnerung, und entscheidend dafür ist die angemessene Sprache. Der Vorgang ist in unserem Fall noch lange nicht abgeschlossen, obwohl man sicherlich sagen kann, dass Auschwitz weithin als das finsterste Kapitel unserer Geschichte begriffen und anerkannt ist. Auch wird es in den Schulen, so weit ich das beobachten kann, intensiv behandelt. Aber was es näherhin bedeutet, für jeden Einzelnen und für dieses Land im Ganzen, das eben ist noch im Fluss. Und weil das so ist, verändern sich auch die Sprachregelungen.
Wenn Sie heute etwa die berühmte und berüchtigte Rede des damaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger unbefangen nachlesen sollten, gehalten 1988 zum 50. Jahrestag der ersten Pogrome in der so genannten Reichskristallnacht, so hätten Sie Mühe, den Skandal zu begreifen, den diese Rede damals auslöste und der zum Rücktritt Jenningers führte. Inhaltlich gab der Text keinen Anlass zu irgendeinem revisionstischen Verdacht. Der Fehler, den Jenninger beging, war ganz simpel der, dass er die distanzierte, objektivierende Rede verließ und den Versuch unternahm, sich in Form der erlebten Rede in die Psyche der von den Nazipropaganda überzeugten Deutschen hineinzuversetzen.
Ignatz Bubis hat später einmal erzählt, er habe Teile dieser Rede in eine eigene Rede eingebaut, ohne dass es irgendjemandem aufgefallen wäre. Ich sage nicht, Jenninger sei damals zu Unrecht kritisiert worden. Ich weise nur darauf hin, dass er eine damals sprachlich problematische Figur angewendet hat, die heute kaum mehr als problematisch empfunden würde.
Ein in der zeitlichen Richtung umgekehrtes Beispiel ist der Begriff des „Geschichtsgefühls“, den Martin Walser 2002 in einem Vortrag verwendete und der dann zu einer scharfen Replik des Historikers Hans Mommsen führte. Ich will auf die näheren Umstände dieser Debatte nicht eingehen, weise nur darauf hin, dass das inkriminierte „Geschichtsgefühl“ schon in der Antrittsrede des ersten deutschen Bundespräsidenten Theodor Heuss vorkam. 1949 sprach er von „unserem Geschichtsgefühl“, das den deutschen Osten (gemeint waren die Gebiete östlich von Oder und Neiße) als „deutsches Land“ betrachte. Exakt diesem Gefühl hat Martin Walser in seinen Reden und Romanen mehrfach Ausdruck gegeben, wobei er wohlgemerkt nicht den Osten jenseits von Oder und Neiße gemeint hat, sondern die DDR. Walser hat die Teilung Deutschlands in zwei Staaten noch als schmerzlich empfunden, als sich die herrschende Öffentlichkeit in der BRD längst damit abgefunden hatte.
Damit sind wir nun unvermeidlich bei Martin Walser angelangt, aber seien Sie bitte unbesorgt: Ich will die endlose Debatte über das, was er gesagt hat oder gesagt haben soll, nicht in aller Breite wiederholen. Auch Walsers Rede, nämlich die zur Friedenspreisverleihung 1998, verletzte die herrschende Sprachregelung, allerdings, anders als bei Jenninger, mit voller Absicht. Der hauptsächliche Grund für den durch Ignatz Bubis ausgelösten Streit – Bubis hatte von „geistiger Brandstiftung“ gesprochen – war der, dass Walser außerstande ist, Sprachregelungen zu akzeptieren. Walser ist Schriftsteller, und ich verstehe jeden Schriftsteller, der sich gegen Sprachregelungen wehrt. Ich wiederhole allerdings meine Überzeugung, dass beim Thema Auschwitz Sprachregelungen und Ritualisierungen sinnvoll, ja sogar notwendig sind. Nur: Diese Regelungen stehen nicht ein für allemal fest. Walser hat versucht, sie zu verändern. Das ist ihm nicht gut bekommen, denn seitdem steht er unter Verdacht, und kaum einer seiner öffentlichen Auftritte geht ohne Demonstrationen und Drohungen vonstatten. Man muss ihn deswegen nicht bemitleiden, denn er hat sich, nicht zuletzt mit seinem Roman Tod eines Kritikers, auf gefährliches Gelände begeben.
Ich bin zwar der Ansicht, dass Walser, anders als ihm immer wieder unterstellt wird, kein Antisemit ist, aber er spielt mit antisemitischen Klischees, und das ist nicht gut. Erklärbar wird das durch eine sehr simple Reaktionsweise. Es ist der Trotz. Walser, der in der Tat viel dazu beigetragen hat, dass die deutsche Vergangenheit Teil unseres Selbstverständnisses geworden ist – ich erinnere nur an sein Engagement für die Tagebücher Victor Klemperers oder an seine Rede Auschwitz und kein Ende –, Walser hat sich irgendwann (und wann das war, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle) durch eine rechthaberische, politisch korrekte, aber letztlich törichte Kritik derart herausgefordert gefühlt, dass er, anstatt differenziert darauf zu reagieren, seine Position verschärfte. Nun ist Walser kein Politiker, dem man ein solch abwägende Strategie abverlangen kann, aber er ist eine öffentliche Person, und als solche muss er die Differenz zwischen dem, was er persönlich empfindet, und dem, was objektiv geboten ist, sorgfältig beachten.
Genau das aber will er nicht. Und hier nähern wir uns jenem Grundkonflikt, den ich schon angedeutet habe, dem Konflikt zwischen kollektivem Gedächtnis und persönlicher Erinnerung. 1988 sprach Walser in München unter dem Titel Über Deutschland reden und sagte: „Ist man fähig oder gar verpflichtet, Kindheitsbilder nachträglich zu bewerten, oder darf man sich diesem allerersten Andrang einfach für immer überlassen? Ich habe das Gefühl, ich könne mit meiner Erinnerung nicht nach Belieben umgehen. Es ist mir, zum Beispiel, nicht möglich, meine Erinnerung mit Hilfe eines inzwischen erworbenen Wissens zu belehren.“ Das ist genau das Thema, das Walser zehn Jahre später in seinem Roman Ein springender Brunnen behandelt hat. Kritiker warfen ihm vor, dass in dieser Kindheitsgeschichte vom Bodensee, dieser Erzählung vom Aufkommen der Nazis, von ihrer Herrschaft und vom Krieg, das Schicksal der Opfer zu kurz gekommen sei. Und Walsers implizite Antwort lautet, dass er nur das erzählen könne, was damals in seinem Kopf und in dem seiner Verwandte und Freunde gewesen sei. Und das war die bekannte Mischung aus Eigennutz und Mitleid, aus allgemeiner Verblendung und später Einsicht.
Walser hat, um es positiv zu wenden, der Wilkomirski-Versuchung immer widerstanden, der Versuchung also, sich als Täter oder als Nachkomme der Täter auf die Seite der Opfer zu schleichen. Und diese Versuchung hat ja nicht wenige Nachfolger gefunden. Allgemein gesprochen finden wir diese Haltung in jenem folgenlosen Philosemitismus, der die Sonntagsreden beherrscht; und im Besonderen bei Zeitgenossen wie Lea Rosh, der Initiatorin des Holocaust-Mahnmals, die jüngst dadurch auffiel, dass sie den Backenzahn eines jüdischen Opfers in eine der Stelen eingemauert wissen wollte.
Einer der am meisten skandalisierten Begriffe in Walsers Friedenspreisrede war der von der „Moralkeule Auschwitz“, eine provokative Wortschöpfung, die aber in der Tat ein Problem trifft. Wer immer über Auschwitz ernsthaft nachdenkt, und hier meine ich die Nachkommen der Täter, wird auf das von Dolf Sternberger beschriebene Dilemma stoßen, und dieses Dilemma schließt das Eingeständnis der eigenen Ohnmacht ein: der Ohnmacht, diese Untat verstehen, begreifen, sich vorstellen zu können; der Ohnmacht schließlich, angemessen reagieren zu können, und sei es durch tätige Reue. In seiner Rede Auschwitz und kein Ende hat Martin Walser 1979 gesagt, angesichts von Auschwitz gebe es kein „richtiges Verhalten“: „Wir alle sind in Versuchung, uns gegen Auschwitz zu wehren. Wir schauen hin und gleich wieder weg. Leben kann man mit solchen Bildern nicht.“
Margarethe von Trottas Film Die bleierne Zeit erzählt von zwei Schwestern (eine davon ist Gudrun Ensslin), aufgewachsen in einem protestantischen Pfarrhaus, die Zeuge einer Vorführung von Dokumentarfilmen aus der Nazizeit werden. Sie sehen die Leichenberge der ermordeten Juden. Sie sind fassungslos. Plötzlich geht ein Riss durch sie hindurch. Sie begreifen, dass die von den Deutschen begangenen Verbrechen von einer Dimension sind, die sich dem Begreifen entzieht. Und weil das so ist, neigen wir – und wieder spreche ich von den Nachkommen der Täter – intuitiv dazu, die Täterperspektive zu verlassen und die der Opfer aufzusuchen. Das ist ebenso verständlich wie unmöglich. Es hat außerdem etwas Vermessenes und Verlogenes. Und ich vermute, dass wir deshalb so unnachsichtig, geradezu gnadenlos gegen angeblich falsche Redeweisen vorgehen. Jenningers Versuch, den Hergang der Verbrechen aus der Täterperspektive zu schildern, war ja kein Beschönigungsversuch. Aber in der öffentlichen Reaktion zeigte sich schon so etwas wie eine Moralkeule. Und wer jemals zur Zeit der Studentenrevolte universitäre Debatten miterlebt hat, der weiß, wie wie sehr es darauf ankam, im entscheidenden Augenblick den Faschismusvorwurf zu landen. Wer ihn als erster vorbrachte, hatte an Boden gewonnen. Die Wiederholung dieses Mechanismus konnte man mehrfach beobachten, 1993 etwa, als es um die Kandidatur von Steffen Heitmann für das Amt des Bundespräsidenten ging; und dann, als Botho Strauß seinen Essay Anschwellender Bocksgesang im Spiegel veröffentlichte. Das war ebenfalls 1993. Immer ging es sehr schnell darum, den Hintergrund Auschwitz zu reaktivieren und daraus den ärgsten Vorwurf abzuleiten.
Auch dies ist eine Form der Instrumentalisierung, die aber nicht leicht zu durchschauen ist, weil sie sich auf die unangreifbar richtige Seite stellt. Aber ich halte sie für unerlaubt und für unanständig. Wer den finstersten Punkt der deutschen Geschichte nur benutzt, um politisch-rhetorischen Geländegewinn zu erzielen, hat in Wahrheit nichts verstanden. Diese Scheingefechte sind außerdem besonders unsinnig, wenn man sich vor Augen hält, dass die wahren Revisionisten und die schlimmsten Antisemiten nicht dort zu finden sind, wo sie angeblich immer wieder ausgemacht werden, nicht in der Paulskirche, nicht im Bundestag und nicht in den deutschen Feuilletons, sondern unter den braunen Horden, die Ausländerheime anzünden, und unter den islamistischen Immigranten, die den Tod Israels fordern.
Die Instrumentalisierung von Auschwitz ist, so scheint es mir, ein Aspekt dessen, was ich als Historisierung beschrieben habe, ein Versuch also, das Ungeheuerliche geheuer zu machen, anwendbar, nutzbar. Was nun das Nutzbare betrifft, so ist daran nichts auszusetzen, außer eben, dass dadurch unvermeidlich eine Art Einebnung geschieht. Aber wenn ich zum Beispiel sehe, wie sorgfältig meine beiden Kinder in der Schule über diese Dinge unterrichtet werden, dann habe ich das Gefühl, dass man vielleicht doch Lehren aus der Geschichte ziehen kann. Wie meine Kinder habe ich Hans Peter Richters Buch Damals war es Friedrich gelesen (ich kannte es nicht), und wir diskutierten in der Küche darüber, was es heißt, wenn jemand ausgegrenzt wird, sozial, ökonomisch, psychisch, bis hin zur vollständigen Vernichtung. Über das, was in Auschwitz wirklich geschah, haben wir nicht geredet. Die Kinder wissen es, aber ich glaube sie wissen auch, dass man in gewisser Weise nicht darüber reden kann.
Jan Assmann schreibt in seinem Buch Religion und kulturelles Gedächtnis: „Mit seinem Gedächtnis ist niemand allein, sondern immer Teil eines Ganzen. Je ungeheuerlicher das Erinnerte, desto unvermeidlicher drängt es in die Symbolik und in die Öffentlichkeit. Die Gedächtnisgeschichte von Auschwitz fängt – nach Jahrzehnten des Schweigens – jetzt überhaupt erst an, und sie wird so bald nicht enden. Denn diese Ereignisse betreffen nicht nur Juden und Deutsche, sondern die ganze Menschheit und stiften auf Grund ihrer Dimensionen ein Menschheitsgedächtnis. Auschwitz wird Teil einer normativen Vergangenheit, aus der künftige Generationen Werte und Orientierungen beziehen.“ (S.210)
Insofern hat die Historisierung vielleicht auch ihr Gutes. Sie führt nicht zur Normalisierung, sondern in eine paradoxe Situation: Je weiter Auschwitz zurückliegt und je mehr es seine unmittelbare Bedrohlichkeit verliert, umso sind die Nachkommen imstande, daraus etwas zu lernen. Die Kinder, die am Holocaust-Denkmal ihre harmlosen Spiele spielen: Sie werden früher oder später fragen, was es damit auf sich hat, und die Erwachsenen, die nunmehr selber die Kinder oder Kindeskinder derer sind, die das alles erlitten oder angerichtet haben, werden es ihnen erklären müssen. Aber es wird ihnen leichter fallen als ihren Vorfahren.