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Ulrich Greiner Die sechziger und siebziger Jahre erscheinen heute ferner als das alte Rom. Warum damals so viele mit der RAF sympathisierten Vierzig Jahre sind eine lange Zeit, und nichts lag näher als die Vermutung oder Hoffnung, das Kapitel RAF sei historisch abgeschlossen. Wir haben andere Sorgen, in der Tat. Die ungeheure Erregung jedoch, die von der bevorstehenden Freilassung der Terroristin Brigitte Mohnhaupt und der möglichen Begnadigung des Terroristen Christian Klar ausgelöst wurde, macht offenkundig, dass es ein ungeheiltes, womöglich unheilbares Trauma gibt. Zunächst hat dieses Trauma damit zu tun, dass in den Jahren des Terrors 34 Menschen ermordet wurden - Polizisten, Bankiers, Fahrer, Hausfrauen, Staatsanwälte, Unternehmer - und dass jeder oder jede von ihnen Angehörige hinterlassen hat, die nie mehr zur Tagesordnung übergehen konnten. Aber die Erschütterung, die vom Linksterrorismus ausging, hat ihre Ursache nicht allein in den Anschlägen einer Gruppe, die zum Zeitpunkt ihrer größten Ausdehnung nicht mehr als 250 Personen umfasste, sondern auch und vor allem im Sympathisantentum. Denn der Terror, den Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Andreas Baader und ihre Nachfolger inszenierten und vollstreckten, war nicht die Untat externer Invasoren (wie heute die Attentate der Islamisten), sondern er war ein interner Exzess. Er kam aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft, er fand in ihr das Milieu, aus dem er sich rekrutierte. Und er stieß auf eine intellektuelle Öffentlichkeit, die den Weg der Gruppe anfangs mit Sympathie verfolgte. Der Kaufhausbrand, den Gudrun Ensslin und Andreas Baader am 3. April 1968 in Frankfurt gelegt hatten, um damit, wie sie angaben, gegen den Krieg in Vietnam zu demonstrieren, fand in der linken Szene erheblichen Beifall, und Fritz Teufel sagte auf einer Konferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), es sei immer noch besser, ein Warenhaus anzuzünden, als ein Warenhaus zu betreiben - womit er auf Mackie Messer anspielte, der in Brechts Dreigroschenoper sagt: »Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?« Ensslin und Baader wurden rasch gefasst und vor Gericht gestellt. Über den Prozess schrieb Uwe Nettelbeck in der ZEIT vom 8. November 1968, es handele sich um »eine Veranstaltung, in der sich die Gewaltenteilung als eine Verteilung der Aufgabe darstellte, die zum Schutz der herrschenden Ordnung notwendige Gewalt auszuüben«. So leichtfertig hat man damals gedacht und geschrieben, aber noch war die Lage nicht ernst. Die Frankfurter Brandstiftung als gewissermaßen surrealistisch symbolischen Akt gegen Kapitalismus und Konsumterror zu begreifen fiel umso leichter, als keine Menschen zu Schaden gekommen waren. Aber die bald danach einsetzende Debatte über die Legitimität von Gewalt gegen Sachen (im Unterschied zur Gewalt gegen Personen) begab sich auf einen Weg, an dessen Ende die Billigung des Terrors stand. Nachdem am 7. April 1977 der Generalbundesanwalt Siegfried Buback von Mitgliedern der RAF erschossen worden war, erschien im Mitteilungsblatt des Göttinger Asta unter dem Pseudonym Mescalero ein »Nachruf«, an dessen Ende sich der Verfasser zwar gegen die Gewalt erklärte (»unser Weg zum Sozialismus kann nicht mit Leichen gepflastert werden«), an dessen Beginn jedoch einige Sätze standen, die das Land in hellen Aufruhr versetzten: »Meine Reaktion nach dem Abschuss von Buback ist schnell geschildert: Ich konnte und wollte (und will) eine klammheimliche Freude nicht verhehlen. Ich habe diesen Typ oft hetzen hören, ich weiß, was er bei der Verfolgung, Kriminalisierung, Folterung von Linken für eine herausragende Rolle spielte. Wer sich in den letzten Tagen nur einmal genau genug sein Konterfei angesehen hat, der kann erkennen, welche Züge dieser Rechtsstaat trägt. Ehrlich, ich bedaure es ein wenig, dass wir dieses Gesicht nun nicht mehr in das rotschwarze Verbrecheralbum aufnehmen können, das wir nach der Revolution herausgeben werden.« Die Wendung von der klammheimlichen Freude schlug ein wie ein Blitz, und sie spaltete das Land in eine Mehrheit der Empörten und eine Minderheit der Sympathisanten. Es folgte ein bizarrer Kampf um die Frage, ob dieser Text publiziert werden sollte oder dürfte. Eine Gruppe von 42 Professoren erklärte sich zu Herausgebern einer Dokumentation, in der nicht allein der Mescalero-Text abgedruckt war, sondern auch ein Artikel von Rosa Luxemburg aus dem Jahr 1905, der sich mit einem Attentat auf den zaristischen Gouverneur von Moskau befasst. Die Professoren hatten dieser bizarren Zusammenstellung keinen Kommentar beigefügt, und so konnte, wer wollte, zwischen dem »Moskauer Bluthund« (Luxemburg) und dem »Typen« Buback jede beliebige Verbindung herstellen. In einem Interview mit dem Spiegel erklärte einer der Herausgeber, der Jurist Ulrich K. Preuß: »Jede Umwälzung birgt Risiken und erfordert Opfer. Der Unterschied ist, ob man sie nicht verhindern kann oder ob man sie zum Mittel erklärt, das der Zweck heiligt. Und letzteres lehnt Mescalero ab.« Die von der »Umwälzung« geforderten Opfer gab es, aber die Umwälzung fand nicht statt. Und doch herrschten kriegsähnliche Zustände. Die in Stuttgart-Stammheim inhaftierten Terroristen wollten sich als Kriegsgefangene behandelt sehen, und Golo Mann schrieb in der Welt, man befinde sich »in einer grausamen und durchaus neuen Art von Bürgerkrieg«. Wie war es dahin gekommen? Wer alt genug ist, diese Zeit bewusst erlebt zu haben, wird sie den Heutigen kaum erklären können. Mir selber kommen die Sechziger und Siebziger ferner, unverständlicher vor als das alte Rom. Vielleicht deshalb, weil dieses Wirtschaftswunderland BRD nur auf der Oberfläche westlich und modern und demokratisch runderneuert war. Darunter verbargen sich älteste Ängste, übelste Ressentiments. Ein Blick etwa auf die in den Zeiten des Terrors gebaute Architektur offenbart den schieren Horror. Seltsamerweise sind es vor allem die vom Staat errichteten Bauten für Bildung und Kultur. Die im Grundmuster von Basteien errichteten Anlagen haben Betonwehren mit schießschartigen Fenstern, als gälte es, sich gegen einen äußeren Feind zu verschanzen. Aber der Feind saß innen. Wer genau hinsah, konnte ihn erkennen. Er zeigte die Fratze des überwunden geglaubten hässlichen Deutschen. Ansonsten aber hielt man den Architekturbrutalismus für modern, trank Coca-Cola, machte Ferien allmählich auch in den einst von uns bombardierten Landstrichen, fuhr den Ford 17M oder den Opel Rekord, die aussahen wie Frühgeburten amerikanischer Straßenkreuzer. Elvis Presley diente als Soldat in Bad Nauheim, die Beatles spielten in Hamburg, und wir begannen, uns die Haare wachsen zu lassen und Jeans zu tragen. Da hörte der Spaß auf. Es klingt wie ein Witz, dass Fragen der Kleidung und der Frisur Schulen und Elternhäuser zum Erzittern brachten. In seinem Buch Der Baader-Meinhof-Komplex (1985) erzählt Stefan Aust die Geschichte von Petra Schelm. Sie hatte als Friseuse gearbeitet, den Studenten Manfred Grashof kennengelernt und wollte ihn ihrem Vater vorstellen. Der sah den jungen Mann in einem Aufzug, den man damals vergammelt nannte, heute als casual beschreiben würde, und weigerte sich, mit dem auch nur ein Wort zu reden. Dass das Paar im elterlichen Haus übernachten könnte, schied schon deshalb aus, weil es dem noch gültigen Kuppeleiparagrafen widersprach. Petra Schelm ging nach Berlin zurück, schloss sich der RAF an und wurde, als sie sich 1971 in Hamburg Bahrenfeld einer Kontrolle widersetzte, durch die Kugel eines Polizisten tödlich getroffen. Glücklicherweise sind nur wenige, die so von ihren Vätern behandelt wurden, Terroristen geworden. Es gibt da keine zwingende Kausalität. Nichts in der Biografie der Pfarrerstochter Ensslin, nichts im Leben der begabten Journalistin Meinhof deutet hin auf den späteren Absturz in die todbringende Dummheit. 1970 sagte Ulrike Meinhof: »Die Bullen sind Schweine, es ist falsch, mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden.« Da nun kam etwas hoch, was die englische Autorin Jillian Becker in ihrem Buch Hitlers Kinder (1977) zu beschreiben versuchte: die teutonisch unheilvolle Mischung aus fanatischem Moralismus und völlig selbstbezogenem Voluntarismus. Karl-Heinz Bohrer bemerkte in der FAZ dazu, die Terroristen seien zwar nicht Hitlers Kinder, wohl aber »Kinder eines Hasses, einer Angst, einer Hysterie, die von damals stammt und noch immer wie Mehltau auf dem Lande liegt«. So war es, und plötzlich konnte es jeder sehen. Die BRD war nicht nur das Musterland westlicher Demokratie, sie war auch der legitime Abkömmling von Hitlers Deutschland und damit jenes Untertanengeistes, den Heinrich Mann in seinem Roman dargestellt hatte. Jeder Besucher von einem anderen Stern hätte es für wenig wahrscheinlich gehalten, dass sich dieser Ungeist so bald verflüchtigen würde, und er tat es auch nicht. Im Gegenteil, er traute sich nach und nach wieder hervor, wie es Wolfgang Koeppen in seinem Treibhaus (1952) beschrieb. Der Roman handelte von der Wiederkehr der alten Nazis und von der Wiederbewaffnung der neuen Bundesrepublik. Er erntete einen Schwall empörter Verrisse. Die Spiegel-Affäre des Jahres 1962 - Polizisten besetzten und durchsuchten die Redaktionsräume wegen des Verdachts von Landesverrat, Redaktionsmitglieder wurden verhaftet - zeigte dann einen Staat, der sich anschickte, Meinungs- und Pressefreiheit in vertraut totalitärer Tradition niederzudrücken. Das entscheidende Datum war der 2. Juni 1967, als der Schah West-Berlin besuchte und Studenten dagegen demonstrierten. Da brach der dünne Boden demokratischen und rechtsstaatlichen Denkens, polizeistaatlicher Terror schuf sich Bahn. Der arglose Student Benno Ohnesorg gehörte zu jenen, die, ohne dass sie etwas Illegitimes getan hätten, von Polizisten niedergeprügelt wurden. Nach Austs Darstellung lag Ohnesorg schon fast am Boden, als der Polizist Karl-Heinz Kurras ihm aus der Entfernung von kaum einem halben Meter von schräg hinten in den Kopf schoss. Unter den empörten Studenten, die danach im SDS-Zentrum diskutierten, befand sich auch Gudrun Ensslin. Sie schrie: »Dieser faschistische Staat ist darauf aus, uns alle zu töten. Wir müssen Widerstand organisieren, Gewalt kann nur mit Gewalt beantwortet werden. Das ist die Generation von Auschwitz, mit denen kann man nicht argumentieren!« Damit begann die Spaltung zwischen der alten Generation (dem »Establishment«) und der neuen Generation, die sich antiautoritär nannte. Damit waren jene Kampfbegriffe gefallen, die von nun an jedes Gespräch unmöglich machten. Der Faschist war immer der andere. Zur Tragik jener Jahre gehört, dass diejenigen, die den Kampf gegen den von ihnen so genannten Faschismus aufnahmen, ihm selber anheimfielen. Das wurde sichtbar im Antisemitismus der Terroristen, in der unmenschlichen Sprache ihrer Manifeste, in der Bestialität ihrer Anschläge. Bohrer schrieb damals: »Die emotionelle Reaktion gegen Auschwitz führt, wird sie neurotisch, zum gleichen Ende.« Eine schrecklich lange Zeit verbrachten nicht wenige der bundesdeutschen Linken damit, jenen Faschismus, den sie allerorts vermuteten, durch tückische Provokation hervorzulocken, und sie waren insgeheim erfreut, wenn er sich dann zeigte. Allzu oft wurde der Rechtsstaat im Namen eines nicht erklärten Ausnahmezustands in die Knie gezwungen - wohlgemerkt von beiden Seiten. Buback hatte, noch bevor er Generalbundesanwalt wurde, öffentlich behauptet, es sei »standeswidrig«, wenn Anwälte sich zur Verteidigung von Terroristen bereit erklärten. Dieses Land kann sich glücklich schätzen, dass die Schar der Demokraten am Ende groß genug war, seine Abdrift zu verhindern. Zunächst hatten die Ereignisse des 2. Juni dem linken Widerstand eine Welle der Sympathie, ja der tätigen Unterstützung zugeführt. Ich erinnere mich, dass dieses offensichtliche Unrecht meine eher unpolitischen Freunde und mich tief verstörte. Wir betrachteten den Staat und seine Vertreter mit wachsendem Argwohn. Nun begann für nicht wenige der Abstieg in den Untergrund. Die von Zeitungen des Springer-Konzerns auf verantwortungsloseste Weise geschürte Kampagne verschärfte das Ohnmachtsgefühl, und der Freispruch von Kurras entsprach nur noch dem, was man ohnedies erwartete. Als der friedliebende Adorno in seiner Ästhetik-Vorlesung im Sommersemester 1968 von einem Zettel seine in unseren Ohren überaus matt klingende Protestnote gegen den Kurras-Freispruch ablas, fühlten wir uns von allen guten Geistern verlassen. Eine Allensbach-Umfrage, erhoben nach dem Tod Petra Schelms, ergab, dass jeder vierte Bundesbürger unter dreißig der RAF »gewisse Sympathien« entgegenbrachte. Jetzt eskalierte das Wechselspiel der Verdächtigungen. Polizisten hießen nur noch »Bullen« oder »Schweine«, Studenten nur noch »Chaoten« oder »Kommunisten«. Der Höhepunkt war erreicht, als eine nennenswerte Anzahl Stuttgarter Bürger den in Stammheim durch Suizid zu Tode gekommenen Häftlingen eine Beerdigung verweigern wollte. Vor allem in ihren Anfängen bestimmte die RAF den politisch-intellektuellen Diskurs. Er ideologisierte und verschärfte sich immer mehr. Auch der Nobelpreisträger Heinrich Böll nahm daran teil, mit seinem immer noch lesenswerten Roman Die verlorene Ehre der Katharina Blum und jenem Aufsatz, in dem er »freies Geleit für Ulrike Meinhof« forderte (1972). Davor hatte Alfred Andersch das absichtsvoll skandalisierende Gedicht Artikel3(3) publiziert, in dem es hieß: »ein volk von / ex nazis / und ihren / mitläufern / betreibt schon wieder / seinen lieblingssport / die hetzjagd auf / kommunisten / sozialisten / humanisten/ dissidenten / linke.« Der Schluss des erbärmlich sprachlosen Gedichts lautete: »das neue kz / ist schon errichtet / ein geruch breitet sich aus / der geruch einer maschine / die gas erzeugt.« So leichtfertig hat man damals gedacht und geschrieben, aber nun war die Lage ernst. Sie wurde bis zum »deutschen Herbst« 1977 immer ernster, bis auch der bornierteste Zeitgenosse begriff, welche mörderischen, zerstörerischen Folgen die Praxis der RAF hatte. Die späteren Terroristen, die entsetzlichen Techniker des Terrors, hatten nie die Aura der Gründerfiguren. Ulrike Meinhof aber, die heilige Johanna der Entrechteten, ist bis heute, gerade unter den Jüngeren, eine legendäre Figur - ganz unabhängig davon, ob sie je dem überlieferten Bild entsprach. Die unterschiedlichsten Projektionen zieht sie auf sich: Die Reinheitsfantasien der Unpolitischen, die das Spiel der Interessen für schmutzig halten; die Robin-Hood-hafte Unbedingtheit der Moralisten, denen Ungleichheit unerträglich ist; die romantische Lust auf die große, die außerordentliche Tat. Ulrike Meinhof verkörpert aber auch jene unschuldige und achtenswerte Tugend, die, bevor der Zynismus oder Realismus des Alters sie aufzehrt, das Vorrecht der Jugend ist: ein geradezu heiliges Gerechtigkeitsbedürfnis. Es sucht sich seinen Empörungsgrund. Empörungsgrund war damals der Krieg in Vietnam. Seither hat es einige nicht minder grausame, nicht minder ungerechte Kriege gegeben. Die soziale Lage hierzulande war damals, verglichen mit der jetzigen, komfortabel. Die Unternehmer wollten noch fürs Ganze verantwortlich sein, die Öffentlichkeit betrachtete Armut noch als ein öffentliches Problem. Die Gründe der Kritik haben also eher zugenommen. Aber wenn man heute mit Studenten redet, fällt ihr zuweilen bis ins Kritiklose gehender Pragmatismus auf. Dies scheint beruhigend, weil »Umwälzung«, die Opfer »erfordert« (um ein letztes Mal mit Ulrich K. Preuß zu reden), einstweilen nicht ansteht. Aber wir sollten uns nicht darauf verlassen. Mag auch die Oberfläche der Verhältnisse entspannt wirken - wir wissen selten, was sich darunter verbirgt. Die Jahre des Terrors haben es in Erinnerung gebracht. DIE ZEIT, 22.03.2007 Nr. 13 blog comments powered by Disqus |