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Eckhard Nordhofen

Beleuchtung des schwarzen Lochs

Heilsgeschichte als Unheilsgeschichte: Über die Versuche, Auschwitz theologisch zu deuten

Schwarze Löcher, so lehren Astronomen, entwickeln eine solche Anziehung, daß selbst das Licht in ihnen verschwindet. Auschwitz ist das schwarze Loch der Geschichte, das wie jene Gebilde der höchsten Verdichtung mit der Gravitation des Wahnsinns alles Begreifen in sich einsaugen soll. Und wir hängen, neue Gefährten des Sisyphos, unter dem Fluch, immer wieder verstehen zu wollen. Elie Wiesel soll es inzwischen bereuen, daß er den Begriff "Holocaust" für den industrialisierten Mord in Umlauf gebracht hat. Hat er gewußt, daß "Holocaust" eine Übersetzung für "Endlösung" ist?

Die heilsgeschichtlichen Spekulationen der jüdischen Opfertheologie korrespondieren, wie wir auf einmal merken, auf bizarre Weise dem Konzept der Mörder. Soeben werden die Gedanken Rene Girards über den Zusammenhang von Religion und Gewalt in Deutschland bekannt. Im Lichte dieser bedeutendsten theoretischen Inspiration der letzten Jahre gewinnt das Bild an Kontur. Hitler sah sich in seinem paranoiden Narzißmus als der von der Vorsehung bestimmte Gründer eines neuen "tausendjährigen Reiches". Er fühlte sich als Gegenmessias, der die alten heilsgeschichtlichen Konkurrenten, vor allem das alte Volk der Erwählung, beseitigen mußte. Und zwar durch das "Ganzopfer" (Holocaust) der "Endlösung".

Das klassische Griechisch kennt nur das Verb holokauteo (etwa Xenophon in der Anabasis). Die Substantivierung taucht in der Septuaginta, der Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische, auf. Holokautos oder Holokaustos bezeichnet im Unterschied zu anderen Weisen des Opferns, bei denen nur Teile verbrannt werden, das Brandopfer, bei dem das ganze Tier (holos = ganz) verbrannt wird. Die hebräische Originalvokabel ist Olah.

Auch "Endlösung" ist ein endgültiger, das Ganze betreffender, ein holistischer Begriff. Das auratische Wort aus dem Lager der Opfer und der Trauernden, ein Wort aus der heiligen Thora, spiegelt sich verzerrt im Willen der Täter. Für das deutsche Sprachgebiet läßt sich "Holocaust" ziemlich genau auf die Zeit nach der Fernsehserie datieren, die diesen Titel trug. Vorher sagte man "Auschwitz", also einfach den Namen des größten Vernichtungslagers. Das bekannteste Beispiel für diesen Sprachgebrauch ist wohl Adornos Diktum, demzufolge "nach Auschwitz" keine Gedichte sollten mehr geschrieben werden können. Aber auch dieses Diktum zielt auf einen qualitativen Riß in der Weh, eine metaphysische, vielleicht auch schon theologische Umkehrung des Vorzeichens vor dem Ganzen der Welt: "Das Ganze ist das Unwahre" heißt der andere Satz Adornos, der in die nächste Nachbarschaft gehört.

Die Theologisierung von "Auschwitz" kann nicht eigentlich überraschen. Schon oft, vielleicht sogar regelmäßig, ziehen große Katastrophen dergleichen Sinnfragen nach sich. Das Erdbeben von Lissabon erledigte Leibnizens Vorschlag, das Böse zu verrechnen. In "der besten aller möglichen Welten" hatte das Böse eine heilsgeschichtlich notwendige Funktion. Wir wissen zwar nicht genau, welche, aber Gott weiß sie, und Leibniz "wußte", daß Gott sie weiß.

Theodizee, die Idee vom moralischen Mechanismus der ganzen Welt, wanderte ins Museum der Geistesgeschichte. Der Theodizee zufolge sind Übel, die Gott zuläßt, um seinen Heilsplan exekutieren zu lassen, gleichsam erzieherische Maßnahmen, notwendige Strafen, die die Menschen bessern oder warnen sollen. Der sinnlose und vor allem gleichmäßige Tod einer Bevölkerung konnte nun erstens diese selbst nicht mehr erziehen oder bessern, und zweitens ließ er sich auch pädagogisch nicht verwerten. Das lag an seiner Gleichmäßigkeit. Wenn Gute und Böse, Greise und Kinder unterschiedslos starben, dann zeigte der Finger Gottes auf keinen bestimmten Punkt und machte so eine heilsgeschichtliche und moralwirtschaftliche Verrechnung unmöglich.

In Heinrich von Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili ist das anders. Hier weiß der eifernde und fanatische Prediger auf der Kanzel des Domes von St.Jago genau, wodurch das Erdbeben ausgelöst worden ist. Er zeigt mit dem Finger auf das Liebespaar, dessen Liebe für ihn Sünde ist, und zwar genau die Sünde, die das Erdbeben ausgelöst hat: Daß der pädagogische und theologische Mehrwert, den er einstreicht, erschlichen ist, soll uns, so will es der Autor Kleist, empören. Hier hat einer das Böse zum Instrument seiner Interessen gemacht.

Denken wir an Elifas von Teman, Bildad und Zofar, die Freunde Hiobs, welche die Formel anwenden: Wohlergehen entspricht Wohlverhalten, eine Art ethischer Weltformel, die in der Umkehrung ergibt: Leid und Krankheit entsprechen der Sünde. So können sie Hiobs Moral berechnen, und darin gerade besteht ihre Schuld. So will es der Autor des Buches Hiob, so will es die ganze jüdische Aufklärung. Man kann sagen, daß in der Zurückweisung des Gotteskalküls die monotheistische Revolution besteht. Gerade nicht die Ausrufung und Zuweisung von Gut und Böse auf bestimmte Ereignisse in der Welt sind das Geschäft des wahrhaft Frommen. Die jüdische Aufklärung hat ihre Pointe exakt in der Kritik an dieser Erschleichung, in der Erkenntnis, daß der Gotteskalkül selbstgemacht ist. Wenn Gott der Allwissende ist, dann weiß, wer an ihn glaubt, daß er nicht weiß. Die jüdische Aufklärung artikuliert sich in der Kritik an den vielen selbstgemachten Göttern. Dabei hatte der Polytheismus eine funktional außerordentlich befriedigende Theologie, denn er hatte, wie für alle Bedürfnisse, so auch für jede Wendung des Schicksals eine himmlische Adresse. Es gibt gute Götter und böse Götter. So können die irdischen Verhältnisse projiziert werden. Der Gott des Monotheismus dagegen zeigt sich nur im Widerspruch, in der Negation, dort wo der Kalkül aufhört. Das Bilderverbot gilt nicht nur für Skulpturen. Auch Elifas von Teman hält Hiob einen selbstgemachten, selbstkalkulierten Gott vor die Nase.

Alle Offenbarungsgeschichten des Alten Testaments haben dieses bestreitende Moment von Weltlosigkeit. Monotheistische Theologie ist negative Theologie. Nun springt sofort ins Auge, daß der Judenmord keine Naturkatastrophe ist, daß er vielmehr vom Menschen geplant, organisiert und mit der Tüchtigkeit und Ordnungsliebe deutscher Beamten exekutiert worden ist. Holocaust heißt der Aufsatz, den der Harvard-Philosoph Robert Nozick über dieses Geschehen geschrieben hat. "Ich glaube, daß der Holocaust ein Ereignis wie der Sündenfall ist, wie ihn das traditionelle Christentum auffaßte, etwas, das die Situation und den Status der Menschheit radikal und drastisch ändert. Ich selbst glaube nicht, daß es tatsächlich jenes Ereignis von Eden gegeben hat, seit dem der Mensch in Erbsünde geboren ist, aber etwas Ähnliches ist jetzt geschehen. Die Menschheit ist gefallen." Etwas später dann der Satz: "Die Menschheit hat ihren Anspruch auf Fortbestehen verloren." Dann führt Nozick eine eindrucksvolle und erschütternde Liste von Völkermord und Greuel der Geschichte auf, um am Ende dieser Schrecken zu formulieren: "Was geschehen ist, ist vielleicht, daß der Holocaust die Situation besiegelt und klar vor Augen geführt hat."

Nozick macht den Holocaust zur Inversion der Erlösung. "Die christliche Theologie hat die Auffassung vertreten, daß es in der Situation der Menschheit zwei einschneidende Verwandlungen gegeben hat, zuerst den Sündenfall und dann die Kreuzigung und Auferstehung Christi, der die Menschheit erlöste und ihr einen Weg aus dem gefallenen Stand heraus wies. Ganz gleich, welche verwandelte Situation oder Möglichkeit die Kreuzigung und Auferstehung herbeiführen sollte, sie ist zu Ende; der Holocaust hat die Tür geschlossen, die Christus geöffnet hatte."

Nach dem Kollaps des Marxismus hatte es für einen Moment geschienen, als sei alle Abbildung der realen Geschichte auf ein heilsgeschichtliches Muster, wie sie Karl Löwith in seinem Buch "Weltgeschichte und Heilsgeschehen" klassisch herausgestellt und als Grundfigur einer erschleichenden Theologie und Philosophie sichtbar gemacht hat, passe. Aber just im Jahr der Wende 1989 erschien der Aufsatz Holocaust.

Indem Nozick dem Holocaust die Position einer Inkarnation des Bösen verleiht, bringt er den Fixpunkt für seine neue heils-, nein, diesmal unheilsgeschichtliche Koordinate in Position. So wie die Fleischwerdung des Messias den Weltlauf gewendet hatte, so nun der Holocaust - andersherum. Die Nische einer innerweltlichen Heilsgeschichte hatte der Marxismus gerade geräumt. Die Theologisierung von Auschwitz könnte die nun freigesetzten und umherirrenden Bedürfnisse nach Weltverstehen bedienen. Der Holocaust ist die Inkarnation des Bösen, die der Kipp-Symmetrie Nozicks zufolge dem Ganzen der Geschichte eine neue, diesmal böse Qualität verleiht. Nozick bietet ein Gedankenexperiment auf, das eine quasigöttliche Perspektive einnimmt, den Blick von außerhalb der Geschichte: "Die Menschheit hat sich entweiht. Wenn ein Wesen aus einer anderen Galaxie unsere Geschichte läse, mit allem, was sie enthält, und diese Geschichte dann in Vernichtung zu Ende ginge, würde das die Geschichte nicht zu einem befriedigenden Abschluß bringen, wie ein Akkord, der aufgelöst wird?"

Ein "Akkord, der aufgelöst wird", eine Rechnung, die aufgeht, das ist der tiefsitzende Wunsch unserer heils- oder unheilsgeschichtlichen Allmachtsphantasien. Wissen ist Macht, alles verstehen, alles wissen heißt alles beherrschen können. Wenn wir uns vergegenwärtigen, wodurch der Gotteskalkül Leibnizens unglaubwürdig geworden war, so war es die fehlende pädagogische Verrechenbarkeit von Lissabon. Das Böse war, anders als beim Erdbeben in Chili, nicht dingfest zu machen, nicht zurechenbar. Bei Nozick, der uns die Inversion der Theodizee bietet, sieht das anders aus. Diesmal sind die Urheber der Untat nur zu bekannt. Hitler, die Nazis, die Deutschen: "Wie ein Verwandter, der einer Familie Schande macht, haben die Deutschen, unsere menschlichen Verwandten, uns allen Schande gemacht. Sie haben unseren gesamten Ruf ruiniert, nicht als Individuen. Sie haben das Ansehen der gesamten menschlichen Familie ruiniert. Auch wenn wir nicht alle verantwortlich sind für das, was diejenigen taten, die handelten und zusahen, sind wir alle befleckt."

Diesmal ist die Schuld zurechenbar und pädagogisch verwertbar. Diese Verwertung macht den letzten Teil von Nozicks Aufsatz aus. Bis in Details wird die christliche Kreuzestheologie übertragen: Überall, wo ein Christ Leid sieht oder erfährt, kann er dieses Leid traditionell als "sein Kreuz" auffassen. Die Identifikation Jesu mit der leidenden Menschheit erlaubt dieser, überall und wo immer sie leidet, das Kreuz Christi gegenwärtig zu setzen. Bei Nozick heißt es entsprechend, daß "von nun an jedes menschliche Leiden an jedem Orte auch als Teil dieses Holocausts gesehen und empfunden werden" muß.

Auch Hitler hatte vor, den Deutschen den prominentesten Platz in seiner Heilsgeschichte zuzuweisen. Wir wissen heute vor allem durch die Analysen von Sebastian Haffner, der die Erinnerungen von Hitlers Adjutanten Nikolaus von Below ausgewertet hat, in denen die Tischgespräche der letzten Phase dokumentiert sind, und wir wissen auch durch Hans Blumenbergs philosophische Deutung Lebenszeit und Weltzeit, daß es Hitler gewesen ist, der die Grundfiguration der antimessianischen Gegenbesetzung erfunden und in Szene gesetzt hat. Bei Hans Blumenberg wird die Aufblähung des menschlichen Zeitbewußtseins zur Heilsgeschichte als pathologische Verzerrung sichtbar gemacht. Hitler ist für ihn der dramatische Beispielfall dieser Krankheit, die man eschatologische Ungeduld nennen könnte: "Im Grenzfall der Paranoia wird das eine und einzige Leben, das einer hat, zur Bedingung für die Verwirklichung geschichtlicher und persönlicher Sinngebung, so daß er die Verfehlung seines Lebenszieles zu der des Weltsinnes machen kann."

Blumenberg nennt das im Anschluß an Freud "absoluten Narzißmus". Blumenberg folgt Haffners These, daß Hitler seinen politischen Zeitplan unter seine persönliche Lebenserwartung untergeordnet habe. Daraus habe sich der Zwang zu einer ungeheuren Beschleunigung ergeben: Krieg! Haffner: "Im Kriege war Hitler politisch glücklich." Hitlers absoluter Narzißmus ist die Quelle für sein messianisches, genauer antimessianisches Selbstbewußtsein. Nehmen wir das griechische "anti" in seiner genialen Doppelbedeutung, nämlich zum einen im Sinne von "anstatt" und zweitens im Sinne von "dagegen", dann haben wir den entscheidenden Punkt erfaßt. Der Anspruch, von der "Vorsehung" erwählt worden zu sein, der Heilsbringer und Gründer eines "tausendjährigen Reiches", also ein anderer, ein Anti-Messias zu sein, war nicht verträglich mit der schon vorhandenen Tradition der Erwählung. Der Neid des nicht Erwählten auf das auserwählte Volk und der Versuch, sich selbst in die Position der Erwählung zu versetzen, sind eine Hauptquelle des Antisemitismus. Erwählungsneid führt zum Plan, den Konkurrenten zu vernichten.

In gewisser Weise übernimmt Nozick diese Figuration in seiner Inversion der Heilsgeschichte zur Unheilsgeschichte. Wie bei Hitler haben die Deutschen den prominentesten Platz. Ja, Nozick geht noch weiter als Hitler, indem er die Kollektivschuld der Deutschen zur Kollektivschuld der Menschheit verlängert. Am deutschen Unwesen geht die Welt zugrunde. Sie hätte es jedenfalls verdient. Das heilsgeschichtliche Denkmuster hatte Hitler der jüdisch-christlichen Tradition entlehnt, aber nur als formale Struktur verwendet. Die ethischen Inhalte des Christentums werden als schwächlich beiseite, gesetzt und bekämpft. Vom Christentum blieb nur das leere Schema der "Vorsehung" übrig. Ausschließlich die Ideen von einem vorbestimmten Weltlauf, einem "Auftrag der Geschichte" und von seiner persönlichen providentiellen Bestimmung hielt Hitler fest.

Beeindruckt von Nietzsches Polemik gegen das Christentum als einer Religion, die von schlauen Schwachen erfunden wurde, um die Starken daran zu hindern, stark zu sein, und unter dem Eindruck eines trivialen Sozialdarwinismus, entledigte sich dieser neue Erwählungsglaube aller moralischen Fesseln. Aus einer Heilsgeschichte der Nächstenliebe wurde eine Heilsgeschichte der Macht mit einer bezeichnenden Vorliebe für den Kult des Todes. Die SS war der "Orden unter dem Totenkopf". Das größte Ereignis organisierter und technisch optimierter Gewalt, das die Geschichte der Menschheit kennt, muß als die Ausgeburt pervertierter Religion gelesen werden. Daher müssen alle Hinweise außerordentlich willkommen sein, die den Zusammenhang von Religion und Gewalt beleuchten.

Den aufregendsten und irritierend erklärungskräftigen Vorschlag macht nun Rene Girard in seinem Buch Das Heilige und die Gewalt. Girard, der sich mit dem Nationalsozialismus bisher direkt überhaupt nicht beschäftigt hat, ermöglicht eine theoretische Annäherung, die den Judenmord in ein ungewohntes Licht stellt. Wir können in seinem Sinne den Massenmord an den europäischen Juden, den größten Gewaltausbruch der Geschichte, als den Versuch lesen, den Gründungsakt für das providentiell konzipierte "tausendjährige Reich" zu setzen.

Eine zentrale Rolle spielt für Girard der Sündenbock. Im 16. Kapitel des Buches Leviticus, dem dritten Buch der Thora, findet sich der Ritus, bei dem der "Bock für Asasel", den Wüstendämon, alle Sünden des Volkes aufgeladen bekommt und dann in die Wüste, in den Tod gejagt wird. Das Böse bekommt Beine und läßt das Volk als eine Gemeinschaft der Guten zurück. Girard hat in vielen literarischen und ethnographischen Dokumenten quer durch die Zeiten Parallelen für diesen Mechanismus gefunden. Der Ausbruch kollektiver Gewalt gegen das schwache Opfer erzeugt den zweifelhaften sozialen Kitt für das Kollektiv. Nicht durch einen Gesellschaftsvertrag, wie die Theorien der älteren Aufklärung meinten, sondern durch eine atavistische böse Tat, die gleichzeitig das Böse bannen und beseitigen soll, konstituierten sich Gesellschaften. Gemeinheit macht Gemeinschaft: Mord. Die Aggression gegen das Opfer zeigt allen, daß sie zusammengehören. Sie jagt die Gewalt hinaus aus dem, was fortan zusammengehört. Darin besteht ihre soziale Funktion. Denn indem er die Gewalt mit dem Sündenbock in die Wüste laufen läßt, weg von den Wohnungen des Volkes, sorgt dieser Akt für Frieden zwischen den Hütten.

Der Mord zur Gründung von Gemeinschaft, ein dunkles Erbe aus der Zeit, als wir gattungsgeschichtlich noch Schwärme oder Horden waren, trifft hart auf einen rosaroten Humanismus der Geschwisterlichkeit aus Einsicht und guter Gesinnung.Wer tritt schon gerne eine anrüchige Erbschaft an? Nur dann aber, wenn gerade das bewußt geschieht, kann der unheilvolle Kollektivmechanismus besiegt werden. Was das dunkle Rumoren aus den Tiefen der Gattungsgeschichte anrichten kann, zeigt das Holocaust-Denken Hitlers und seiner Schergen vom Wannsee, welche die "Endlösung" organisierten.

In der jüdischen und christlichen Aufklärung war für Girard die unheilvolle Allianz von Religion und Gewalt schon einmal überwunden. Die Einsicht in die Funktion des Opfers, seine Entmystifizierung, bedeutet zwangsläufig seine Abschaffung. Es kommt also darauf an, den Zusammenhang von Religion und Gewalt zu erkennen, um ihn aufheben zu können. Diese Erkenntnis mag für den Friedensfreund höchst unsympathisch sein. Aber erst sie schafft den Abstand vom Mechanismus der Gründungsgewalt. Nur wer ihn scharf ins Auge faßt, wird ihn los. Die Zwangsläufigkeit des Sündenbock-Musters kann aufgehoben werden. Schon die allgemeine Kritik der alttestamentlichen Propheten am Opfer von Böcken und Stieren erzeugt Distanz. Jesajas Lied vom leidenden Gottesknecht bereitet die große Überwindung vor. Aus dem Sündenbock hat dann das Christentum das "Lamm Gottes" gemacht, indem es Jesus die Tradition des Pascha-Lammes aufgreifen läßt, dessen Blut fließt, damit das Gottesvolk am Leben bleibt.

Der Gott, der die Rolle des Opferlammes selbst übernimmt, schließt die Polarität von Täter und Opfer kurz und vernichtet die destruktive Energie. In dieser Tat wäre nach Girard der ursprüngliche Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt transformiert, im Symbol von Mord und Auferstehung aufgehoben. Damit ist auch die dumpfe Symbiose von Religion und Gewalt verschwunden.

Girards Theorie kann ein Licht auf den Genozid von Auschwitz werfen: Hitlers Abschied vom Christentum restituiert das alte Sündenbock-Muster im großen Stil. Er gründet die Religion der Gewalt. Der "größte Führer aller Zeiten", wie einer der messianischen Hoheitstitel Hitlers lautete, organisierte den größten Mord aller Zeiten als Gründungsakt seines "tausendjährigen Reiches". Die "Endlösung" war gemeint als Ganzopfer und Gründungsmord, als "Holocaust". Da Hitler vom Christentum nur das leere heilsgeschichtliche Schema und die Messiasrolle für sich selbst übernimmt, gibt er die Überwindung der Gründungsgewalt durch die spätjüdische und christliche Theologie preis und löst den größten Gewaltausbruch der Geschichte aus.

Wer heute Auschwitz theologisiert, muß aufpassen, daß er nicht, ohne es zu merken oder gar zu wollen, der Naziideologie einen versteckten Sieg verschafft. Denn hätten wir nicht NS-Ideologie transportiert, wenn wir den Judenmord als heilsgeschichtlichen Gründungsakt semantisch akzeptierten, wenn dieser auch, wie bei Nozick, ein unheilsgeschichtlicher Gründungsakt wäre? Diese Theologisierung von Auschwitz, die sich im Begriff "Holocaust" niederschlägt, übernimmt die Naziideologie unter umgekehrten Vorzeichen.

Das sachliche Recht, den Nazis diesen versteckten Sieg zu entwinden, ziehe ich aus der jüdischen Aufklärung, die Nozick von Anfang an mißversteht. Am Anfang seiner Betrachtungen stellt er eher beiläufig fest, was er für die Aufgabe der Theologie hält: "Der Holocaust stellt ein spezielles Problem für die jüdische Theologie dar, die die Handlungen Gottes zu verstehen versucht, aber er beeinflußt, glaube ich, auch die christliche Theologie in radikaler Weise." Die Aufgabe der Theologie wäre also, "die Handlungen Gottes zu verstehen". Diese Formulierung muß man einmal unter die Lupe legen. Zweifellos ist das, was der Prediger im Dom von St.Jago unternimmt, ein Versuch, ja mehr als nur ein Versuch, die Handlungen Gottes zu verstehen. Aber ist das wirklich die Aufgabe der Theologie, bestimmte Begebenheiten als Taten Gottes auszuweisen? Theologie, jedenfalls die Theologie in der Tradition der jüdischen Gottesrede, konstituiert sich geradezu aus dem Verzicht, sich den Gott, sei es als Goldenes Kalb oder als Welterklärung, selbst zu machen.

Erschienen in der ZEIT vom 3.3.1995

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