Home - Autoren der Gegenwart - andere Sprachen - Paul Auster - Amerika ist ein erfundener Ort
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Ulrich Greiner Amerika ist ein erfundener Ort Die folgende Begegnung mit Paul Auster fand im September 1995 in Brooklyn statt. Die Passage ist ein Ausschnitt aus meinem inzwischen vergriffenen Buch "Gelobtes Land - Amerikanische Schriftsteller über Amerika" (Rowohlt 1997). - Im Gespräch taucht gelegentlich der Begriff "affirmative action" auf. Siehe dazu diese Erläuterung.
Sonntage haben auch in New York etwas Sonntägliches. Die Straßen sind still und leer, und im Prospect Park, Brooklyn, joggen die Jogger, sitzen die Mütter im Kreis um ihre spielenden Kinder, wirbeln Football-Spieler den Staub des vertrockneten Rasens auf, und überall sieht man die Farben und Rassen friedlich gemischt. Nahebei, in Park Slope, einem reinlichen Viertel alter, von schönen Bäumen gesäumter Stadtvillen, wohnt der Schriftsteller Paul Auster. Der Herbsttag ist warm und sonnig, wir sitzen in dem kleinen schattigen Garten hinterm Haus, wo weißer Kies unter der Sohle knirscht und der Nachbar mit schepperndem Besen den Hof fegt. Ab und zu startet ein Flugzeug von La Guardia mitten ins Gespräch. Paul Auster, 1947 in Newark/New Jersey als Nachkomme eingewanderter österreichischer Juden geboren, ist ein schlanker, hochgewachsener Mann mit dunklem Haar und dunklen Augen. Der anfangs düstere, in sich gekehrte Eindruck weicht im Gespräch, während dem er, wie alle Porträts berichten, in der Tat stetig seine dunklen Zigarillos raucht, rasch einer auf den Zuhörer konzentrierten, gelösten Lebendigkeit. Auster wurde mit seiner New-York-Trilogie, die zunächst von siebzehn Verlagen abgelehnt worden war, Mitte der achtziger Jahre bekannt. 1987 erschien der Roman Im Land der letzten Dinge, 1989 Mond über Manhattan, 1990 Die Musik des Zufalls, 1993 Leviathan und 1995 Mr.Vertigo. Auster ist verheiratet mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt. Ich erzähle Auster von meinem Projekt: Ich möchte mit amerikanischen Schriftstellern über ihr Verhältnis zur Politik reden. Schriftsteller, so glaube ich, denken in besonderer Weise nach über die Gesellschaft, in der sie leben. Indem sie Bücher, Romane darüber schreiben, sagen sie etwas über die Lage des Landes, was anders nicht gesagt werden könnte und so noch nicht gesagt worden ist. Hält Auster das für eine verrückte Idee? "Ich glaube nicht, daß sie verrückt ist, aber das Ganze scheint mir ziemlich vorhersehbar. Ich könnte vorhersagen, was die meisten antworten. Aber die deutschen Leser wissen das natürlich nicht, insofern könnte es interessant sein. Sie sollten mit Norman Mailer sprechen, der ist politisch immer sehr aktiv gewesen. Wahrscheinlich sollten Sie auch mit rechten Schriftstellern reden. Es müßte eigentlich welche geben, obwohl mir jetzt gerade keiner einfällt. Saul Bellow vielleicht, aber der ist eigentlich nicht rechts, obwohl er auf seine alten Tage ganz schön konservativ geworden ist." Es sollte mir noch häufiger begegnen, daß meine Gesprächspartner, die sich immer als liberal oder links einstuften und fast immer mit den Demokraten sympathisierten, mir den Rat gaben, auch mit Rechten zu reden, aber auf Anfrage nie jemanden wußten. In der Tat gibt es so gut wie keine dezidiert rechten Schriftsteller, wenn man den Begriff Schriftsteller strikt literarisch versteht. Natürlich scharen sich viele rechtskonservative Intellektuelle um Zeitschriften wie Commentary, National Review oder Public Interest, aber es sind in der Regel keine Autoren, die sich als Romanciers oder Lyriker einen Namen gemacht hätten. Eine kuriose und zugleich überaus erfolgreiche Ausnahme war die 1905 in St. Petersburg geborene und 1982 in New York gestorbene Schriftstellerin Ayn Rand, die in ihren millionenfach verkauften Romanen das Hohelied des Kapitalismus sang und die das absolute Recht des tatkräftigen Individuums auf die von keinem Staat und keinem sozialen Gebot einzuschränkende Verwirklichung des Selbst verteidigte. In einem neueren Kompendium, American Diversity, American Identity - The Lives and Works of 145 Writers Who Define the American Experience, wird sie bezeichnenderweise überhaupt nicht erwähnt. Gibt es denn, so frage ich Auster, eine Gemeinschaftlichkeit der Schriftsteller, gibt es politische Verbindungen untereinander? "Durchaus. Nehmen wir zum Beispiel den Fall von Abu-Jamal, von dem Sie vielleicht gehört haben, ein Kämpfer für die Rechte der Schwarzen, der ursprünglich im August hingerichtet werden sollte. Es gab Proteste auf der ganzen Welt, der amerikanische PEN schloß sich den Protesten an und gab eine Pressekonferenz, zu der ich eingeladen war. Die Hinrichtung hat glücklichweise nicht stattgefunden, und ich glaube, wir haben ein bißchen dazu mitgeholfen. Das ist ein Beispiel dafür, daß die Schriftsteller hier, wenn es ernst wird, gemeinsam etwas tun." Von Mumia Abu-Jamal hatte ich nur eine ungefähre Vorstellung, und als ich später Genaueres nachlas, ergab sich folgende Geschichte: Am 9. Dezember 1981 war der Polizist Daniel Faulkner an einer Straßenkreuzung in Philadelphia von fünf Kugeln getötet worden. Faulkner hatte einen PKW angehalten und mit dem Fahrer, einem jungen Schwarzen, der, wie sich zeigte, Abu-Jamals Bruder war, Streit bekommen. In diesem Augenblick kam Abu-Jamal, der als Reporter für einen Schwarzen-Sender arbeitete und nebenbei Taxi fuhr, vorbei. Er habe, so befand später die Jury, Faulkner erschossen. Abu-Jamal wurde zum Tode verurteilt, das Urteil sollte im Sommer 1995 vollstreckt werden. Bald wurde dem Richter und der Jury Rassismus vorgeworfen, und es wurde Kritik am Verfahren laut. Die weiße Gerichtsbarkeit habe in der von Rassengegensätzen zerrissenen Stadt Rache an einem Mitglied der Black-Panther-Bewegung nehmen wollen. Schriftsteller und Journalisten aus vielen Ländern engagierten sich mit Petitionen und Protesten, darunter auch der amerikanische PEN. Der deutsche Journalist Burkhard Müller-Ulrich hat in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung (16. März 1996) die These aufgestellt, im Fall Abu-Jamal sei eine internationale linke "Wohltäter-Schickeria" einer "Empörungslogik" gefolgt, die eine ernsthafte Erörterung der Tatsachen gar nicht mehr zulasse. Es gebe keine vernünftigen Zweifel an Abu-Jamals Schuld. Als ich wenige Tage nach dem Gespräch mit Auster seinen Kollegen E.L.Doctorow aufsuchte, äußerte auch der sich zu dem Fall und schien von Abu-Jamals Unschuld völlig überzeugt. Ich frage Auster nach der unterschiedlichen Situation der Schriftsteller in den USA und Europa. "Der Unterschied besteht darin, daß sie dort weit mehr geachtet werden. Schriftsteller zu sein wird in Europa als etwas Bedeutungsvolles betrachtet, einem Schriftsteller bringt man per se Achtung entgegen. Hier ist das keineswegs der Fall. Deshalb werden Schriftsteller in Europa zu wichtigen öffentlichen Dingen um ihre Meinung gefragt. Hier würde sich niemand darum scheren." Bedauert Auster das? "Nicht sonderlich. Es gibt die Vorstellung (die übrigens nie richtig diskutiert wird), daß die wichtigen Schriftsteller von möglichst vielen, von möglichst allen gelesen werden sollten. Aber wenn wir an die Geschichte denken: Literatur ist nie ein Massenphänomen gewesen. Was glauben Sie, wieviele Menschen Paradise Lost von Milton gelesen haben, als das Buch herauskam? Zwei- oder dreihundert, viel mehr können es nicht gewesen sein. Die Idee, daß jeder, weil wir in einer Demokratie und einer Massenkultur leben, qualitativ gute Literatur lesen sollte, ist einfach ein Irrtum. Es kommt hinzu, daß die meisten Amerikaner ihre Schriftsteller überhaupt nicht kennen. Ich denke schon, daß die meisten gebildeten Deutschen, wenn sie in einer Zeitung den Namen Günter Grass oder Peter Handke erwähnt finden, eine ungefähre Vorstellung haben, wer das ist. Sie verbinden etwas mit solchen Namen, während in Amerika, von zwei, drei Berühmtheiten abgesehen, keiner wüßte, wovon die Rede ist. Das liegt auch daran, daß das Land so groß, so dezentralisiert ist. Das literarische Leben Frankreichs spielt sich in Paris ab, das von England in London. Es gibt in diesen Ländern so etwas wie nationale Kommunikationsinstanzen, wozu auch die Radio- und Fernsehanstalten gehören und natürlich die überregionalen Zeitungen. Wir haben zwar riesige Fernsehsender, aber die sind derart miserabel, daß Kultur darin keine Rolle spielt. Und die einzige intelligente Zeitung von einiger Verbreitung ist die New York Times, die aber außerhalb der Stadt nur von wenigen gelesen wird. Das führt dazu, daß man in den Vereinigten Staaten als Romancier oder Lyriker wie von selbst marginalisiert wird, man führt ein verborgenes Leben im Schatten dessen, was wirklich zählt: Big Hollywood, Big Rock'n Roll, Big Business, und der Rest wird weithin ignoriert. Der andere große Unterschied zu Europa: Das einzige, was die Leute hier wirklich interessiert, ist Geld. Und das färbt natürlich auf alles ab, was mit Kultur zu tun hat. So wird ein Magazin oder eine Zeitung über einen Schriftsteller nicht deshalb eine Geschichte veröffentlichen, weil man glaubt, es sei ein guter Schriftsteller, denn davon hat sowieso keiner eine Ahnung, keiner hat ein Urteil. Aber wenn ein Romancier aus irgendeinem Grund 200.000 Auflage erreicht und eine Million Dollar kassiert, dann ist das eine Nachricht, und dann machen sie einen Bericht. In Deutschland hingegen sind das nicht die Kriterien der Berichterstattung. Da gibt es Reporter und Kritiker, die sagen einfach, ich finde den Autor X oder Y gut, über den möchte ich gerne was machen, und der zuständige Redakteur sagt, einverstanden - selbst dann, wenn der betreffende Autor nur zehn Exemplare seines Buchs verkauft hat." Das ist ein ziemlich drastisches Bild der amerikanischen Situation, und es klingt so, als wäre Auster darüber traurig. "Na ja, einerseits könnte man es wirklich tragisch finden. Andererseits aber ist es gar nicht schlecht, weil es ziemlich genau widerspiegelt, was die Leute wirklich denken und was sie wirklich interessiert. Darüber soll man sich nicht hinwegtäuschen, auch wenn man es falsch findet. Vor allem aber, und das finde ich interessant, zwingt es dich als Autor, bei deiner Sache zu bleiben. Wenn du dauernd an den Rand der Geschehnisse gedrängt wirst, bleibt dein Blick auf die Dinge kritisch und klar. Es gibt keine wirkliche Chance, in die Machtstrukturen des Landes verstrickt zu werden, und deshalb ist es leichter, die eigene Autonomie zu wahren. In Europa gibt es eine Menge Schriftsteller, die fast so etwas wie Fernseh-Berühmtheiten sind, und sie quatschen über alles und jedes, dummes Zeug manchmal. Denen kannst du ein Mikrophon ins Gesicht halten, und sie fühlen sich veranlaßt, was zu sagen, obwohl sie gar nichts zu sagen haben. Alles in allem: Hier in Amerika ist es weder besser noch schlechter, sondern einfach anders. Aber wenn man auf das guckt, was amerikanische Schriftsteller im Vergleich zu den europäischen derzeit veröffentlichen, dann denke ich, daß die Amerikaner einfach besser sind. Da ist mehr Kraft dahinter, mehr Talent, mehr Originalität, ein größeres Feld an ästhetischen Positionen und eine ernsthaftere Beschäftigung mit der Gesellschaft und ihrer Realität. Denn schließlich ist es nicht die Aufgabe eines Schriftstellers, bloß über Politik zu reden und Tagesereignisse zu kommentieren. Seine Aufgabe ist die Kunst, und die reagiert eigenständig auf die Welt um uns herum. So könnte es sein, daß die amerikanischen Schriftsteller letzten Endes viel politischer sind als die europäischen." Politik, in einem weiteren Sinn verstanden, spielt eine Rolle in Austers Werk. "Ich leugne das nicht, ich denke eine Menge darüber nach, aber ich diskutiere es nicht direkt. Sogar Leviathan handelt letzten Endes nicht von Politik, sondern vom Leben und den Ideen der Menschen. Das am meisten politische Buch, das ich bislang geschrieben habe, ist Die Musik des Zufalls. Man kann das Buch als eine Parabel über Kapitalismus und Staatsgewalt lesen: Wer hat Macht und warum, wie reagiert derjenige, der keine Macht hat. Als ich den Roman schrieb, hatte ich die deutliche Empfindung, daß er eine politische Tiefenstruktur hatte wie keines meiner anderen Bücher." Was bedeutet es für Paul Auster, ein amerikanischer Autor zu sein? "Amerika ist ein erfundener Ort. Es ist das einzige Land in der Welt, das aus Ideen zusammengebraut wurde, und es ist bewohnt von Menschen, die aus allen Gegenden der Welt kommen. Die einzigen wirklichen Amerikaner sind ja die Indianer. Alle anderen stammen aus Afrika, Europa, Asien, Mittelamerika. Dieses Land ist ein ungewöhnliches Experiment sozialer Organisation, das empfinde ich ganz stark, ein Experiment, wie es in dieser Größenordnung noch nie gemacht wurde. Es hat seine wundervollen, positiven Seiten, aber auch seine fragwürdigen." Was hält das Land zusammen? "Was uns im wesentlich zusammenhält, ist das amerikanische Englisch, eine kraftvolle, lebendige, flexible Sprache, in die hineingeboren zu sein ich mich glücklich schätze. Sie ist ein wunderbares Werkzeug zum Schreiben und zum Sprechen, und es ist spannend zu sehen, wie Englisch die Lingua franca der modernen Welt geworden ist, denn jeder, ob Russe, Deutscher oder Franzose, schreibt seine wissenschaftlichen Texte auf englisch." Aber Englisch, so wende ich ein, wird von sehr vielen Amerikanern nicht mehr gesprochen. "Das war immer so. Mein Schwiegervater, er ist jetzt 73, wurde in Minnesota auf einer Farm geboren. Er ist in der dritten Generation Amerikaner, aber er ist in einer Gemeinschaft aufgewachsen, in der Norwegisch gesprochen wurde. Noch heute hat er einen starken norwegischen Akzent. Das macht ihn nicht weniger amerikanisch. Am Ende lernt jeder Englisch. Ich finde diese politische Debatte ermüdend, sie wiederholt sich immerzu. Wenn Sie lesen, was Henry James, als er um die Jahrhundertwende zu einem Besuch nach Hause kam, über die Immigranten äußerte: Er war mehr schockiert als heute Bob Dole." Aber die Zahl der Einwanderer ist gestiegen. "Es ist wahr, daß nie so viele Immigranten kamen wie heute. Warum kommen sie? Weil jeder spürt, daß es sich hier besser leben läßt als anderswo, daß sich hier Geld verdienen läßt und ein Vorankommen möglich ist. Die Kinder sollen es einmal besser haben. Diese Vorstellung von Amerika steckt immer noch in den Köpfen von Menschen auf der ganzen Welt. Die Immigranten sind immer gehaßt worden. Wenn Sie wüßten, was über die Iren in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gesagt wurde: schrecklicher als alles, was heutzutage in der Presse zu lesen ist. Und das wiederholte sich, als die Italiener kamen, die Juden, die Deutschen. Im 19. Jahrhundert gab es im mittleren Westen Versuche, das Sprechen von Deutsch zu verbieten. Es ist im Grunde immer dasselbe. Nichts ändert sich wirklich. Amerika war immer gespalten in diejenigen, die von der Idee der Toleranz erfüllt waren und von dem Wunsch, alle Menschen aller Rassen sollten hier friedlich zusammenleben können, und in diejenigen, die eine solche Vorstellung mit Schrecken erfüllte und die unter Amerika das Land der Weißen und der Christen verstanden. Dieser Zwiespalt ist von Anfang ein Merkmal der amerikanischen Geschichte." Aber hat sich die Debatte nicht verschärft? "Ja, das Land hat sich verändert, aber nicht wegen der Einwanderer. Die Rechte hat gewonnen. Das ist für mich die traurige Wahrheit. Man kann die Bevölkerung grob in zwei Gruppen einteilen. Die erste besteht aus jenen, die der Ansicht sind, so etwas wie Gesellschaft gebe es gar nicht, sondern jeder sei nur für sich selber verantwortlich und nicht für andere. Die zweite sagt, wir sitzen alle im selben Boot, wir müssen uns umeinander kümmern und gemeinsam zusehen, daß dies eine anständige Gesellschaft für jedermann ist. Das ist der Konflikt, und zur Zeit hat die erste Gruppe die Übermacht. Sie kontrolliert die Debatte. Die öffentliche Sprache, in der solche Dinge diskutiert werden, ist in einem Ausmaß erodiert, daß man daran zweifeln kann, auf demselben Boden zu sein. Fortschritte, die wir für gesichert hielten, stehen in Frage. Sehen Sie nur die Todesstrafe: In den sechziger Jahren wurde sie vom Supreme Court als ungerecht, grausam und verfassungswidrig bezeichnet, jetzt kehrt sie wieder. Oder die Abtreibungsfrage: Das Recht der Frau auf Selbstbestimmung war garantiert, und jetzt wird es Stück für Stück eingeschränkt. Aber ich bin sicher: Wenn wir lange genug leben würden, könnten wir sehen, wie das Pendel wieder zurückschwingt. Die Bewegung nach rechts dauert nicht ewig. Man kann ja verstehen, daß die Menschen Angst haben. Das Leben ist schwierig, die Leute sind verwirrt und deshalb empfänglich für einfache Antworten. Die Beschleunigung der modernen Welt ist zu groß." Auster hat einmal geschrieben, wir verdankten unsere Geburt nur dem Zufall. Hat er ein Verhältnis zur Religion? "Vielleicht zu spirituellen Dingen, nicht eigentlich zu religiösen. Je älter ich werde, um so mißtrauischer werde ich gegen die institutionalisierte Religion, umso mehr empfinde ich die Gefahr, die von ihr ausgeht, und fühle mich zugleich immer stärker angezogen vom religiösen Impuls der Menschen. Aber Religion als organisierte Institution ist verderblich, das zeigt der Fundamentalismus, sei es der christliche, der jüdische oder der islamische. Wenn man Religion in dieser Weise versteht, dann glaubt man sich selber im Besitz der Wahrheit, und die Wahrheit des anderen wird zum Feind, der bekämpft werden muß. Deshalb ist das Wichtigste, was ich meinen Kindern mitgeben kann, die Fähigkeit, so offen und tolerant wie möglich zu sein. Kinder haben ein starkes Gerechtigkeitsempfinden. Aber was sehen sie, wenn sie sich diese Gesellschaft angucken? Der Graben zwischen Reichen und Armen wird immer tiefer. In dem Augenblick, in dem wir die Idee preisgeben, daß wir füreinander verantwortlich sind, öffnen wir einem perversen Denken die Tür, einem korrupten System des Zynismus, wo jeder nur noch für sich selber lebt, für das eigene Vergnügen, den persönlichen Erfolg. Der Zynismus ist die größte Gefahr für diese Gesellschaft. Man braucht, um ihm standzuhalten, Stärke, Wachsamkeit und das Gefühl, lebendig und am Leben zu sein. Aber die meisten Leute sind eher tot als lebendig, sie hören auf, die Dinge um sich herum wahrzunehmen, leben nur noch für sich selber. Die letzte Konsequenz sind dann diese eingezäunten Wohnbezirke, wo sich die Wohlhabenden gegen die Armen verschanzen. Ich weiß gar nicht, wer daran schuld ist. Oder doch: Es ist diese Unanständigkeit der Republikaner, diese Walze der amerikanischen Rechten, die seit 25 Jahren über das Land geht und daraus ein anderes Brasilien macht: ein Häuflein unermeßlich reicher Leute in bewachten Arealen, umgeben von einem Meer der Armen. Das ist der absolute Horror." Woher kommt dieser Rechtsruck? "Die Propaganda, die den Leuten über Jahre hin eingetrichtert worden ist, zeigt Wirkung. Ronald Reagan war acht Jahre lang Präsident, und alles was er über Staat und Regierung zu sagen wußte, war, daß das böse ist. Lächerlich, als ob Staat und Regierung etwas wären, was vom Mars kommt, und nicht die Form, in der wir uns gesellschaftlich zu organisieren suchen." Konservative würden Auster einen Linken nennen. Ist er das? "Die können mich nennen, wie sie wollen, das ist mir egal. Natürlich bin ich links. Eines der erhellendsten Gespräche, das ich je hatte, war 1984, als Reagan gegen Walter Mondale kandidierte. Ich fuhr in Brooklyn mit dem Taxi, und der Fahrer erzählte mir, er sei Schweißer auf einer Werft in New York gewesen und habe seinen Job verloren, als die Gewerkschaft zusammenbrach und die Unternehmer billige Arbeiter unter Tarif einstellten. Ich sagte ungefähr: `Das ist eben die Reagan-Ära, er ist der größte Gewerkschaftsfresser, den wir je hatten.' Und dieser Mann antwortete: `Das kann ja sein, aber ich werde trotzdem für ihn stimmen.' Ich sagte: `Wieso denn das?' Er: `Ich will die Kommunisten aus Südamerika raushaben.' Das ist es ja: alles Ideologie, Gehirnwäsche." Austers Bücher sind in Europa erfolgreicher als in den USA. "Ja, meine Bücher haben in Frankreich höhere Auflagen als in Amerika, Ich weiß nicht, woran das liegt." Als ich Auster zu erklären versuche, daß seine Bücher insofern europäisch sind, als sie ein starkes Interesse an Fragen der Form und der Ästhetik verraten, wird er unwirsch. "Ich glaube nicht, daß es daran liegt. Auch amerikanische Schriftsteller befassen sich mit diesen Fragen. Man kann nicht alles erklären, es ist ein Rätsel, und es lohnt sich nicht, darüber nachzugrübeln. Nur eins: Aus irgendeinem Grund gelte ich in den Vereinigten Staaten als schwieriger Autor, und vielleicht schreckt das die Leute von meinen Büchern ab. Ich selber halte mich für einen ganz einfachen, klaren Schreiber, leicht zu verstehen, und das zu sein, dafür rackere ich mich ab." Mond über Manhattan zum Beispiel ist eine vertrackte Geschichte. "Vielleicht ist sie ungewöhnlich gebaut, aber sie hat doch ihre eigene Logik. Nein, meine Bücher sind irgendwie kontrovers, und es gibt ein paar Leute, die das ärgert. Ich bekam ein paar schlechte Kritiken hier, es gab auch schlechte in Deutschland, Frankreich, in England sogar richtig feindselige. Aber es gab eben auch eine Menge begeisterte. Offenbar lassen meine Bücher niemanden gleichgültig. Es ist genau wie mit dem Film Smoke, den Wayne Wang und ich gerade gemacht haben. Einige halten ihn für das Größte, was sie je gesehen haben, andere halten ihn für das Letzte. Aber besser so, als wenn dir die Leute nur auf die Schulter klopfen und dich sogleich vergessen." Auster hat einmal gesagt: Dostojewskis Schuld und Sühne hat mein Leben völlig verändert. "Schon als Junge habe ich mich für Bücher interessiert und viel gelesen. Ich war eine Leseratte. Aber als ich Schuld und Sühne las, da war ich erst fünfzehn Jahre alt, öffnete sich mir die Tiefe einer Empfindung und Erfahrung, die mir so in keinem anderen Buch begegnet war. Ich begriff, wie tief Literatur gehen kann und daß in einem Roman alles möglich ist. Das rüttelte mich auf und begeisterte mich derart, daß mir klar wurde, was ich zu tun hatte: Schreiben - nicht dieses Buch, sondern Teilnehmer eines solchen Abenteuers zu sein. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie ich an Schuld und Sühne kam, offenbar hatte ich davon gehört. Ich weiß nur noch, daß es ein Penguin-Paperback war. Meine Eltern hatten keine Bücher, sie waren nicht auf dem College, waren keine Intellektuellen, sie lasen keine Bücher. Zu Büchern kam ich von ganz allein. Das ist komisch, aber es trifft für viele Schriftsteller zu. Aus jedem kann ein Schriftsteller werden. Ein Lyriker, den ich sehr schätze, dessen Mutter ist Putzfrau. Meine Eltern haben mich keineswegs vom Bücherlesen abgehalten, auch wenn sie selber nicht lasen. Als ich sechs oder sieben Jahre alt war, gingen die Schwester meiner Mutter und ihr Mann nach Italien. Mein Onkel war Dichter und Übersetzer, er bekam ein Fulbright-Stipendium. Sie zogen also nach Europa um und lebten dort zehn oder zwölf Jahre. Mein Onkel hatte eine wunderbare Bibliothek, und die verstaute er in Kartons auf dem Dachboden unseres Hauses. Eines Tages, da war ich vielleicht zwölf, zogen wir in ein größeres Haus um, und meine Mutter sagte: `Es ist nicht gut für die Bücher, daß sie immer in den Kisten sind, laß uns die Bücher auspacken.' In dem neuen Haus hatten wir nämlich Regale, und ich erinnere mich, wie ich die Kartons runterschleppte und die Bücher auf die Regale stellte. Plötzlich hatte ich eine große Bibliothek, alle Klassiker waren da, und ich fing an zu lesen." Eine ähnliche Geschichte kommt in Mond über Manhattan vor. "Ja, sicherlich kommt sie aus diesem Erlebnis. Ich las Homer und Joseph Conrad und all diese Sachen." Auster hat einmal gesagt, es sei einigermaßen blöde, sich selber zu isolieren und jeden Tag für sich allein zu sein. "Ja, es ist blöde, aber als Schriftsteller hat man blöde zu sein und muß das tun. Wenn man es nicht tun muß, dann ist es besonders blöde, weil man ja nicht wirklich lebt, sondern nur noch allein ist. Wenn man allerdings schreiben muß, weil man keine andere Wahl hat, dann ist es nicht blöde. Meine erste Zeit als Schriftsteller war sehr hart. Es ist lange her. Alles ist ein Rätsel für mich, wirklich. Ich weiß nicht, warum die Dinge geschehen, wie sie geschehen. Erfolg besteht in meinen Augen darin, genug Geld zu haben, um mich hinsetzen und an meinem nächsten Buch arbeiten zu können. Das ist alles." Wie reagiert er auf die Literaturkritik? "Ich habe gute Kritiken gekriegt und schlechte, und wenn ich die schlechten ignorieren und weiterarbeiten kann, dann muß ich auch die guten ignorieren. Die Verrisse tun natürlich weh, und ich fühle mich schlecht danach. Im Gegensatz zu dem, was meist gesagt wird, glaube ich, daß alle Schriftsteller ihre Kritiken lesen. Man kriegt sie ja geschickt, und natürlich könnte man sie in den Papierkorb werfen. Aber ich bin immer neugierig, was die Leute sagen. Die guten Kritiken machen mich für fünf Minuten glücklich, und die Verrisse eine halbe Stunde lang unglücklich. Aber dann schüttelt man das ab. Also, ich weiß nicht, was Erfolg ist. Einfach seine Arbeit zu machen. Es wird ja nicht leichter. Im Gegenteil, jedesmal, wenn ich ein Buch verkauft habe, fühle ich, wie ich mich selber dazu anhalten muß, überhaupt noch zu schreiben. Es wird jedesmal schwieriger. Man wird anspruchsvoller als vorher. Und es gibt soviel Unsicherheit, ob man auf dem falschen Gleis ist oder ob das, was man tut, wertvoll ist. Oft habe ich dieses Gefühl bei der Arbeit, daß es einfach nicht gut ist, und ich mache eine Krise durch. Ich erinnere mich, als ich Die Musik des Zufalls beendet hatte, wollte ich das Buch wegwerfen. Ich glaubte wirklich, daß es schlecht sei, aber meine Frau überredete mich, das nicht zu tun." Woher kam die Krise? "Das Problem war, ich hatte das Manuskript zu Ende getippt, und ich wollte es noch einmal durchlesen, um Tippfehler zu korrigieren. Wenn man aber sein Buch gerade eben beendet hat, dann kennt man es auswendig, man weiß jeden Satz, und deshalb liest man es zu schnell. Man beschleunigt, und die Dinge, die eine Menge Mühe gemacht haben und eigentlich ziemlich gut sind, erscheinen auf einmal leichtgewichtig, nichtssagend, selbstevident, so daß einem das ganze Buch wie ein Nichts vorkommt. Das mache ich nicht noch einmal. Wenn ich ein Buch fertig habe, lese ich es nicht selber, sondern gebe es Siri, dann kann sie die Fehler sehen, und wir sprechen darüber. Wenn das Buch gedruckt ist, ein paar Monate später, dann erst bin ich wieder imstande, es zu lesen, aus einer größeren Entfernung. Das Ärgerliche bei der Musik des Zufalls war, daß Siri mit unserer Tochter Sophie verreist war. Ich erinnere mich gut daran, daß ich sie anrief und sagte. `Es taugt nichts, ich werfe es weg.' Aber ich habe es nicht weggeworfen, und jetzt bin ich froh darüber."
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