Ich schreibe, was ich will – Gespräch mit T.C.Boyle
Die folgende Begegnung mit T.C.Boyle fand im März
1996 in seinem Haus in Montecito (Kalifornien) statt. Die Passage ist ein Ausschnitt aus meinem inzwischen
vergriffenen Buch Gelobtes Land - Amerikanische Schriftsteller
über Amerika (Rowohlt 1997). - Im Gespräch taucht gelegentlich der Begriff "affirmative action" auf. Siehe dazu diese Erläuterung.
Eines späten Abends, als ich nach einem Kinobesuch in der 3rd Street von Santa Monica die Buchhandlung „Midnight‘s Special“ nach Neuerscheinungen durchsuchte, stieß ich auf T.Coreghessan Boyles neuen Roman América (The Tortilla Curtain). Er las sich wie eine zornige, düstere Illustration der aktuellen Immigrationsdebatte. Die Geschichte spielt in Los Angeles, einerseits oben auf den Hügeln, wo Delaney mit Weib und Kind in einer schicken Villensiedlung lebt, andererseits tief unten in einem der Canyons, wo ein junges mexikanisches Paar wie die Tiere haust. Als der Mexikaner Candido eines Tages aus dem Dickicht auf die Straße tritt, wird er von dem nagelneuen Acura Delaneys erfaßt, zu Boden geschleudert und verletzt. Der tödlich erschrockene Delaney steigt aus, um nach dem Verletzten zu sehen. Aber der Mann, der sichtlich mitgenommen am Boden kauert, versteht kein Englisch. Auf die Frage, ob er einen Arzt brauche, gibt er keine Antwort. Da die Schuldfrage offenbar unklar ist, drückt der ratlose Delaney dem Mann zwanzig Dollar in die Hand und fährt weiter.
Der Kunstgriff von T.C.Boyle besteht darin, daß die zwei Geschichten nebeneinander herlaufen und sich nur auf den dramatischen Höhepunkten verschränken. Wenn Candido und Delaney sich begegnen, nehmen sie einander nie als konkrete Individuen wahr, immer nur als Typus der anderen Klasse. Delaney ist der liberale Weiße, Kolumnist eines Naturfreunde-Magazins, verheiratet mit einer Immobilienmaklerin, gut situiert und politisch eher unbedarft. Mit wachsendem Unmut sieht er die Anzeichen einer Bedrohung seiner heilen Lebenswelt. Koyoten dringen über den Gartenzaun in sein Grundstück und zerfleischen die beiden Hunde. Dunkelhäutige, verdächtige Gestalten lungern auf vertrauten Wanderwegen. Die Eigentümergemeinschaft der Siedlung beschließt die Errichtung einer Ringmauer und einer bewachten Zufahrt. Delaney wehrt sich anfangs, er verteidigt gegen den Mauerverfechter Jack Jardine seine liberalen Prinzipien, aber am Ende besitzt auch er, wie die übrigen, ein Gewehr. Auf der anderen Seite, auf dem Grund der Schlucht und auf dem illegalen Arbeits- oder Sklavenmarkt Candido und seine Geliebte América: Beide voller Hoffnung, im Gelobten Land ihr Glück zu finden, aber verfolgt vom Unglück, von der Immigrantenpolizei, vom Hunger, von einer Feuersbrunst, von der Verachtung der reichen Weißen, von der Bösartigkeit eigener Landsleute. Der Roman ist eine ziemlich wilde Achterbahnfahrt der Katastrophen und Peripetien, wechselweise erzählt aus der Perspektive des Oben und des Unten, geschrieben mit Zorn und Leidenschaft, die komische, bizarre Seite des Schlimmstmöglichen fast genußvoll ins literarische Kalkül ziehend.
T.C. Boyle war mit einem Gespräch sofort einverstanden. Der Tag, an dem ich losfuhr, es war Mitte März, erinnerte an das Ende des Romans, wo heftige Regenfälle einen Erdrutsch auslösen. Der Highway Nr.1 zog an dem plötzlich dunkelgrau gewordenen Meer und seinen weißen Schaumkronen vorbei, und die Berge waren von nachtschwarzen Wolken verhüllt. Erst in Montecito, also kurz vor Santa Barbara, ließ der Regen nach. Ich folgte Boyles Wegbeschreibung, fuhr die Hot Springs Road ein Stück hoch und bog in den Seitenweg ein. Da war es: das wunderbare, von Frank Lloyd Wright erbaute Haus. Boyle zeigte es mir voller Stolz. Er hatte es von der Summe, die Alain Parker für die Filmrechte an Willkommen in Wellville bezahlt hatte, vor ein paar Jahren gekauft und wieder in den Originalzustand versetzt. Die feingliedrige, harmonische Fensterfront des quadratischen hohen Wohnraumes zeigte die alte, asymmetrisch mäandernde Sprosseneinteilung. Das ganze Haus war aus dunklem Edelholz erbaut, wirkte leicht, elegant, dabei zugleich irgendwie feierlich, was an der japanisierenden Architektur liegen mochte, die eine Aura von Teehaus und Tempel verströmte.
Wir sprachen zunächst über seinen Erfolg: Seine Bücher verkaufen sich stetig besser, und Boyle scheint sehr stolz darauf. Nicht nur im Scherz sagte er, daß er die Auflagenhöhe eines Steven King oder Michael Crichton gern noch erreichen würde. Aber leider sei es so, daß, relativ gesehen, die Auflagen in Europa viel höher seien. Ich fragte, woran das liegt.
Boyle: „Die Mittelschicht schwindet. Besonders in New York oder Los Angeles findet man eine Belagerungsmentalität wie in einigen Ländern Lateinamerikas, wo es einen winzigen Prozentsatz wohlhabender Leute gibt, die in eingezäunten Siedlungen leben und ihre eigene Polizei haben, und daneben eine riesige, verarmte, ungebildete Unterschicht. Die USA entwickeln sich immer mehr dahin, die Polarisierung nimmt zu. Kürzlich habe ich gelesen, daß das Lebensgesamteinkommen von jemandem mit College-Ausbildung 1970 um 50 Prozent höher lag als das Einkommen von jemandem, der nur eine High-School-Ausbildung hatte. Heute beträgt der Unterschied 100 Prozent. Der Graben wird tiefer und tiefer. Wir haben eine hochtechnische Gesellschaft, die qualifizierte Arbeit verlangt, und zugleich produzieren wir mehr und mehr unausgebildete Menschen, die nicht mal einen High-School-Abschluß haben.“
In Kalifornien sind nur etwa 15 Prozent der Arbeitnehmer Mitglieder der Gewerkschaft.
„Das ist genau das Thema, mit dem sich América befaßt. Los Angeles war immer eine konservative, rechtsgerichtete Stadt, immer ein Ort, der Gewerkschaften bekämpfte. Die Unternehmer wollten einen offenen, ungeregelten Arbeitsmarkt, damit sie die Löhne drücken konnten. Aber dieser Krieg ist längst entschieden, weil wir durch die legale wie die illegale Immigration ein Sklavenheer haben. Es gibt de facto keine Gewerkschaften. Wenn du nicht für drei Dollar die Stunde arbeiten willst - macht nichts, da sind sechstausend andere Leute, die den Job haben wollen. Sie stehen an den Straßen, bereit für alles. Die Agrarindustrie und die Bekleidungsindustrie leben von diesem Sklavenheer, sie sind nicht daran interessiert, die illegale Immigration zu stoppen, sondern Leute für ihre sweat shops zu kriegen. Was sie dabei vergessen, sind die Folgen für die Gesellschaft im Ganzen. Früher glichen die Arbeiter aus Mexiko den Gastarbeitern in Deutschland, es waren ausschließlich Männer, die ihren Wohnsitz in Mexiko behielten, zur Erntezeit in die USA kamen, aber Bürger Mexikos blieben. Heute kommen ganze Familien, ganze Dörfer hierher, und sie bleiben hier wegen der sozialen Hilfsprogramme, wegen der besseren Ausbildungsmöglichkeiten für die Kinder. Aber die meisten Kinder kriegen eben keine gute Schulausbildung, denn ihre Eltern sind zumeist Bauern ohne die kulturelle Tradition, Bildung und Wissen zu erwerben, einen technischen oder wissenschaftlichen Beruf anzustreben. Diese Kinder sind amerikanische Staatsbürger, sie haben amerikanische Erwartungen, aber sie kommen nur bis zur zehnten Klasse. Was sollen die mit 30 tun, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen? Keiner kümmert sich darum, keiner sieht das.“
Der Wandel Delaneys vom liberalen Demokraten zum Besitzer und Benutzer eines Gewehrs ist erstaunlich.
„Diese Entwicklung ist ganz logisch. Das Buch ist eine Anatomie des Rassismus. Auch wenn du grundsätzlich wohlmeinend bist, kannst du die Fassung verlieren, kannst du eine ganze Klasse von Leuten dämonisieren und hassen. Ich habe das Thema Rassismus in verschiedenen Kurzgeschichten behandelt und in meinem Roman Der Samurai von Savannah, aber das hier ist viel eher ein Buch, das dir ins Gesicht schlägt, es verstört dich, es zwingt dich, deine eigenen Ansichten zu überprüfen. Es hat eine Menge Leute wütend gemacht, es gab polemische Reaktionen, ich bin von allen Seiten des politischen Spektrums angegriffen worden. Die Konservativen sagten, ich sei zu nachsichtig mit den Mexikanern, die Vertreter der political correctness, die ja selber eine Art von Faschismus ist, sagten, ich hätte nicht das Recht, aus der Perspektive eines Mexikaners zu schreiben, weil ich ja keiner bin. Eine Rundfunkmoderatorin aus San Francisco rief mich an und nannte mich menschlichen Abfall. Ich habe mich für das Kompliment bedankt.“
War es schwierig, in die Haut eines Mexikaners zu schlüpfen?
„Ein Schriftsteller ist doch dadurch definiert, daß er Vorstellungskraft besitzt, daß er dazu fähig ist, sich in jemand anderen hineinzuversetzen, damit die Leser seines Buchs über Dinge aufgeklärt werden, von denen sie vielleicht nichts wissen. Tolstoi war kein Bauer, aber er konnte aus der Perspektive eines Bauern schreiben. Das ist doch die Aufgabe der Literatur. So viele amerikanische Schriftsteller schreiben über Professoren, die sich in eine Studentin verlieben und scheiden lassen. Darüber zu schreiben, habe ich keine Lust. Ich schreibe über alles, was mich interessiert. Ich glaube nicht, daß man dabei durch seine Erfahrung begrenzt ist. Es geht darum, die Vorstellungskraft zu trainieren. Das Buch, das ich gerade schreibe, Riven Rock, handelt von sehr reichen Leuten, einer von denen ist schizophren, und eine andere Hauptperson, seine Pflegerin, stammt aus der Arbeiterklasse.“
Das Ende von América bietet keinen Trost.
„Wir haben hier für bestimmte Filme den Ausdruck ,It‘s a feel good movie‘. Ich will nicht, daß die Leute sich gut fühlen, ich will, daß sie sich schlecht fühlen, ich will sie mit der Nase darauf stoßen, ich will sie provozieren. Ich glaube nicht, daß es für die Probleme, von denen mein Roman handelt, einfache Lösungen gibt. Es ist kein Zufall, daß Delaney ein Naturfreund ist. Wenn man seine Perspektive einnimmt, dann ist der Feind der Natur der Mensch. Umweltschützer und Naturfreunde, die normalerweise liberal sind, werden sehr reaktionär, wenn es um Immigration geht. Je mehr Menschen, um so mehr Gefahr für die Umwelt. Das Buch beschreibt, daß wir als eine tierische Spezies fortfahren, Stammeskriege zu führen, neue Territorien, nicht anders wie die Koyoten, wegen ihrer Ressourcen zu besetzen. Nationale Grenzen sind irrelevant geworden. Das führt zur Verschärfung der rassischen Emotionen. Am Ende erinnert das Buch den Leser daran, daß wir, jenseits nationaler und ethnischer Unterschiede, eine einzige Spezies sind, und eine Spezies ist dadurch definiert, daß du dich mit jedem beliebigen Menschen auf der Welt paaren und lebensfähige Nachkommen zeugen kannst. Wir neigen dazu, das zu vergessen und eine ganze Klasse von Menschen zu dämonisieren, wie Tiere zu betrachten. Natürlich könntest du so leben, und du würdest es tun, wenn du müßtest. Es gibt in meinen Büchern keine Happy Endings, auch in diesem nicht. Immerhin, wenn man über das Ende des Buchs hinausdenkt, dann ist es doch so: Auch Delaney erfährt, daß er ein Objekt der Naturgewalten ist. Sein von einer Mauer umgebenes Haus ist ebenso verwundbar durch einen Erdrutsch wie Candidos Hütte. Er sitzt auf dem Dach des Hauses, aus dem Wasser gezogen von diesem Kerl, den er niederschießen wollte. Ich glaube, er wird sich nicht vollständig ändern, aber er ist auf dem äußersten Punkt.“
Der Roman ist sehr politisch und wirkt wie ein Beitrag zur aktuellen Debatte.
„Ja, es ist das am meisten politische Buch, das ich je geschrieben habe. Aber wenn die Leute erwarten, daß ich eine politische Position beziehe, dann machen sie es sich zu einfach. Ich ergreife nicht Partei, ich stelle etwas in Frage. Der Roman ist einfacher als meine anderen Bücher, ich wollte ihn zugänglicher machen, er ist wie wie eine Fabel.“
Die Fabel ist nicht sehr lustig.
„Aber sie ist ironisch. Delaney und seine Frau Kyra sind zwar mitfühlend porträtiert, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Zugleich gibt es eine ironische Distanz. Für mich funktioniert das ganze Buch in den Mustern der Ironie. Delaney wandert mit seinem Schlafsack, um die Koyoten heulen zu hören und Natur zu erfahren, und kommt genau in den Canyon, wo die Mexikaner wohnen. Das ist so, dort leben Menschen wie in Flüchtlingslagern. Und Kyra ist Immobilienmaklerin, die sich um diese riesigen, leeren Villen kümmert, während andere kein Dach über dem Kopf haben. Aber es stimmt, das Buch ist nicht lustig.“
Was hält Boyle von der affirmative action?
„Ich glaube, diese Idee wie auch die der sozialen Fürsorge sind im Grunde gut. Aber sie sind mißbraucht worden. Zum Beispiel affirmative action: Man kann keine Demokratie haben, in der jeder aufgrund seiner Ethnizität Privilegien hat. Daraus resultiert dann die lachhafte Situation, daß Asiaten als Minorität betrachtet werden. Sie schneiden in Tests so gut ab, daß sie keine Extrahilfe benötigen. Die Hälfte der Studenten in Berkely sind Asiaten, obwohl die nur einen kleinen Prozentsatz der Bevölkerung ausmachen. In Los Angeles wiederum werden die Latinos als Minorität betrachtet, bilden aber die Mehrheit der Stadtbewohner. Man fragt sich, was ist eigentlich die Definition. Möglicherweise lautet sie: Jedermann, der etwas hat, was ein anderer nicht hat, ist eine Minorität. Es ist lächerlich. Es müssen also ein paar Korrekturen geschehen. Die Idee war gut, weil bestimmte Leute von bestimmten Berufen ausgeschlossen waren, ghettoisiert waren, und affirmative action solchen Gruppen half, aber an einem bestimmten Punkt muß sich doch diese Gruppe sagen, wir sind keine Opfer, wir brauchen keine Extrahilfe, wir sind nicht inferior. Die Sozialfürsorge war vermutlich das übelste Experiment, das die USA jemals gemacht haben, besonders im Hinblick auf die schwarze Bevölkerung. Es hat eine Antigesellschaft produziert, die sich vom Realitätsprinzip befreit sieht und wo Arbeit als nicht lohnend betrachtet, wo nicht einmal daran gedacht wird. Keiner hat einen Beruf, keine Familie hat einen Vater. Stellen wir uns vor: Wir beide würden dafür bezahlt, zu Hause zu sitzen und nichts zu tun, wir würden natürlich Crack rauchen. Warum sollte ein Mann eine Familie versorgen, wenn er sich davonmachen kann und weiß, daß die Regierung für seine Familie zahlt? Es war eine gute Idee, die falsche Resultate gebracht hat, und es wird eine lange Zeit brauchen, das zu ändern. Ich stimme nicht mit denen überein, die sagen, man solle die Sozialfürsorge unverzüglich abstellen und statt dessen nichts tun. Wir sollten ein Job Corps gründen, wie wir es während der Weltwirtschaftskrise gemacht haben. Manche sagen, eine Arbeitslosenrate von fünf Prozent sei akzeptabel, mag sein, aber wir zahlen in jedem Fall eine gewaltige Summe für die sozialen Kosten. Ich denke, wir sollten die Sozialfürsorge beschneiden und sagen, wenn einer nicht arbeiten will, dann soll er halt hungern. Die Alternative wäre: Jeder, der arbeiten will, soll das Doppelte des Mindestlohns und noch das dazu kriegen, was er von der Sozialfürsorge bekäme. Es würde wirklich die Gesellschaft grundlegend ändern. Es würde den Menschen die Würde zurückgeben und das Gefühl, daß sie mündig sind und am gesellschaftlichen Leben partizipieren. Manche Leuten sehen die Regierung als eine Art Gott, und sie begreifen nicht, daß jemand dafür zu zahlen hat. Und wir haben eine gewisse Menge menschlichen Unrats akzeptiert und sagen: Bezahlt sie, vergeßt sie. So sollte die Gesellschaft nicht sein.“
Soll man die mexikanische Grenze dichtmachen?
„Kein Land auf der ganzen Welt hat offene Grenzen. Gibt es die Verantwortung eines Landes, sich um die Bürger eines anderen Landes zu kümmern? Vielleicht gibt es eine humanitäre Verpflichtung. Aber es gibt nationale Souveränität. Und wenn es sie gibt, dann muß es Grenzen geben, Paßkontrolle. Wir sprachen über die mexikanische Immigration, aber wenn wir von der Immigration aus anderen Ländern, etwa aus den europäischen, reden: Alles, was man braucht, ist ein Visum und ein Rückflugticket, und man kann hier für immer bleiben, weil es keine Kontrolle gibt. Jeder kann hier jederzeit einwandern. Also muß etwas an den Flughäfen getan werden, es muß einen Personalausweis und ein Meldegesetz geben. Wir müssen uns entscheiden: Sollen wir Mexiko zu einem weiteren Bundesstaat machen? Mexiko hat, wie die USA, gewaltige Ressourcen, aber unglücklichweise ist seine Regierung korrupt. Da gibt es ein Einparteiensystem, das seit der Revolution alles beherrscht, da gibt es eine sehr kleine Oligarchie, die den Rest des Volkes verachtet und im Luxus lebt. Ist das ein Problem, das Amerika lösen sollte? Ich weiß es nicht.“
Sollte man also sagen, das Eigeninteresse der Gesellschaft geht vor?
„Jetzt, da das Immigrationsproblem, wie ich es in meinem Buch vorhergesagt habe, zu einem zentralen Diskussionsgegenstand wird, gibt es interessanterweise Umfragen, die zeigen, daß die Mexican-Americans, die hier leben, in überwältigender Mehrheit dafür sind, die Grenzen dichtzumachen und niemanden mehr hereinzulassen. Das ist schieres Eigeninteresse. Ich bin hier, und kein anderer soll kommen. Ich bin der Ansicht, daß die Grenzen kontrolliert werden sollten. Wenn es legale Immigration gibt, dann macht die illegale einen Witz daraus. Wir haben Firmen, die alles über die Kreditwürdigkeit einer Person ausfindig machen, die alles über mich wissen, wo ich Kaffee trinke und wo ich einkaufe - also müßte es möglich sein, die illegale Immigration zu stoppen, und es ist möglich. Aber genau das verhindern die Unternehmer. Natürlich hat die Sache zwei Seiten: Candido, in meinem Buch, hat das gleiche Recht zu leben wie jeder andere. Ihn ein Tier zu nennen, zu dämonisieren und ihn für die Probleme der Gesellschaft haftbar zu machen ist nicht in Ordnung. Der Grenzschutz zum Beispiel hat ein Profil von Leuten, die Drogenschmuggler sind, das ist vielleicht nicht sehr demokratisch, aber es beruht auf Erfahrung. Wenn Sie auf Highway Nr. 5 von San Diego kommen und nicht weiß sind, werden Sie angehalten und kontrolliert. Das ist diskriminierend. So auch bei der Immigration: Wer ein dunkles Gesicht hat, steht im Verdacht, illegaler Immigrant zu sein. Das ist nicht fair, das ist nicht richtig. Es gibt eine heftige Antiimmigrationsstimmung im Land. Die Immigration war niemals so groß wie jetzt, nicht einmal im 19. Jahrhundert. Wir nähern uns der Zahl von sechs Milliarden Menschen auf der Welt - auch das war ein Grund für mich, América zu schreiben -, wo sollen die hin? Gut, unsere Wirtschaft basiert auf Wachstum, aber gibt es unendliches Wachstum? Soll jeder Quadratmeter auf dieser Erde mit Häusern bebaut sein? Was für eine Art von Leben wäre das? Wir in den industrialisierten Ländern, in Deutschland, in Amerika, sind sehr selbstsüchtig. Statistisch betrachtet fügt ein amerikanisches Kind im Lauf seines Lebens der Umwelt einen 240mal größeren Schaden zu als ein in Indien geborenes Kind. Was bedeutet das? Worin besteht unsere Verantwortung? In der vorigen Generation hat die mexikanische Regierung den Kinderreichtum gefördert, mit dem Erfolg, daß nun jedes Jahr eine Million zusätzlich auf den Arbeitsmarkt kommt, und das in einem Land, dessen Arbeitslosenrate bei 40 Prozent liegt. Was sollen die Menschen tun - verhungern oder in die USA gehen? Und wer ist verantwortlich dafür?“
Funktioniert die amerikanische Utopie noch?
„Sie hat funktioniert, in einem unglaublichen Ausmaß, mit einer Demokratie, die blühte und immer noch blüht. Ja, Amerika war immer das Land der Immigranten, das alle dieser verschiedenen Völker aufgenommen hat, auch meine irischen Vorfahren, und alle sind zuerst auch dämonisiert worden. Wollte man das Ganze optimistisch betrachten, dann könnte man sagen: Es wird auch in Zukunft funktionieren. Ich aber glaube, daß sich die Bedingungen geändert haben, und zwar wegen der Übervölkerung. Als John Steinbeck die Früchte des Zorns schrieb und voller Leidenschaft dafür plädierte, den Elenden zu helfen, war die Weltbevölkerung halb so groß wie jetzt. Wir selber sind der Feind, jeder von uns, da geht kein Weg dran vorbei. Die einzige Lösung, die es gibt, liegt außerhalb unserer Kontrolle. Wir erfahren ja, daß immer mehr Viren, Bakterien, Parasiten der Welt gegen ihre Behandlung resistent werden. Ich fürchte, es wird ein großes Sterben unter unserer Spezies geben. Wenn eine Spezies übermäßig wächst, stirbt ihre Umgebung ab. Die Bedingungen sind perfekt. Wir reisen überallhin. Sie können morgen einen bestimmten Virus nach Deutschland bringen, ohne es zu wollen. Es wird eine Katastrophe geben, und die einzige Hoffnung ist, daß wir aussterben. Was sonst soll passieren? Sechs Milliarden - wo sollen die hin? Der Grund, weshalb ich Los Angeles verlassen habe, war, daß ich einfach den Druck der Massen nicht mehr ertragen konnte. Das Leben war nicht länger lebbar. Ich konnte nicht mehr ins Theater, ins Konzert, weil ich mich Stunden um Stunden durch das Verkehrchaos quälen mußte. Jetzt lebe ich in dieser kleinen Stadt, wo ich nachts von meinem Fenster die Milchstraße sehen kann, die man in Los Angeles wegen der Luftverschmutzung längst nicht mehr sieht, die Luft ist sauber, ich gehe hier ins Theater, ins Konzert, und alles ist sehr angenehm, weil es noch nicht so dicht besiedelt ist. Vielleicht wird es das bald sein - wohin dann? Ich glaube, wir müssen einen Weg finden, daß die Wirtschaft auch ohne das permanente Wachstum der Märkte und der Menschen funktioniert. Vielleicht geht das nicht.“
Kennt Boyle Malthus?
„Ja, und ich vermute, ich habe eine malthusianische Perspektive. Es ist auch eine darwinistische. Die Sozialfürsorge bedeutet ja nur eine Verzögerung, sie bewirkt nichts. Einige werden sterben, die Harten überleben, so ist es. Es war immer so. Die meisten Länder der Erde habe eine Gesellschaft wie im Herr der Fliegen, es ist wie bei den Jungens auf dem Spielplatz, der Starke übernimmt die Führung, und die andern folgen ihm. Demokratien wie hier sind eher selten, sie sind nie ungefährdet, und die Millionen, die über die Grenzen kommen, verstärken den Druck auf die Demokratie. Die Leuten hätten gern, daß ich ein Buch schreibe, in dem sie lesen können, daß alles in Ordnung ist, daß alle Menschen Brüder sind. Und das ist nicht notwendigerweise der Fall, oder? Wir reden jetzt schon fast eine Stunde, und alles, worüber wir reden, sind die politischen Implikationen meines Buchs. Das ist merkwürdig. Bei meinen anderen Büchern würde man hauptsächlich über literarische Fragen reden. Das Buch, das ich jetzt schreibe, ist völlig anders, es hat nichts mit Politik zu tun - obwohl es etwas mit Klassenkampf zu tun hat. Ich bin mir der Tatsache sehr bewußt, daß ich hier in der Oberschicht lebe, in diesem wunderschönen Haus, wohlhabend wie alle andern, aber ich komme aus der Arbeiterklasse, ich besaß nichts, ich verstehe die Gefühle derjenigen, die nichts haben. Ich kann ja nicht mit meinem neuen Auto hier herumfahren und ein Schild ans Fenster kleben ,Bin Arbeiterjunge, habe das mit meinen Schweiß und Grips verdient‘. Das kümmert niemanden. Ich habe das Auto, und die haben es nicht, also versuchen sie, es zu klauen. Das ist einfach so.“
Hier fing Boyle laut zu lachen an, als amüsiere ihn die Vorstellung, daß Leute ähnlichen Herkommens wie er ihm sein Auto klauen könnten. Er hatte sich warm geredet. Die hagere, langbeinige Gestalt mit dem schütteren, rötlichen Kraushaar saß in entspannter Haltung, die Bierflasche in der Hand, in einem der schönen Art-déco-Sessel, wirkte zugleich aber wie auf dem Sprung, konzentriert, und seine wachsamen Augen blickten mich an. Draußen regnete es wieder. Ich fragte ihn, ob er nicht glaube, daß ein Mann wie Pat Buchanan (der zum Zeitpunkt unseres Gesprächs noch mit Bob Dole um die republikanische Präsidentschaftskandidatur konkurrierte und sich als Rechtsaußen präsentierte) über Boyles Ansichten froh sein könne.
Boyle: „Ich glaube nicht, daß er mit mir übereinstimmen würde. Er ist wie Jack Jardine in América, er ist die Figur, gegen die ich bin. Er ist absolut von sich selber überzeugt, er ist ein Demagoge, er will andere Rassen dämonisieren. Dagegen bin ich. Ich möchte sichere Grenzen, wie es praktisch jeder in Amerika will. Nein, ich glaube, er würde mit mir überhaupt nicht übereinstimmen. Außerdem bin ich Demokrat.“
Warum sind die meisten amerikanischen Schriftsteller Demokraten?
„Ich weiß es nicht. Ich weiß, warum ich einer bin. Als ich jung war, war ich ein Hippie, und ich war sehr beeinflußt durch Hippie-Ideale. Möglicherweise war das die Kehrseite meines Pessimismus, ich bin ein Pessimist, aber dennoch auf der Seite der Demokraten. Mit meinen Ansichten über die Sozialfürsorge oder über die Grenzkontrollen mag ich rechts scheinen, aber ich glaube nicht, daß dies notwendigerweise eine rechte Position ist. Sie geht quer durch die Gesellschaft, quer durch die Liberalen und die Demokraten. Nochmal: Ich schrieb dieses Buch, um die Liberalen mit sich selber zu konfrontieren. Es ist zu einfach zu sagen: Laß jeden kommen, gib ihm Unterstützung, sei kein Rassist. Wenn die Liberalen unter Druck geraten, wie etwa Delaney, und über ihre Prinzipien nachdenken müssen, dann fragt es sich eben: Werden sie die Prinzipien ändern? Sehen Sie, ich versuche, alle Seiten der Geschichte zu betrachten. Jack Jardine ist wie viele der älteren, weißen Kalifornier. Sie geben nicht vor, ihre mexikanischen oder thailändischen Mitbürger zu lieben, sie sind sich ihrer Sache sicher, sie wollen, daß die Mauer hochgezogen wird. Aber meine Frage lautet: Was wird da eingemauert? Haß, Krankheit, Niedergang. Die Sache ist zwiespältig, und auch der Leser soll zwiegespalten sein. Der Titel Tortilla Curtain spielt ja ironisch mit den Metaphern des Vorhangs: Es gab den Eisernen Vorhang, eine absolut solide Sache, es gibt den Bambus-Vorhang (ein Ausdruck, der unser Verhältnis zum kommunistischen China beschreibt), der ziemlich stabil ist, aber noch ein paar Durchblicke läßt. Und nun der Tortilla Vorhang: Drei Drähte, auf denen Tortillas trocknen, und jeder kann durch.“
Was heißt es für Boyle, ein amerikanischer Schriftsteller zu sein?
„Die Frage kann ich nicht beantworten, da ich nicht die Gelegenheit hatte, ein anderer Schriftsteller zu sein. Die längste Zeit, die ich außerhalb Amerikas war, verbrachte ich in Irland, dreieinhalb Monate mit meiner Familie. Meine Tochter ging dort zur Schule. Und da ich Englisch spreche, konnte ich mich mit jedem unterhalten, das war sehr bequem. Ich könnte niemals ein Aussiedler sein, ich bin Teil dieser Kultur und Gesellschaft. Ich mußte nach meiner Rückkehr Nachhilfestunden in Baseball nehmen - ich konnte nicht länger in Irland bleiben. Und natürlich wäre es für mich noch schwieriger, in Deutschland oder Spanien zu leben - obwohl Spanisch die einzige Fremdsprache ist, die ich beherrsche. Amerikanischer Schriftsteller sein heißt: Ich bin Teil dieser Kultur, dazu gehört auch Rock‘n Roll und TV und das alles, so wie Sie Teil der deutschen Kultur sind, das ist unausweichlich. So kam ich zu América - irgendwo im weißen Rauschen dieser Kultur war dieses Ferment einer Idee, und ich reagierte nur darauf. Ähnlich war es beim Samurai von Savannah - in den späten Achtzigern gab es, besonders an der Westküste, ein heftiges antijapanisches Ressentiment. Es herrschte das Gefühl, daß die Japaner ganz Amerika aufkauften, die Studios, die Filme etc., daß sie sich uns überlegen fühlten, unsere Autoindustrie vernichteten. Die Los Angeles Times brachte fast jeden Tag einen Artikel über japanische Kultur, und als ich das Buch schrieb, hatte ich ununterbrochen Material über Japan. Ganz Amerika war von Japan fasziniert, so auch ich. Ich versuche, die Lebensbedingungen von Rassen zu erforschen. Das habe ich auch in World‘s End getan, das die Stadt zum Schauplatz hat, wo ich aufgewachsen bin: Peekskill, wo die Pogrome stattgefunden haben, wo es während der McCarthy-Zeit eine Menge an antikommunistischem, antisemitischem, antischwarzem Ressentiment gegeben hat. Auch das interessiert mich. Vorläufig bin ich ganz zufrieden, wer weiß. Ich werde im nächsten Roman zu einem Gegenwartsthema zurückkehren müssen, jetzt nach dem Roman Riven Rock, der historisch ist wie World‘s End oder Wassermusik oder Willkommen in Welville. Ich fühle mich ganz gut mit diesem Rhythmus, abwechselnd ein historisches und ein gegenwärtiges Buch zu schreiben. Obwohl ich manchmal denke, wenn ich noch ein weiteres Buch schreibe, werde ich verrückt.“
Noch einmal: Was bedeutet die amerikanische Utopie?
„In meinem Fall wurde sie wahr. Ich kam aus einer armen Arbeiterfamilie, meine Eltern waren beide Alkoholiker. Meine Großeltern kamen aus Irland, mein Vater wuchs im Waisenhaus auf. Ich habe mich nie anderen unterlegen gefühlt, meine Freunde waren wohlhabender als ich, aber es waren eben Herzensfreunde, ich hab‘s überstanden und hatte am Ende Erfolg. Die amerikanische Verheißung gilt noch, mit einer einzigen Ausnahme, der Rasse. Wenn ich in derselben Situation und dazu noch schwarz gewesen wäre, ich glaube nicht, daß ich so weit gekommen wäre.“
Was ist der Grund für die besondere Situation der Schwarzen?
„Der Grund ist, daß die Schwarzen als Sklaven hierher kamen. Das Kind, das heute geboren wird, mag das nicht wissen, aber die Gesellschaft weiß es. Du kannst nicht Teil des amerikanischen Traums sein, wenn du schwarz bist. Wenn du keinen Job kriegst, kein Haus im Vorort kaufen kannst, was machst du: Du strebst nach Stil, Mode, Musik, nach einem anderen Weg, im Leben Gratifikationen zu kriegen, und so entsteht eine Antigesellschaft, muß entstehen. Wenn Sie das schwarze, im Getto gesprochene Englisch hören, so unterminieren die Schwarzen permanent und bewußt das normale Englisch, sie wollen, daß sich ihres von unserem unterscheidet. Niemand in der Gesellschaft, in der wir beide uns bewegen, kann sich jemals einen grammatischen Fehler leisten, es wäre inakzeptabel. Es ist ein soziales Distinktionsmerkmal, es passiert nicht, kann nicht passieren. Aber die schwarze Gesellschaft ist umgekehrt: Würde man sprechen wie ich spreche, wäre man ein Onkel Tom, ein Verräter. Es ist furchtbar für die Schwarzen, den Erfolg anderer Immigranten mitansehen zu müssen. Der Konflikt zwischen den Koreanern und den Schwarzen beweist das. Davor gab es den Konflikt zwischen den Schwarzen und den Juden. Wo ist der schwarze Unternehmer? Die Schwarzen sind dazu gezwungen worden, eine andere Kultur auszubilden, über Hunderte von Jahren. Es ist ein für allemal illusionär, zur Mittelklasse gehören zu wollen, wenn einem das immer verwehrt wurde. Und die Sozialfürsorge hat das Problem verschlimmert. Es ist ein unlösbares Problem. Kennen Sie den Film Hoob Dreams? Ein Dokumentarfilm, der vor zwei Jahren herauskam und von zwei schwarzen Teenagern im Getto handelt, die sehr gute Basketballspieler sind - hoob heißt Basketball -, die sich darin steigern und dann im College aufgenommen werden. Es ist ein sehr bewegender Film, der die Augen öffnet. Für diese Kinder gibt es nur einen Weg aus dem Getto: Basketball. Das ist der Weg nach oben, zum Reichtum. Aber jedes Team hat nur elf Spieler, und da sind Millionen. Da ist keine Einsicht, daß man eine Ausbildung haben muß, einen Beruf. Entweder du spielst Basketball, oder du verkaufst Drogen, sonst gibt es nichts, da ist kein Vater in der Familie, kein Vorbild, keiner, der arbeitet - wie soll man da eine Vorstellung davon kriegen, was es heißt, Mitglied der Gesellschaft zu sein?“
Gibt es rassische Unterschiede hinsichtlich der Mentalität, Intelligenz?
„Es wäre unklug, das zu sagen, und der Kodex der political correctness würde es einem nicht erlauben. Vielleicht stimmt es. Wir hassen ethnische Stereotypen: der penibel alles kontrollierende Deutsche (übrigens sehen die Mexikaner genauso den weißen Amerikaner), der betrunkene, unzuverlässige Ire. Ich glaube, darin steckt eine gewisse Wahrheit. Natürlich sind wir eine einzige Spezies, aber es gab isolierte Gruppen, die verschiedene Charaktere und Talente entwickelt haben - das ist offensichtlich so. Es bedeutet nicht notwendigerweise, daß eine Gruppe unterlegen oder überlegen ist. Aber die Geschichte des Kolonialismus kommt aus der Tatsache, daß einige Menschen eine fortgeschrittene Technologie früher als die anderen hatten. So mag es ethnische Unterschiede hinsichtlich bestimmter Fähigkeiten geben, einigen fällt etwa Mathematik leichter als anderen etc. So wie es Geschlechtsunterschiede gibt. Das ist so. Und vieles davon ist durch die kulturelle Tradition herausgebildet. Das sieht man an der Lage der armen schwarzen Bevölkerung in Amerika. Eine Menge davon ist kulturellen Ursprungs.“
Die Schwarzen machen in Kalifornien nur sieben Prozent der Bevölkerung aus.
„Und ihr Anteil schrumpft, denn der Anteil der Latinos ist gewaltig und steigt. Vor dem Immigrationsreformgesetz von 1986 hatten die Schwarzen einen stabilen Anteil an der Gesamtbevölkerung. Wegen der gewaltigen asiatischen und mexikanischen Zuwanderung sinkt dieser Anteil. Und in Kalifornien kommt hinzu, daß Weiße das Land verlassen und nach Oregon oder Washington ziehen oder Montana. Und das ist schlimm, denn da beginnt die Gesellschaft auseinanderzubrechen.“
Michael Lind spricht von „Brazilianisation“.
„Das trifft zu. Warum soll ich, so fragt sich ein Bürger in Iowa, für die Immigranten in New York oder San Diego bezahlen? Ich glaube, das Land ist in Gefahr, auseinanderfallen, und das ist ein Argument, für jegliche Immigration ein Moratorium festzusetzen, also auch für die aus Europa, damit wir sehen können, ob sich die Gruppen ausbalancieren, stabilisieren und zu mischen beginnen, so daß wir nicht eine Stadt haben wie Los Angeles, die so voller Latinos ist, daß man sie zu Teilen für mexikanisch halten könnte. Aber die Mischung der Völker und Rassen braucht die Zeit von Generationen, und eine weiterhin unbegrenzte illegale Immigration verschärft das Problem. Ich stimme nicht mit Buchanan überein, aber auch nicht mit jenen, die eine Laissez-faire-Haltung dazu haben. Die Leute, die weit vom Schuß sind, entweder, weil sie Geld haben, oder weil sie im mittleren Westen leben, wissen nicht, was hier los ist. Die Liberalen und fortschrittlich gesinnten Leute verweigern diese Debatte einfach und sagen, du bist ein Rassist. Aber ich bin kein Rassist, ich rede nicht über Rassen, sondern über nationale Souveränität und darüber, wie es möglich ist, das Land zu erhalten.“
Warum ist Boyle so böse auf die political correctness?
„Wir sind niemals so nahe am Faschismus, nie so nahe am McCarthyismus gewesen. Im Wesentlichen wollen diese Leute die Diskussion abwürgen, die Meinungsfreiheit beschneiden, und in meinem Fall die Freiheit, mich in meinen Büchern mit Dingen zu befassen, die ich für wichtig halte. Wie ich schon sagte: Die Linken wollten es mir verwehren, für die Mexikaner zu sprechen, weil ich keiner bin. Ich sage nur: Fuck you, ich schreibe, was ich will. Das ist mein Beruf. Diese Leute können nicht logisch denken.“
Zum Verständnis des Vorhergehenden:
Der Ausdruck affirmative action wurde von der Kommission für Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt (Commission on Equal Employment Opportunity) geprägt, die Kennedy gegründet hatte. Diese Politik erreichte ihren Höhepunkt in Johnsons Great Society Ende der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre. Die Zentralregierung zog immer mehr gesetzgeberische Kompetenzen an sich, indem sie die aus der Bundeskasse finanzierten Hilfsmaßnahmen mit Auflagen verknüpfte. Sie zwang die Banken, bei der Gewährung von Baudarlehen über die soziale und rassische Herkunft der Darlehensempfänger Rechenschaft abzulegen, sie zwang jene Firmen, die von Staatsaufträgen abhängig waren, ihre Einstellungspolitik an den Quoten der Rasse und des Geschlechts auszurichten. Und vor allem machte Washington (im Verein mit entsprechenden Gerichtsurteilen) die Gleichstellung für die staatlichen Schulen und Universitäten verbindlich. Dazu gehörte das heftig umstrittene Busing-Thema, also der Bustransport von Kindern in oft entlegene Schulen, um die ethnische Durchmischung zu gewährleisten. Die privaten Firmen und Institutionen beugten sich oft auch dann dem politischen Druck, wenn die Regeln formal auf sie nicht anwendbar waren. Die weitgehend akzeptierte Idee der Chancengleichheit bedeutete in der Praxis eine gezielte Chancenverbesserung für diejenigen, die aus Gründen der Rasse (vor allem die Schwarzen, aber auch die Indianer) oder des Geschlechts (die Frauen) benachteiligt gewesen waren, und sie bedeutete zugleich eine Chancenverschlechterung für diejenigen, die bislang auf der Sonnenseite gestanden hatten. Der weiße männliche Bewerber, der verzweifelt nach einer indianischen Urgroßmutter sucht, um nicht gänzlich chancenlos zu sein, war immer mehr als nur ein konservativer Kneipenwitz. – Die Richter haben sich immer wieder mit dieser Problematik befaßt. 1978 argumentierte Lewis F. Powell, Richter am Supreme Court, in der oft zitierten „Bakke“-Entscheidung, daß rassische Diskriminierung illegal sei, daß also die Universitäten niemanden aufgrund seiner Hautfarbe ausschließen dürften (im gegebenen Fall den weißen Studenten Allan Bakke), daß sie aber generell die Rasse von schwarzen Studenten als „Plusfaktor“ in Anschlag bringen dürften, um historisches Unrecht wiedergutzumachen und „diversity“ in die Eingangsklassen zu bringen. 1996 entschied ein Bundesgericht (The 5th Circuit Court of Appeals), daß die University of Texas die weiße Bewerberin Cheryl J. Hopwood zum Studium zulassen müsse. Sie war abgelehnt worden, obwohl ihre Noten besser waren als die von 40 akzeptierten Schwarzen und besser als die von 52 akzeptierten Latinos. Der Kampf um die richtige Abwägung zwischen dem formalen Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz (Fourteenth Amendment) und und dem inhaltlichen Recht auf Chancenverbesserung (Civil Rights Act) hat nie aufgehört, und er hat sich in den letzten Jahren immer häufiger zugunsten des formalen Gleichheitsprinzips entschieden. Das erklärt sich auch aus den teilweise bizarren Auswüchsen der Gleichstellungspolitik. Damit sie formal einsichtig sei, bedarf es einer genauen Quotierung, und die wiederum basiert auf einer exakten Definition dessen, was als Minderheit zu verstehen ist. 1973 setzte das Federal Interagency Committee on Education fünf Rassen fest: American Indian or Alaskan Native, Asian or Pacific Islander, Black, White, Hispanic.