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Ulrich Greiner

Clemens Eich: "Das steinerne Meer"

Weshalb ist es so lästig, wenn sich eine Romanfigur hinstellt und langwierig einen Traum erzählt? Vielleicht deshalb, weil eine unnütze Verdoppelung geschieht: Das Erzählen eines Traumes tut so, als wäre der Roman drumherum die schiere Wirklichkeit, während wir einen Roman doch vor allem lesen, weil er eben nicht Wirklichkeit ist, sondern ein Als-ob, eine Fiktion. Wenn Literatur nicht immer auch Traum wäre, könnten wir ja gleich die Zeitung lesen und ansonsten selber träumen. Träume in der Literatur sind, anders als die Bacardi- und die Calvin-Klein-Träume, selten paradiesisch. Oft handeln Sie vom Entsetzen und von der Angst. Sie zu lesen kann hilfreich sein. Gelesene Alpträume sind weniger schlimm als geträumte. Indem der Autor sie erzählt, befreit er sich selber und auch den Leser.

Das steinerne Meer, der erste Roman des Schriftstellers Clemens Eich, ist ein Buch der Träume. Fast immer haben sie mit einer großen Angst zu tun. Aber Eich begeht nicht den Fehler, Träume als Träume zu erzählen. Seine Geschichte bewegt sich im Schattenreich zwischen Realität und Vorstellung, zwischen Wachheit und Halluzination, dort also, wo einbrechende Dämmerung die Konturen schärft und zugleich ins Unwirkliche entrückt.

Der Roman spielt in einem dicht an der deutschen Grenze gelegenen österreichischen Dorf, nicht weit von jenem Gebirge entfernt, das ihm den Titel gibt, dem „Steinernen Meer“. Am Morgen des Weihnachtstages geht der zwölfjährige Valentin hinab ins Dorf, um für den kranken Großvater ein Geschenk zu kaufen. Während der alte Ladenbesitzer den grünen Angoraschal einpackt, erzählt er von den Gebirgswanderungen seiner Kindheit: „Das Steinerne Meer ist oben eine kahle Steinwüste, die sich in Staffeln senkt. In den Talmulden liegen kleine Seen und Almen. Die Hochfläche ist unübersichtlich und wird von der Grenze über die ganze Fläche von Südosten nach Nordwesten durchschnitten.“

Von vielerlei Grenzen handelt das Buch: von der Staatsgrenze wie von der Grenze zwischen Kind und Erwachsenem, von der Grenze zwischen Sieg und Niederlage wie von der Grenze zwischen Ich und Welt. Die Grenze ist Abschluß und Übergang, Mauer und Durchlaß. Es gehört zu den bestechenden Eigenarten Eichs, daß er mit der überdeutlichen und sachlichen Präzision eines Träumenden schreibt, der sich im bedrohlichen Gespinst der Phantasien an den unstrittigen Details der Realität festhält.

Valentin, der davon träumt, Abfahrtsweltmeister zu werden, kennt die Sieger, ihre Läufe und Bestzeiten, aber natürlich geht es nicht um Karl Schranz (der am Ende des Romans die Weltmeisterschaft verfehlt), sondern der vorgestellte Abfahrtslauf ist Allmachts- und Angstphantasie in einem: „Mit eisiger Geschwindigkeit raste die Welt vorbei. Freigelegte Wurzeln, Wunden von Stämmen und Wipfel von Bäumen tauchten aus Senken entlang der Schneise auf, erhoben sich, gaben den Blick zum Tal frei, schossen hoch auf zum Himmel, duckten sich wieder zur Erde, ins Kleine, rauschten vorbei und waren verschwunden. Der Abhang schleuderte ihn weiter, er preßte sein Gewicht auf die, wie er meinte, ihm entgleitenden, davonfliegenden Bretter, sprang über einen gefrorenen Buckel, wurde in eine Mulde hineingedrückt, eine Grube, eine Schlucht schien sie ihm, schnellte in die Höhe, wurde hochgerissen zum eisigen, bleiernen Himmel, ruderte mit den Armen, geriet aus dem Gleichgewicht, fing sich im gleichen Moment wieder, schwang sich bergauf, um sofort aus der abweichenden, verlangsamenden Bewegung heraus den Steilhang wieder an sich zu reißen. Er stürzte davon, von der Geschwindigkeit hinuntergerissen, flog auf, leicht getragen von den Schiern, mühelos, schwerelos, und sie zugleich wütend bezwingend.“

Es kommt darauf an, dem Sturz vorauszueilen, wie einer, der, um nicht nach vorne zu kippen, ins Laufen kommt. Hielte er, so fiele er. Der Sieg ist das geglückte Stürzen, und dieser Traum zehrt von der Angst, zu langsam zu sein. Davon handelt das Buch. Die Geschichte des Großvaters, der sich auf dem Krankenlager, notdürftig versorgt von Valentin, an sein Leben erinnert, ist auch die Geschichte eines Lebenssturzes. In Wien, wo er einen Lebensmittelladen betreibt, strauchelt er, entfremdet er sich von der Frau und den Kindern, beginnt zu trinken und erfährt einen Alptraum, der in den Ebenen des Alltags beginnt und in den unterirdischen Verliesen einer Burg am Fuß des Gebirges endet.

So gespenstisch diese Lebensgeschichte oftmals anmutet, so realistisch und alltäglich ist sie dann wieder in der erzählten Situation, so daß der Leser, wie der Großvater und wie Valentin, nie ganz sicher sein kann, an welcher Stelle genau aus dem Laufen ein wirkliches Fallen und der Angsttraum Wirklichkeit wird. Und nicht immer ist klar, ob das stille Entsetzen, das den Roman begleitet wie ein kaum spürbares Beben, eine Entsprechung in der Wirklichkeit und eine Berechtigung hat. Die Eltern, die den Jungen und den Großvater wegen einer Bildungsreise nach Sizilien allein gelassen haben, sind wie verschwunden. Der pubertierende Knabe empfindet sie als fremde und ferne Wesen, und zu seinem Schritt in die Erwachsenheit gehört es, sich von ihnen loszusagen. Aber sie sind nicht da. Die Briefe der Mutter sammelt der Briefträger im Nachttisch. Auf einer Karte, die er durchläßt, heißt es, die Eltern seien wegen des Erdbebens von Messina an der pünktlichen Heimkehr verhindert. Das war 1908. Der Roman aber spielt, seltsam exakt, wie er oftmals ist, in der Zeit vom 1. November 1963 bis zum 1. Februar 1964. Der Großvater stirbt, der Junge verläßt das Haus. In Wirklichkeit geschieht zwar durchaus Dramatisches, aber: „Das war das Schlimmste, daß er sich dauernd am Rande des Schlimmstmöglichen seiner Vorstellungskraft befand, daß jedoch das Schlimmste nicht eintraf, nicht eintreffen wollte, und infolgedessen, wenn er die Dinge genau betrachtete, gar nichts passierte. Überhaupt nichts.“

Der eben noch verhinderte Sturz ist ja auch der Stillstand. Daß Schlimmes nicht geschieht, ist kein Trost, denn es könnte jederzeit geschehen, in dieser Schwebe, auf dieser Grenze zwischen Verharren und Taumeln. Und dann doch der Sturz, aber nicht der eigene. Zum Glück? Der hagere Sonderling, dem der Großvater in seinem Wiener Alptraum begegnet, steht Stunden später auf einer Zinne des Stephansdoms, und er springt. „Ein Zischen wie von einer Feuerwerksrakete zuerst oder ein heulendes Pfeifen wie ein Wind, der um die Ecke fährt, ein hoher Ton auf jeden Fall. Eine Art Schrei in der Luft, dort oben, wie bei Sportlern manchmal. Das Geräusch eines Pfeils, der abgeschossen wird, aus der Spannung des Bogens entlassen wird. Sirrend. Wenn einer die Luft scharf einzieht, bei einem Schreck, einer Anstrengung, einer Lust. Wenn einer Glocke im Läuten der Klöppel ausgerissen wird. Plötzlich ist der Ton weg. Nur noch ein Nachhallen. Nichts. Wie ein Sack, der in die Tiefe fällt. Der Aufprall. Ein Klatschen. Ein Zerschellen.“

In solchen Momenten ist der Roman am stärksten, in der schlafwandlerischen Zielstrebigkeit, in der zeitlupenhaften Verlangsamung, in der poetischen Suggestion der Traumwelt, die eine Form der Wirklichkeit ist. Dann schreibt Eich konzentriert, schreckensstarr und beherrscht zugleich. Um so seltsamer das Straucheln dazwischen, Sätze wie: „Ein zäher, verbissener, schweigender Kampf zweier umeinander züngelnder Flammen“ (kämpfen die?); plötzliche Ermattungen, die sich in einer umständlichen Sprache verraten („Der Tod der jüngsten Tochter, die ihr aller Leben erhellt hatte, verdüsterte dieses nun“). Dann aber wieder der wunderbare Satz eines klarsichtigen (österreichischen) Fatalismus: „Hader sah aus dem Fenster und hatte plötzlich keine Lust mehr, doch er wußte nicht, worauf.“ Störend manchmal der unorganische Perspektivenwechsel, der den Strom des Erzählens stocken läßt. Glücklicherweise dauern diese Aussetzer nie lange, aber schade sind sie doch. Erklärlich auch. Denn der Angsttraum (auch ein Glückstraum), dem eigenen Sturz durch ein schnelleres Stürzen zuvorzukommen, lebt vom immer wieder aufgefangenen Sturz.

Clemens Eich, Jahrgang 1954 und bislang durch den Gedichtband Aufstehn und Gehn (1980) und durch die Erzählungen Zwanzig nach drei (1987) hervorgetreten, ist, um eine Thomas-Bernhard-Sentenz abzuwandeln, mit seiner Angst noch nicht schwindelfrei vertraut. Wer wäre das je?

Clemens Eich: Das Steinerne Meer. Roman; Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1995

Erschienen in der ZEIT 1995




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