Die Lage des Landes: Der große Richard Ford erzählt uns zum dritten Mal aus dem Leben seines Helden Frank Bascombe, aber diesmal übertreibt er
Seit seinem ersten Roman Ein Stück meines Herzens (1976) hat sich Richard Ford langsam, aber stetig in die erste Reihe der amerikanischen Schriftsteller hineingeschrieben, und neben John Updike gibt es kaum einen, der das Leben der Mittelschicht so einfühlsam und anrührend beschrieben hätte. Frank Bascombe, Held seiner Romane Der Sportreporter (1986) und Unabhängigkeitstag (1995), ist der nette Nachbar von nebenan, harmlos, plaudersüchtig und gut situiert, aber gebeutelt von jähen, unverdienten Schicksalsschlägen: Tod eines Kindes, Scheidung der Ehe und abermals Unglück in einer neuen Liebe.
Frank Bascombe wäre uns nicht ans Herz gewachsen, wenn ihn nicht die unstillbare Sehnsucht nach Glück vorantriebe, die wahrscheinlich in uns allen wohnt, die sich aber bei Frank auf durchaus irdische und erreichbare Dinge richtet, auf einen guten Beischlaf, ein ermutigendes Gespräch mit der Frau hinterm Tresen oder „ein Jägersteak mit Salatbuffet im langsam rotierenden Dachrestaurant", wie es im Sportreporter hieß. Aber das Leben, das ihn in solch hellen Momenten mit einem Wärmestrom der Dankbarkeit erfüllt, steckt voll dunkler Gefahren, und die größten sind Alter, Krankheit, Tod.
Davon handelt der dritte Bascombe-Roman, den wir jetzt unter dem Titel Die Lage des Landes vor uns haben, und das Besondere an ihm ist, dass er seinen tristen Gegenstand mit einer gehörigen Portion an Witz und Komik traktiert. Frank, den wir als einen unverdrossenen Optimisten kennen, stolpert hier als Bruder Charlie Chaplins durch eine immer absurder werdende Szenerie.
Es ist der Tag vor Thanksgiving, und Frank, nunmehr Mitte Fünfzig, hat in seltsamer Anhänglichkeit den leicht senilen Vater seiner verflossenen Freundin Vicki vom Altersheim abgeholt, um mit ihm der Sprengung eines großen Hotelkomplexes beizuwohnen (der Alte nämlich sammelt mit seiner Videokamera Sprengungsszenen), und als Frank danach zu seinem Wagen kommt, findet er das Seitenfenster eingeschlagen. Kalter Novemberregen treibt ins Auto. Nach langer Suche gelangt er zu einer Werkstatt. Während der Gehilfe das Seitenfenster mit Pappe und Klebeband dicht macht, geht er in die nächste Bar und merkt zu seiner Freude, dass es genau der Ort ist, wo er vor langen Jahren mit Freunden manch sentimentalen Abend verbracht hat: „Schwerer, guter Bargeruch empfängt mich, als ich eintrete, überraschenderweise genau das Aroma, das ich in Erinnerung habe – schales Bier, Zigarettenrauch, Bootsteer, Urinalsteinchen, Popcorn, Wachs (für die Lederbänke) und Bodenreinigungsgranulat – ein positiver Geruch nach guten Aussichten, den allerdings wahrscheinlich bestenfalls Männer in meinem Alter schätzen.“
Letzteres ist ein Irrtum, denn aus dem Ort ist eine Lesbenbar geworden. Frau behandelt ihn zwar korrekt, aber er ist sichtbar fehl am Platz. Nach dem dritten Whisky sinkt sein Haupt auf den Tresen, der ganze Jammer das Daseins fasst ihn an und er weint. Dieses feminine Gebaren erregt das Missfallen der maskulinen Barkeeperin, sie hält ihn für besoffen und weist ihm die Tür. Verschweigen wir die bizarren Umstände seiner schlussendlichen Heimkehr, ersparen wir uns die Schilderung des folgenden Feiertags aller Feiertage, an dem die geplante Familienzusammenführung gründlich misslingt und der mit zwei glücklicherweise nicht tödlichen Schüssen in Franks Brust endet – man sieht an dieser Barszene, wie Ford das Tragische ins Komische auflöst und das letztendlich Erbarmenswürdige des menschlichen Lebens mit heiterem Sarkasmus bloßlegt.
Warum ist Frank so traurig? Das eine: Er hat Prostatakrebs (ob wirklich schlimm, weiß man nicht). Und das andere: Sally, mit der er seit sieben Jahren glücklich (wie er glaubt) verheiratet ist, hat ihn verlassen. Ihr tot geglaubter erster Ehemann, der sich wegen seines Vietnam-Traumas aus dem früheren Leben ins totale Inkognito verabschiedet hatte, ist plötzlich wieder aufgetaucht. Gewissermaßen im Gegenzug entdeckt Franks erste Ehefrau, dass sie ihren Ehemaligen vielleicht doch wieder liebt, und macht ihm äußerst verwirrende Avancen. All dies passiert just in jener Phase seines Lebens, die Frank in seiner liebenswert hausbackenen Privatphilosophie (wir kennen sie aus den vorangegangenen Romanen) „Permanenzphase“ nennt: Endlich sollen all die Turbulenzen der frühen Jahre in die ruhige Erntezeit des reifen Mannesalters münden.
Statt dessen: Unordnung und spätes Leid. Sein ewig infantiler Sohn Paul, mit dem er (wir erinnern uns) die aufreibendsten Konflikte hatte, der nun aber mit festem Job im hilfreich entfernten Kansas lebt (wir befinden uns erneut in New Jersey), taucht an Thanksgiving mit einer blonden Riesin auf und bringt seinen Alten zur Verzweiflung – was zu den komischsten Szenen des Romans gehört. Und die Tochter Clarissa, mit deren lesbischer Freundin er sich abgefunden hat, entdeckt ihre Hetero-Seite und schleppt einen Widerling an, vor dem er die Flucht ergreift. Frank ist wirklich bedauernswert.
Das wirklich Bedauerliche ist aber, dass uns Franks Schicksal nicht übermäßig nahe geht. Das liegt, um es offen zu sagen, ganz einfach daran, dass dieser dritte Bascombe-Band erheblich zu lang ist. Der Sportreporter hatte 480 Seiten, Unabhängigkeitstag 580 Seiten (und das war schon knapp an der Grenze). Die Lage des Landes aber hat 680 Seiten, und das ist zu viel. Nicht allein wegen der überbordenden Handlungsströme und -rinnsale, sondern vor allem wegen Fords ausufernder Beschreibungsmanie.
Frank ist ja immer noch Immobilienmakler, inzwischen ein erfolgreicher, und er ist aus Haddam weggezogen, um sich an der Küste in einem Haus mit Meerblick niederzulassen. Die Autofahrten mit seinem Junior-Partner (auch dessen Leben wird ausführlich geschildert) sind angefüllt mit stadtsoziologischen Diagnosen, kulturkritischen Reflexionen und endlosen Betrachtungen über Häuser, ihre Architektur und ihren Marktwert. Dazwischen lesen wir von beunruhigenden Signalen einer neuen Zeit, von einem Anschlag auf das Hospital in Haddam, was mit dem Anschlag auf Franks Auto und am Ende auf ihn selber das Bild eines ungut veränderten und bedrohten Amerikas ergibt. Dazu passt, dass der Roman kurz nach der Wahl 2000 spielt, als Bush seinen Gegner Al Gore unter obskuren Umständen besiegte. Die Zerrissenheit des Landes spiegelt sich in dieser Wahl und in den Gesprächen Franks mit seinen Kunden und Bekannten.
Vor allem aber ist der Roman zerrissen – zerrissen zwischen schöner Empathie und schriller Karikatur. Stellenweise wirkt das Buch geradezu wie ein Comic, angefüllt mit lautmalerischer Überdeutlichkeit: „Uuuuuuuhhuuuu“ (alter Mann im kalten Wasser); „Bumm, bummbumm, bumm. Bummedi-bumm. Bumm, bumm. Bummedi-bummedi“ (die Sprengung); „Brrrp-brrrp! Brrrp-brrrp! Brrrp-brrrp!“ (der Wecker); „Lugah-lugah-lugah, blett-blett-bletteblett“ (eine Harley). Genug mit diesen Beispielen (viele ließen sich hinzufügen). Die Verzerrungen ins Comic-hafte und Karikaturistische lassen den Roman angestrengt, gewaltsam erscheinen, und die letzten 80 Seiten sind eine unplausible Achterbahn der Schlüsse, Umschwünge und Neuanfänge.
Die erzählerische Ökonomie, als deren Meister sich Ford vor allem in seinen wunderbaren Kurzgeschichten zeigt, hat ihn hier nicht selten verlassen. Gegen Ende des Romans taucht plötzlich eine gewisse Bernice auf, eine hübsche Kellnerin, mit der unser armer Frank offenbar eine verheißungsvolle Nahezu-Affäre hatte. Verlassen von allen, die ihm lieb sind, steuert er die betreffende Kneipe an, erinnert sich in größter Ausführlichkeit seiner Begegnungen mit Bernice, malt sich die schönsten Möglichkeiten aus, aber dann ist die Kneipe geschlossen. Aus. Wir hätten gern mehr darüber erfahren, zumal Franks Trauer über den Weggang Sallys nun in einem etwas anderen Licht erscheint. Hat er sich ohne unser Wissen anderweitig getröstet?
In diesem Buch wirkt Ford wie gedopt. Mit geradezu wütender Inbrunst stapelt er immer neue Geschichten aufeinander. Es scheint, als hätte er seinen grandiosen Unabhängigkeitstag überbieten wollen, indem er die „Lage des Landes“, also die betrüblichen Veränderungen Amerikas in den betrüblichen Veränderungen seines Helden zu spiegeln versuchte (und umgekehrt), um dazu noch die gewaltigen Themen Liebe und Tod ebenso ernsthaft wie gelassen, zugleich aber zugespitzt ins Beispielhafte auf einem mittleren Immobilienmakler abzuladen. Das geht nicht gut, und so liest man den Roman mit äußerst gemischten Gefühlen, zeitweise gelangweilt durch seine besessene Ausführlichkeit, dann wieder begeistert von den Binnenerzählungen, wo sich Fords Einfallsreichtum und seine Fähigkeit zur sprechenden Szene aufs Schönste zeigen. Alles in allem: leider kein gelungenes Buch. Und dennoch eines, das aus dem Durchschnitt deutlich herausragt.
Den zwischen allen Sprachebenen hin- und herspringenden Roman zu übersetzen, hier den Maklerjargon oder den Herrenwitz und dort die pathetisch gehobene, aber philosophisch schlingernde Rede zu treffen, war eine große Herausforderung für den Übersetzer. Frank Heibert hat ihr glanzvoll entsprochen.
Richard Ford: Die Lage des Landes. Roman. Aus dem Englischen von Frank Heibert. Berlin Verlag 2007