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Ulrich Greiner

Durs Grünbeins Gedichte "Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond"

Was kümmert uns der Mond? Manche Kinder vielleicht kriegen noch Peterchens Mondfahrt vorgelesen, den vor 99 Jahren erschienenen Klassiker von Gerdt von Bassewitz. Und andere vielleicht kennen den Kindermondklassiker von Hergé, der uns Tim und Struppis legendäre Reise zum Mond zeigt. Auch die liegt schon lange zurück.

Struppi war der erste Hund auf dem Mond. Die ersten Menschen waren Neil Armstrong und Buzz Aldrin, und als sie 1969 mit taumelnden Schritten das ungemütliche Gelände betraten, war die Welt hingerissen. Ein alter Traum der Menschheit hatte sich erfüllt. Doch die Ernüchterung folgte rasch. Seitdem ist der Mond gründlich entzaubert. Wir haben gesehen: Er ist wüst und leer, der Mann im Mond ist eine Schimäre.

Und niemand mehr schreibt ein Lied an den Mond, niemand mehr singt von jener Mondnacht, in der es war, als hätt' der Himmel die Erde still geküsst, und niemand lässt den weißen Nebel wunderbar aus den Wiesen steigen, wie Goethe und Eichendorff und Claudius es noch vermochten.

Der Dichter Durs Grünbein findet sich damit nicht ab. Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond nennt er seinen neuen Gedichtband und will damit sagen: Auf dem Mond gewesen zu sein heißt nicht viel. Zurückgekehrt zu sein und die Erde als die Heimat der Menschen neu entdeckt zu haben: Das ist die eigentliche Sensation.

Nur wer zurückgekehrt ist, kann von seiner Reise erzählen – so wie es Cyrano de Bergerac in seinem postum (1657) erschienenen Bericht von seiner Mondfahrt getan hat. Cyrano, der Erfinder dessen, was man heute Science-Fiction nennt, ist Grünbeins Held, und er widmet ihm ein beglücktes Nachwort.

Die Mischung aus Fantastik und Wissen, aus Emphase und Witz, die Cyrano kennzeichnet, beflügelt auch Grünbein. Er ist ein Astronaut, der sich auf den Flügeln der Poesie über die Erde erhebt und hineinfliegt in den Kosmos, hinein in die Tiefe der Mythen, der Wissenschaftsgeschichte und der menschlichen Entdeckungslust.

Grünbein beginnt mit der Heimkehr des Mondfahrers: »Jemand hat ihn gesehen / Hinter den Hangars, wo die Fallschirmseide / Im Herbstwind raschelt«. Und dann heißt es: »Getrocknet sind ihm die Freudentränen. / Doch hört man ihn atmen, / konzentriert wie nie. / Er singt uns die Hymne, sein Wiederkehrlied.« Aber hört jemand zu? Schaut noch jemand hin, wenn der Mond, »der alte Pfannekuchen«, strahlt? »In allen Kinohöhlen sitzen Träumer. Jeder übt / Das Staunen dort im Abglanz des Planeten. / Wo sonst zeigt sich die Elegie der Erde ungetrübt?« Es sind ja, so heißt es am Ende des Gedichts, nur noch die Verliebten und die Astronomen, die sich für den Mond interessieren. »Der Rest lebt hinterm Mond. Ein gutes Omen?«

Wer den Mond näher betrachtet, sei es durch das Teleskop, sei es auf den Bildern, die das Netz bereithält, den weht etwas Unheimliches an, eine Kälte, eine Ahnung des Nichts. Davon spricht auch Grünbein: »Tycho tritt aus dem Schatten. Der mondene Tag / Fängt mit Enthüllungen an: nacktes Gestein, / Eine Landschaft, von Meteoriten zerhackt. / Das ist das Eine – reines, anorganisches Sein. / So viele Schlaglöcher, Krater, stumme Vulkane, / Und kein Empedokles, der den Weg hinab bahnt. / Licht fällt auf lila Gestein, das für keinen glänzt / Im Wechsel der Jahreszeiten – im Niemandsland. / Kosmisches Koma, Geröll ohne Transzendenz.«

Tycho ist der Name eines Kraters. Er hat einen Durchmesser von 86 Kilometern und ist 4850 Meter tief. Allein auf der Vorderseite des Mondes gibt es ungefähr 300000 Krater. Die kartografierten tragen die Namen von Astronomen, Philosophen, Dichtern, Mathematikern und mythischen Gestalten. Anders als im Weltall, wo die fernen Gestirne nur noch Nummern tragen, hat man die Landschaften des Erdmondes mit erdähnlichen und menschenähnlichen Zügen ausgestattet. Es gibt das Meer der Gefahren und den Ozean der Stürme, das Meer der Heiterkeit und das Meer der Ruhe, und die Krater heißen Euclides oder Cyrano, Rabbi Levi oder Novalis.

Manche dieser sprechenden Bezeichnungen gehen auf konkrete Vorstellungen zurück, andere sind völlig willkürlich. Und willkürlich sind auch die meisten Titel von Grünbeins Gedichten. Alle tragen sie Namen von Mondkratern. Manchmal kümmert er sich überhaupt nicht darum, ein andermal spielt er auf den Namensgeber an, etwa, wenn er in dem Gedicht Kepler sagt: »Dann kam ein Dämon aus Levania, der zog / Im Kegelschatten der Eklipse – alles schlief, / In jedem Jahr sich einen Träumer mit nach oben. / Er war es, der die Regenbögen bog, / Die See zum Rückzug von den Wattenküsten rief.« Kepler schrieb eine Art Roman, eine fantastische Traumerzählung, Somnium. Sie berichtet von einer Fahrt nach Levania, zum Mond.

So gleicht dieser lyrische Zyklus einem Rätselspiel, einer Schnitzeljagd, und der Leser wandelt auf Grünbeins Spuren, fliegt ihm hinterher, schlägt bei Wikipedia nach, blättert in Lexika, studiert Mondkarten und betrachtet zum Beispiel Adam Elsheimers Gemälde Die Flucht nach Ägypten (1609), auf dem sich der Vollmond nachthell im Wasser spiegelt: »Der Mond stand kopf in jener numinosen Nacht / Mit Joseph und Maria auf der Flucht. Auch sah / Ägypten aus wie ein Stück deutscher Wald. / Im Erdkern Sturm – und doch fand alles Halt: / Die Hirten um das Feuer und im See der Mond ... « Ein anderes Gedicht betitelt er Oresme, nach einem Krater auf der Rückseite des Mondes, der nach dem Bischof und Naturwissenschaftler Nikolaus von Oresme benannt wurde. Doch nicht von ihm erzählt das Gedicht, sondern vom Meister des Madrigals, von Gesualdo: »Und einer sammelte die Stimmen in der Nacht / Auf seinem Schloß – die sublunarischen Dämonen.« »Sublunarisch« ist ein schöneres Wort für Gesualdos Musik als »überirdisch«.

Obwohl sich der alte Mondzauber nicht mehr einstellen will – der Dichter bleibt dem Mond gewogen und schreibt am Ende: »Was ist der Mond? Der treue Hund der Erde, / Faktotum, Außenspiegel, schwankender Geselle, / In seiner Kahlheit eine wandelnde Beschwerde. / Ein Gong auch, lautlos, korrodierte Narrenschelle, / Ins All gehängt von dem Maestro allen Schwebens.« Die 84 Gedichte sind aphoristische Mini-Essays und philosophische Reflexionen, poetische Flugmanöver und abenteuerliche Exkursionen. Ganz und gar leichtfüßig sind sie.

Souverän spielt Grünbein mit der von Dante erfundenen Form der Terzine, lockt mit Endreimen, mit Binnenreimen und Assonanzen, bleibt aber ganz frei und heiter, evoziert den Hallraum der Tradition und denkt, spricht sie fort. Der aparteste Reim, der ihm hier gelungen ist, lautet: »Fern von Ägypten, allerorts, wo nun in drinks / Der Tag sich löste und die Nacht zerrann, / Sah er den Mond, vergaß den Flugsand um die Sphinx.« Neoromantische Nostalgie also liegt Durs Grünbein fern, dem wahrscheinlich sprachfähigsten, kenntnisreichsten und am meisten gebildeten Poeten unseres Sprachraums. Ebendies, dass er an die Tradition anknüpft und mit ihr umgeht, als wäre sie nie erloschen, macht ihn manchen Kritikern verdächtig. Sie mögen es nicht, wenn jemand mehr weiß als sie, und der Begriff bildungsbürgerlich ist ihnen ein Schimpfwort.

Das Gedicht bietet Raum für sehr vieles. Nicht allein das zagende Ich hat darin Platz, sondern auch das denkende und forschende. Wer Bildungsreisen nicht verachtet, sollte sich Grünbein anvertrauen, und diese hier ist äußerst erhellend, preiswert außerdem.

Durs Grünbein: Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond. Suhrkamp Verlag Berlin 2014, 150 S.




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