Home - Autoren der Gegenwart - deutschsprachige - Peter Handke - Die ganze Welt, das ganze Leben. Peter Handkes Roman "Mein Jahr in der Niemandsbucht"


 

 

Ulrich Greiner

Die ganze Welt, das ganze Leben
Peter Handkes Roman "Mein Jahr in der Niemandsbucht - Ein Märchen aus den neuen Zeiten" Von Ulrich Greiner

Beim Pferderennen, so definiert es das Lexikon, bedeutet Handikap, daß man leistungsschwächeren Teilnehmern ein Strecken- oder Zeitvorgabe gewährt oder die Stärkeren mit einem Gewicht belastet. Je höher das Handikap eines Wettkämpfers, desto grö-ßer sein Ansehen, sein Ruhm.
Peter Handkes Handikap war immer groß. Mit seinem ersten Theaterstück, der häufig aufgeführten Publikumsbeschimpfung (geschrieben 1965), mit seinem ersten Roman Die Hornissen (1966) wurde er berühmt. Und Buchtitel wie Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970) oder Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) wurden geflügelte Worte. Seitdem zählt Handke zu den Stars der literarischen Szene.
Zugleich aber wollte er immer ein anderer sein. Die frühe Attacke gegen die "Beschreibungsliteratur" und sein hochmütiges Bekenntnis "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" waren und sind ein esoterisches Programm. Seine Bücher brachten nie das Gekannte noch einmal und kaum das Erwartete. Immer waren sie ein neuer Meilenstein auf dem einsamen Weg dieses seltsamen Heiligen. Handkes Handikap besteht in seinem utopischen Anspruch: Die Phantasie soll an die Macht. Diesen Satz, der immer politisch verstanden wurde, versteht Handke poetisch. Sein Projekt ist die Poesie als Welt und die Welt als Poesie.
Wer so hoch hinaus will, ist vom Scheitern bedroht. Handkes neuer Roman Mein Jahr in der Niemandsbucht ist unter den rund zwanzig Bänden seines erzählerischen Werks, was Umfang und Anspruch betrifft, bei weitem der gewaltigste. Auf mehr als tausend Seiten schildert er das Projekt, sein Scheitern und sein Gelingen. Der Ich-Erzähler ist Schriftsteller und heißt Gregor Keuschnig. In der Stunde der wahren Empfindung (1975) sind wir ihm schon einmal begegnet. Keuschnig, dessen Ähnlichkeit mit Peter Handke beabsichtigt ist, befindet sich auf der Suche nach seinem Platz in der Welt und unter den Menschen. Er erzählt von seiner "Verwandlung", von der Krise seines Schreibens, von Begegnungen und Trennungen, er schildert das Leben seiner Freunde, ihre Wanderungen durch japanische Ödnisse und über schottische Hochmoore, ruhelos ruhige Spurensucher eines einfachen Geheimnisses, er erinnert sich des verfehlten Lebens ebenso wie der Augenblicke des Glücks in einer Pariser Vorortbar oder an der Promenade von Split.
In seinen schönsten Augenblicken ist dieses Buch ein Gesang über das Einverstandensein mit den Dingen, in seinen düstersten ein Dokument der Verzweiflung und in seinen anstrengendsten die Geschichte einer selbstbezüglichen Suchbewegung. Mein Jahr in der Niemandsbucht ist zunächst der Bericht über die Niederschrift eines Romans. Aber ein Roman ist das Buch nur dann, wenn wir der bewährten Regel folgen, jede Prosa einen Roman zu nennen, die mehr als 200 (wahlweise 300) Seiten umfaßt. Viel eher handelt es sich um die autobiographische Ästhetik Handkes. Autobiographisch, weil er darin, mehr noch als in seinen bisherigen Büchern, von seinem Schicksal erzählt; Ästhetik, weil er darin die Formen und Prinzipien seiner Wahrnehmung umfassend entwickelt.
Tausend-Seiten-Schwarten begegnet man zumeist auf jenen vorderen Buchhandelstischen, wo die Bestseller liegen, die Agententhriller, Liebesromane und Historiengemälde jener Autoren, die "umstandslos einsetzen und jetzt wie die Russen des neunzehnten Jahrhunderts, dann wie die Amerikaner in der ersten Hälfte des zwanzigsten" schreiben. Eine solche Literatur mag die Frau des Erzählers, und sie wirft ihm seine "Formgrübeleien" vor. "Und wenn ich dann weiterwetterte gegen die Bücher, die keinen Erzähler mehr hätten, sondern einen Conferencier, gegen alle die Lesefutterknechte mit einem so aufbereiteten Stoff, daß daran nichts mehr zu lesen bliebe, meinte sie, neidisch sei ich auch." Ihm aber kommt es vor, als hätte sich das Erzählen verbraucht, als wäre "ein Grundwebstoff fadenscheinig geworden", und er entgegnet: "Daß das Erzählen, das buchlange, nicht ohne die Katastrophen auskommen kann, habe ich nie begriffen. Ich bestreite dieses vermeintliche Gesetz. Es soll nicht mehr gelten, Ich will es anders."
Also nichts da mit Laras Tochter und Scarlett, aber auch keine Jahrestage und keine Strudlhofstiege. Hätte man sich derlei von Handke nicht endlich gewünscht? Daß er endlich, nach all den Präliminarien der "Journale" und "Versuche", beherzt in die Tasten griffe und nicht schon wieder den Nachmittag eines Schriftstellers (1987) schriebe, der diesmal ein ganzes Jahr dauert? "Bin ich denn in meinem Schreiberleben jemals hinausgekommen über solche Vorgeschichten? Seit je fühlte ich eine große Geschichte in mir, und sooft ich endlich die Vorgeschichte erzählt hatte, war damit auch schon das Buch zu Ende. Und ist es diesmal nicht genau wieder so gewesen?"
Ist es das? Die Lektüre der Niemandsbucht ist deshalb so ambivalent schön und schön ambivalent, weil in jedem Leser dieser langen Strecke der Lesefutterknecht erwacht und von Zeit zu Zeit rebelliert gegen die in sich kreisende Bewegung des Buchs. Wieder einmal besticht die heitere, spröde Genauigkeit von Handkes Sprache; wieder freut man sich über das wunderbare Wiedererkennen eines Bildes, das man selber hätte sehen können, hätte man nur die Kunst des Beobachtens geübt; wieder bestaunt man die bunten Steine des unentwegten Zuschauers und Sammlers. "War ich denn nicht schon immer ein guter Zuschauer gewesen? Dessen Art von Mitgehen hatte doch oft die Ereignisse nicht bloß beeinflußt, sondern gar erst geschaffen?"
Irgendwann in der Mitte jedoch, da man den Ausgangspunkt der Wanderung aus dem Auge verloren hat und das Ziel noch nicht sieht, packt einen der Verdruß: Darf einer tausend Seiten über das Schreiben schreiben? Aber das ist es ja nicht. Je näher das Ende rückt, um so mehr rundet sich der Bogen, um so deutlicher wird das Projekt in seiner Größe sichtbar, und man begreift, daß dieses Buch beides ist: die Geschichte eines Scheiterns und die Geschichte des Gewinns, der aus dem Scheitern hervorleuchtet. Das Projekt ist nichts Geringeres als die romantische Universalpoesie. Im Blüthenstaub schreibt Novalis: "Wir suchen überall das Unbedingte und finden immer nur Dinge", und später (Fragment 16) heißt es: "Ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg."
Nicht jedoch den zentraldeutschen Romantikern und ihren philosophischen Konzepten folgt Handke, sondern jener katholischen, konservativ utopischen, die weltliche Aufklärung überschreitenden Dichtung, wie sie der schlesische Freiherr von Eichendorff und die österreichischen Beamten Grillparzer und Stifter geschrieben haben. Die Niederschrift des Romans, die Keuschnig sich vorgenommen hat, "war der Kampf, den ich mir immer gewünscht hatte, der Krieg, aber nicht gegen einen äußeren Feind, sondern gegen mich selber. Das Buch, oder was es auch würde, war aus dem Nichts zu schöpfen." Es hatte dabei, so heißt es kurz darauf, "um nichts zu gehen als um das Erzählen von Vorgängen, friedlichen, die schon das Ganze und insgesamt am Ende vielleicht das Ereignis wären: das Strömen eines Flusses durch die Jahreszeiten; das Dahinziehen von Leuten; das Fallen des Regens, auf Gras, Stein, Holz, Haut, Haar; der Wind in der Kiefer, in einer Pappel, an einer Steinwand, zwischen den Zehen, unter den Achseln… Und trotzdem sollte das alles im Zusammenhang erscheinen und vibrieren, im Anklang etwa an Eichendorffs Ahnung und Gegenwart".
"Ich zitterte vor Begierde nach dem Zusammenhange", gesteht der Erzähler in Grillparzers Novelle Der arme Spielmann nach seiner Begegnung mit dem alten Stehgeiger, der "so viel Kunsteifer bei so viel Unbeholfenheit" an den Tag legt. Der Mann, dessen Geigenspiel gewöhnlichen Ohren schrecklich vorkommt, ist auf der Suche nach der "ewigen Wohltat und Gnade des Tons und Klangs, seiner wundertätigen Übereinstimmung mit dem durstigen, zerlechzenden Ohr". Die anderen Geiger, so bedauert er, spielten den Mozart oder den Bach, "aber den lieben Gott spielt keiner". Er hingegen, der immer denselben Ton "mit einer Art genußreichem Daraufberuhen" wiederholt, versucht, den lieben Gott zu spielen, den einen, einzigen, wahren Ton zu finden.
Gregor Keuschnig hat den Wunsch, "aufgehen zu können in einem fraglosen Erzählen", und dieser Traum "ist, wie ich schon spüre, gar kein Traum mehr. Das Bild ist übergegangen in einen Ton, einen stimmlosen, von mir nur zu erschmeckenden, womit, so mein Vorgefühl, etwas einsetzen und fortfahren und andauern wird, das dem, welcher es dann liest, ohne Laute zu hören geben und ohne Bilder zu schauen geben und ohne Geschmack zu kosten geben wird." Und dann kommt ein Satz, den wir als ein Gebet verstehen müssen: "Gib, daß ich zum Traumhaften zurückfinde, den Grundton bewahre und sonnenklar werde." Und direkt anschließend liest man eine der schönsten Landschaftsbeschreibungen, die Handke je geschrieben hat, aber was heißt schon Landschaftsbeschreibung: Es ist für einen Augenblick, als wäre das Gebet erhört, der wahre Ton.
Not lehrt beten. Dieses poetische Gebäude, das vor allem auch ein apriorischer Literaturbeweis ist, ein sich selbst zeugendes Münchhausen-Unternehmen, steht naturgemäß auf dem harten Boden des Novalis-Satzes: "Wir suchen überall das Unbedingte und finden immer nur Dinge." Nie gab es bei Handke solche Verzweiflung, solche Düsternis des Sichverirrens und Verlorengehens, nie auch eine derart schreckensvolle sexuelle Begegnung wie die mit einer nur "Freundin" genannten Frau oder einen derartigen Zweifel an allem Miteinander wie in Keuschnigs Streit mit der "Katalanin", seiner Ehefrau: "Ich habe, alt wie ich war, zu weinen angefangen, und wurde dabei so alt, wie ich war. Und ich hockte mich an die Stelle, wo wir eben noch einander fast umgebracht hätten, versank in die Betrachtung der sich überschneidenden Wühl- und Stampfspuren, samt entwurzeltem Gras und Erdbrocken, dachte, keine menschliche Rasse sei mir fremd, außer manchmal meine weiße und mehr noch die der Frauen."
Tiefer aber die Verzweiflung des Autors über sich und sein Projekt. Den Krieg mit sich selbst, auf den er sich gefreut hat, verliert er. Ein solcher Krieg kennt keinen Sieger. Zurückgezogen in das spanische Hochland, sitzt der Dichter vor dem Papier und ist in derselben Situation wie Konrad in Thomas Bernhards Roman Das Kalkwerk, dem es nicht gelingt, "die Studie vom Kopf aufs Papier zu stülpen". Der Zusammenbruch ist da. Keine Tragödie aber ohne Komödie. Der unzeitige Besuch des weltläufigen Verlegers ist einer der Wendepunkte der Geschichte: "Er flüchtete vor meinem Verzweiflungsschweiß rückwärts (insofern hatte er eine gute Nase) und gab mich sichtbar auf - was mich einen Abend lang wieder Mut fassen ließ."
Nach diesem Zusammenbruch geht es aufwärts. Der vierte, knapp vierhundert Seiten umfassende Teil nähert sich endlich der Utopie des Erzählens ohne Handlung und ohne dramatischen Gegenstand, jener Utopie, wie sie etwa der von Handke geliebte Stifter in seinem Nachsommer verwirklicht hat. Denn das ist ja das Ziel: Nicht die Katastrophe, nicht die ausgedachte Spannung, nicht das hergebrachte Weben und Wirken des literarischen Dramaturgen soll die Geschichte lenken, sondern die Bewegungsenergie soll aus der Sache und aus dem Autor selber, der nun eins mit der Welt ist, wie von selbst kommen, gleich jenem "sanften Gesetz", das Stifter in der Vorrede zu den Bunten Steinen formuliert hat, nur mit dem Unterschied, daß es nun weniger um das "Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers, das Wachsen der Getreide, das Wogen des Meeres, das Grünen der Erde" geht, wie Stifter wollte, sondern auch um die wartenden Pendler am Busbahnhof, um die von den vorbeifahrenden Zügen aufgewehten Kletterpflanzen am Bahndamm, um die letzten schweigenden Gäste eines Nachtcafes, um den kleinen Sohn eines armenischen Nachbarn, um die späten Heimkehrer auf einer nächtlichen Ausfallstraße, um den leeren Rucksack, der zusammengesunken in der Zimmerecke liegt.
Aufs neue erfüllt Handke jenen "habsburgischen Mythos", den Claudio Magris einmal als die österreichische Sehnsucht nach der imaginären Größe des verlorenen Reichs geschildert hat. Die Literatur, in deren Tradition sich Handke bewegt, von Stifter und Grillparzer bis hin zu Thomas Bernhard (der den Mythos bekämpft und dadurch belebt hat), diese Literatur weiß, daß ihr Reich nicht von dieser Welt ist. Ein Märchen aus den neuen Zeiten nennt Handke sein Buch, und er läßt es im Jahr 1997 spielen, in der nächsten Zukunft also, die so etwas wie Science-fiction nicht erlaubt, aber doch das mythische, utopische Programm des Buchs begründet.
Zugleich erkennt man am Ende, wie sorgfältig der Roman gebaut ist. Die Portraits der sieben Freunde, jedes 35 Seiten lang, bilden die Pforte, durch die sich der Weg ins Freie öffnet, in die Niemandsbucht. Sie ist der Niemands-Ort, der Nirgendwo-Ort, also Utopia - und zugleich jene Ansiedlung unweit von Versailles, in der Peter Handke alias Gregor Keuschnig seit einigen Jahren lebt. Umgeben von den Seinehügeln, bewohnt von einer nichtprominenten Mischung aus Parispendlern und Eingesessenen, ein Ensemble unbedeutender Häuser am Rande eines von Autobahn- und Eisenbahntrassen durchschnittenen Waldes wird dieser Ort zur ganzen Welt. Und je mehr er das wird, um so leichtfüßiger, hüpfender, selbstironischer wird Handke, da es ja nun auf nichts mehr ankommt als nur auf den endlich gefundenen Ton, der dann auch von einem heiteren Haß erfüllt sein kann, wie gegen den unerbittlich seinen Garten mit Maschinen aller Art traktierenden Nachbarn, den der Autor mit einem Knüppel bewirft, um später zu erfahren, der lärmende Unausstehliche sei ein nicht unbedeutender Schriftsteller, bekannt geworden durch seine Schrift Zen und die Kunst des Geräuschvollen.
Derart entspannt treffen sich am Ende die sieben Freunde, denen der Autor auf ihren Spuren durch die ganze Welt, durch Schottland und Slowenien, Japan und Spanien, Deutschland und Dalmatien gefolgt ist, Sucher sie alle, deren Heimat die Bahnhöfe und Straßenkreuzungen sind und deren Ziel die Sehnsucht ist, die, anders wäre sie keine, nicht gestillt werden kann. Die Freunde und der Autor treffen sich in einem Gasthaus des Vororts, nur der Sänger Emmanuel fehlt, verschollen auf der Suche nach dem "letzten Lied". Hätte er es gefunden, hätte dieses Buch nicht geschrieben werden müssen.
Die "Neue Welt", die hier gezeichnet wird, das "erzählende Gebet", das hier gesprochen wird, dieses Buch, "das die Welt neuweht", ist ein schönes und strenges Exerzitium, eine halsbrecherische Fahrt, vorbei an den Klippen des komischen Pathos und des freiwilligen Kitsches, auf dem Weg zu einer anderen, einer romantischen Literatur, die weder den Leitartikel noch den Hollywoodfilm nachahmt, sondern ganz bescheiden die ganze Welt und das ganze Leben noch einmal entwirft. Wenn das kein Handikap ist.

Peter Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht - Ein Märchen aus den neuen Zeiten. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1994

Erschienen in der ZEIT vom 2.12.1994


zum Seitenbeginn

blog comments powered by Disqus