Als ich einmal Peter Handke war Eine Reise nach Linz, wo sie ein prächtiges neues Musiktheater eröffnet haben
Kürzlich bin ich für einige Stunden Peter Handke gewesen, und das kam so: In Linz an der Donau haben sie jetzt ein prachtvolles neues Musiktheater eröffnet, und zwar mit der Uraufführung der Oper Spuren der Verirrten. Die Musik stammt von Philip Glass, das Libretto von Rainer Mennicken nach dem gleichnamigen Stück Peter Handkes. Der nun ist aus Wien angereist, zusammen mit seiner Frau Sophie. Sie hat dort einen Arzt aufgesucht, weil sie unter fürchterlichen Schmerzen leidet, Folge dessen, was der Volksmund einen Hexenschuss nennt. Es muss aber ein besonders böser gewesen sein. Handke nun liebt öffentliche Auftritte ganz und gar nicht, um es milde zu sagen, während Sophie ihre Freude daran hat. Als nun die feierliche Eröffnung naht, an der teilzunehmen der Dichter keine Lust hat, ergibt sich aus der Anwesenheit des Reporters die glückliche Lösung, dass dieser Sophie begleiten darf.
Wir haben uns am Eingang verabredet, ohne zu ahnen, dass das Gelände wegen der Staatsgäste weiträumig abgesperrt sein würde. Ein roter Teppich ist ausgerollt, und die erwartungsfrohe Menge staut sich hinter den Gittern, um den Auftritt des Bundespräsidenten und der übrigen Honoratioren samt festlich gekleideten Damen zu erleben. Der Reporter steht etwas abseits und beobachtet, wie ein "Austrian Security Team" für Ordnung sorgt. Alles geht aber sehr entspannt vonstatten, und der Einsatzleiter, der einen Kampfanzug trägt, ist mit Ausnahme einer Mineralwasserflasche völlig unbewaffnet.
Doch Sophie kommt nicht. Die Festgäste sind vorbeigeschritten, die Menge zerstreut sich, der Vorplatz ist leer. Da endlich erscheint ihre hohe, jetzt aber leicht geknickte Gestalt. Als gehöre das schon zur Spur der Verirrten, hat sie einen Irrweg durch die Absperrungen hinter sich. Gerade als man die Türen schließen will, eilen wir, so gut es eben geht, Sophie stützt sich auf mich, nach vorne und lassen uns als Letzte auf den Ehrenplätzen in der zweiten Reihe nieder. Es ist gut möglich, dass jetzt mancher denkt, Peter Handke habe sich doch sehr verändert. Nun erhebt sich die Versammlung und singt aus voller Kehle die Bundeshymne. Wir beiden scheinen die Einzigen zu sein, die den Text nicht kennen.
Was nun folgt, wäre in kaum einem anderen Land denkbar, jedenfalls in Deutschland nicht und in Frankreich, Sophies Heimat, erst recht nicht. Zwei geistliche Herren, der Diözesanbischof und der Superintendent, erscheinen auf der Bühne, sprechen im ökumenischen Wechselgesang ein Gebet und segnen gemeinsam das neue Haus. Der Katholik ist wegen seines Ornats und wegen des Weihwassers, das er in dreifacher Geste in Richtung Publikum sprengt, leicht im Vorteil. Österreich ist noch immer ein katholisches Land, und das merkt man auch an der Rede des Landeshauptmanns: "Ich danke dem lieben Gott, dass es in der siebenjährigen Bauzeit keinen Unfall gegeben hat." Mit Blick auf die Kosten sagt er seinen Lieblingssatz: "Kultur kostet viel Geld, aber Unkultur kostet noch viel mehr." Mit dem neuen Musiktheater sei Linz in die erste Liga europäischer Kulturstädte aufgerückt. "Wer von Wien nach Salzburg fährt, wird künftig in Linz aussteigen müssen!" Stürmischer Beifall.
Während der insgesamt dreizehn Reden und Grußworte, die durch musikalische Einlagen aufgelockert werden, rutscht Sophie unruhig auf ihrem Sitz hin und her, das Schmerzmittel wirkt offenbar nicht mehr. Aber sie bedeutet mir, bleiben zu wollen. Ein Aufbruch wäre äußerst auffällig, und der perfekt organisierte Festakt endet nach bekömmlichen zwei Stunden. Und er endet damit, dass sich die Versammlung aufs Neue erhebt und nun die Landeshymne singt. Wir befinden uns nämlich in Oberösterreich. Die "lieben Oberösterreicher und lieben Oberösterreicherinnen", wie eine der beiden Bundesministerinnen sie tituliert, sind nicht nur katholisch, sondern auch patriotisch. Ich stamme aus Hessen und habe von der Landeshymne nie etwas gehört (oder nicht aufgepasst).
Das Opernhaus wurde pünktlich und für die verabredete Summe fertig
Rainer Mennicken ist Deutscher. Er leitet das Landestheater seit sechs Jahren und ist des Lobes voll. Vor allem lobt er den Landeshauptmann, der die dreißigjährige Debatte über ein neues Musiktheater zu einem glücklichen Ende geführt und das Geld lockergemacht hat. Man muss sich das mal vorstellen: Die neue Oper wurde zum verabredeten Zeitpunkt und zur verabredeten Summe (180 Millionen) fertig. Der Reporter aus Hamburg traut seinen Ohren nicht.
Der Entwurf des britischen Architekten Terry Pawson ist (anders vielleicht als dereinst, dereinst die Elbphilharmonie) kein Meilenstein der Architekturgeschichte, aber er ist höchst passend, fügt sich elegant ins Stadtbild und bietet im Inneren eine Großzügigkeit, die nicht mit Einfällen protzt, sondern die Besucher willkommen heißt.
Mennicken wollte zur Eröffnung (wennschon – dennschon) eine Uraufführung und beauftragte damit Philip Glass, dessen Kepler-Oper 2009 begeistert aufgenommen worden war, als Linz Kulturhauptstadt war. Aber Mennicken kennt seine Linzer und wusste, dass es gut ankäme, wenn sich zu dem amerikanischen Komponisten ein österreichischer Autor gesellen würde. So kam er auf die Spuren der Verirrten, machte ein Libretto daraus und schickte es an Handke, der es gut fand. Es freute ihn, dass Mennicken sein 2006 geschriebenes Stück, das nur zweimal aufgeführt und danach vergessen wurde, entdeckt hatte.
Nach der Generalprobe allerdings, an der Handke dann doch teilnimmt, gesteht er, dass er die Fassung genauer hätte lesen sollen. Er findet nämlich das Ende jetzt zu bombastisch. In der Tat sind da rund 200 Akteure im Dienst. Teile des Orchesters haben den Graben verlassen, sind auf die Bühne umgezogen, und die zahllosen Verirrten, die zwei Stunden lang auf und ab gegangen sind, getanzt und gesungen haben, sinken erschöpft auf die Stühle des Orchesters nieder, während rechts vorn noch die Schlagzeuger spielen und von hinten ein Kinderchor anmarschiert, und alle singen den Refrain "Wo sind wir? Im Advent. Aber gerade war doch noch Ostern. Wo sind wir? In Tennessee. Aber gerade war das doch noch Alabama. Wo sind wir? Wo sind wir?", während sich die großflächigen Akkorde von Philipp Glass ins Enorme steigern (und es ist ein Wunder, dass der Dirigent Dennis Russell Davies das Ganze in straffer Zucht halten kann). Die Inszenierung von David Pountney ist unbestreitbar ein bisschen effektversessen und kraftmeierisch.
Dennoch ist Handke alles in allem zufrieden. Er findet es gut, dass die Musik nicht auf eine opernhafte Dramatik zielt, die nach Szenenbeifall verlangt, sondern ohne Unterbrechung immer weitergeht. So wie ja auch die Darsteller, teils Tänzer, teils Sänger, kommen und gehen, sich zu Szenen und Dialogen zusammenfinden, die allesamt kleine Schlaglichter auf elementare Formen menschlicher Begegnung werfen: auf Liebe und Hass, Feindseligkeit, Überdruss, Mitleid, Spott. Und wir hören, sehen immer nur Ausschnitte von Geschichten, deren Anfang wir nicht kennen, deren Ende wir uns ausmalen dürfen. Das war die formale Idee, sagt Handke. Sie kam ihm, so erzählt er, als er einmal in Paris zwei Schuljungen beobachtete, von denen einer eine schwere Tasche trug. Der andere wollte ihm dabei helfen, wurde aber rüde abgewiesen. Was war davor geschehen? Und wie würde es weitergehen?
Es schürzt sich also in den Spuren der Verirrten kein dramatischer Knoten, sondern es entfaltet sich ein Reigen von Bildern und Mikrodramen. Sie sind zum Teil überaus komisch, wie ja überhaupt der Humor bei Handke, wenn man dafür empfänglich ist, eine untergründige Rolle spielt. So wie in dem Zwist zwischen einem Helden, der fast umgekommen wäre, und einem Beobachter, der ihn ausschimpft: "Den Heldentod ist doch schon dein Vater gestorben. Wärst du doch in Detmold geblieben!"
Was immer gegen Philip Glass musikkritisch zu sagen wäre: Auf den Klangteppichen, die er unermüdlich ausbreitet, in allen Farben und Ornamenten, als wäre er ein orientalischer Weber oder Knüpfer, kann man beschwingt dahinfliegen. Glass hat an seinem Konzept des Minimalismus, das ihn berühmt gemacht hat, nicht ideologisch festgehalten. Er hat es ins Sinfonisch-Opulente ausgedehnt. "Es muss im Leben Raum für die Freude geben", sagt er jetzt zu mir, und es klingt, als hätte er seit Jahren Handke gelesen. Als ich ihm erzähle, ich hätte 1974 in New York eine Aufführung seiner Music with Changing Parts erlebt, ist er begeistert. Begeisterungslust scheint überhaupt ein Merkmal von ihm zu sein. Sie korrespondiert mit einer tiefen Melancholie, die am deutlichsten in der Musik zu dem seinerzeit berühmten Film Koyaanisqatsi (1982) Ausdruck gefunden hat.
Das Schöne aber an seiner neuen Komposition ist, dass sie einen Sinn für Humor hat und Handke sein Recht gibt. Der Text habe ihm, so erzählt Philip Glass bereitwillig, von Anfang an gefallen. Er sei " abstract and intimate, dark and funny ", er entfalte ein Panoroma des Menschlichen, es sei Luft und Raum in den Sätzen. Das komme ihm sehr entgegen. Als ich ihn nach seinem Deutsch frage (Glass ist jüdischer Herkunft), sagt er, er habe es in der Schule gelernt, könne es lesen, aber nicht sprechen. Unser Gespräch findet in einem Zimmer der oberen Geschosse statt, wohin uns ein längerer Weg über geräumige Treppenhäuser und Korridore geführt hat. Der Blick geht hinaus auf ein Atriumdach, wo Liegestühle in einem ersten Frühlingslicht stehen. Das neue Haus hat versteckte Qualitäten und ist größer, als es aussieht.
Es naht nun endlich die Premiere, und allseits herrscht größte Spannung. Ganz Linz steht wie unter Strom. Zwar scheint der unerschrockene Rainer Mennicken noch Herr der Lage, aber die Zahl der Anrufe und Nachrichten, die auf seinem mobilen Telefon eintreffen, wächst stündlich. Eine der Fragen, die ihn beschäftigen: Wird Handke an der Uraufführung teilnehmen, sich gar dem Publikum zeigen? Ein unglücklicher Zufall hatte es gefügt, dass Handke dem Landeshauptmann begegnet war und dieser im Vollbesitz seines verdienten Triumphes zum Dichter gesagt hatte: "Sie müssen zur Premiere kommen!" Darauf Handke, ebenso freundlich wie bestimmt: "Das Wort müssen will ich nicht gehört haben."
Unversehens ist aus dem Reporter ein Botschafter geworden, und seine Botschaft lautet: Handke wird wohl eher nicht kommen, wie schon nicht zum Festakt am Tag zuvor. So kommt es denn auch. Und wieder bin ich an der Seite der schönen Sophie, die noch immer unter der unbekannten Hexe leidet, und vertrete Peter Handke aufs Neue. An der Premiere nimmt alles teil, was Rang und Namen hat, darunter viele ausländische, vor allem amerikanische Journalisten, denn Philip Glass ist in seinem Heimatland ein Star. Er scheint übrigens der Einzige, den das allgemeine Fieber verschont. Mit geradezu überirdischer Gelassenheit ist er jederzeit zu einer Plauderei aufgelegt und verstrickt Sophie in ein längeres Gespräch, das ich nicht verstehe, weil mein Französisch zu schlecht ist.
Nach der mit allergrößtem Beifall aufgenommenen Premiere stehen Sophie und ich rauchend vor dem Eingang und erkennen, wie Handke aus der Tiefe des menschenleeren Stadtparks uns entgegenkommt. Mit seinem schwarzen Mantel, den eisgrauen Haaren und dem ausgreifenden Schritt sieht er aus, als wäre er seit Tagen gewandert. Er war auf der anderen Donauseite und hat dort eine Maultrommel gekauft, ein Geschenk für Philip Glass, der das Instrument offenbar nicht kennt. Wir gehen hinauf ins Foyer, wo die Premierenfeier tobt. Handke fremdelt, er mag Massen nicht und fragt unwirsch lächelnd: "Was wollen all die Menschen hier?" Wir finden Philip Glass neben einem kleinen Podium, wo Rainer Mennicken eben eine Rede hält. Glass und Handke werden nach vorne geschoben, und jetzt hat der Landeshauptmann doch recht bekommen. Handke steht oben und wird umjubelt. Trotz seiner 70 Jahre errötet er wie ein Junge, zieht aus der Manteltasche die Maultrommel, zupft ein paar Töne ins Mikrofon und überreicht sie Philip Glass. Wenn Glass demnächst eine Sinfonie für Maultrommeln komponieren sollte, dann weiß man jetzt, wie es dazu kam.
In Linz muss man sich auf die Spuren Adalbert Stifters begeben
Mit Handke in Linz zu sein heißt auch, über Stifter zu reden. Adalbert Stifter, der hier die längste Zeit seines Lebens verbrachte, war Schulrat und Landeskonservator und hat dafür gesorgt, dass der Kefermarkter Flügelalter vor dem Verfall gerettet wurde. Auf Handkes Anregung fahren wir dorthin. Kefermarkt ist ein 30 Kilometer nordöstlich von Linz gelegener Flecken, wo sich auf einem Hügel die Pfarrkirche erhebt. Als wir sie betreten, kommt eine junge Frau auf Handke zu. Die Österreicher kennen ihre Dichter. Sie stellt sich als die Küsterin vor und erzählt, ihre Tochter lese gerade Handke und sage ihr, auch sie müsse ihn unbedingt lesen. Sie bittet um ein Autogramm und schaltet zum Dank die Scheinwerfer an, damit wir den Altar besser sehen können. Er ist ein Wunder religiöser Kunst, entstanden um 1495. Den Künstler kennt man nicht. Das reiche, filigrane Schnitzwerk erzählt die Heilsgeschichte, als wäre sie gerade eben passiert.
Wir haben Stifters 1853 veröffentlichten Aufsatz dabei und lesen: "Mit einem Blicke steht das Ganze als Bild in den Augen. Man kann sich aber kaum etwas Mannigfaltigeres, Ausgearbeiteteres, Zahlreicheres denken als die Einzelheiten. Nicht nur die Figuren sind in ihren Körperteilen und Kleidern bis zu den Täschchen, die sie anhängen haben, ja bis zu dem Riemwerk und Knöpfen herunter sehr sorgsam gearbeitet, sondern auch die Verzierungen sind außerordentlich reich, gleichsam ein Wald von Mannigfaltigkeit. Tausende von Tulpen, Blättern, Stäbchen, Stangen streben als Ornamente empor und in ihnen wie in aufsteigende Weihrauchwolken eingestreut schweben die Figuren."
Und Stifter gelangt zu seiner modernitätskritischen Ästhetik der Einfachheit: "In einer gewissen Kindlichkeit, Unbeholfenheit, ja Fehlerhaftigkeit der Ausführung liegt doch ein Adel, eine Anspruchlosigkeit, eine Selbstgeltung, eine Strenge und Keuschheit, die unser Herz mit einem Zauber von Rührung und Bewunderung umfängt. Wenn unsere Zeit durch Anmaßung, Verrenkung und Übertreibung gleichsam mit den Mitteln die Wirkung überschreit, so sehen wir in diesem mittelalterlichen Kunstwerke schier keine Bemühungen, der Künstler tritt nirgends hervor, ihm scheint es nirgends um Wirkungen zu tun zu sein, die Gestalten leben in ihm, sie sind leibhaftig in seiner Frömmigkeit und Anbetung vorhanden, und wachsen aus ihm hervor." – So stehen wir denn lange schweigend da und staunen.
Zum Mittagessen sitzen wir im Bräuhaus von Freistadt. Unser Chauffeur ist dabei, und ein vierter Mann gesellt sich dazu, der Handke erkannt hat und sich als Ausstellungsmacher vorstellt. Wir trinken einen herben, kühlen Wein, eine weitere Flasche muss her, und später wird mir Handke sagen (als wolle er seine Auftrittsscheu erläutern), er liebe es, unter Menschen zu sein, aber vier oder sechs seien genug. Da könne man zuhören und reden und schweigen, ein Wort gebe das andere, man komme ins Sinnieren und Denken. So widerfährt es jetzt diesen vier Männern am Freistädter Wirtshaustisch. Mag sein, dass sie noch immer dort sitzen.