Home - Club der toten Dichter - deutschsprachige - Joseph Roth - Ich kenne die Welt nur, wenn ich schreibe


 

 

Ulrich Greiner

Ich kenne die Welt nur, wenn ich schreibe

Über Joseph Roth

Der folgende Essay wurde für den von Jochen Jung herausgegebenen Band Die großen Österreicher (1998) geschrieben.

Joseph Roth hätte sich gefreut, in eine Porträt-Galerie der »großen Österreicher« aufgenommen zu werden. Er wäre stolz darauf gewesen, und er hätte es selbstverständlich gefunden. Er liebte es, stolz zu sein. Zum 50. Geburtstag seines Verlegers Gustav Kiepenheuer (1930) schrieb er: »Er ist der ritterlichste Mann, den ich kenne. Ich auch. Das hat er von mir. Er verliert an meinen Büchern. Ich auch. Er glaubt an mich. Ich auch. Er wartet auf meinen Erfolg. Ich auch. Ihm ist die Nachwelt sicher. Mir auch.« Er war sich natürlich nicht sicher, daß ihm die Nachwelt sicher war. In jenem Geburtstagsgruß, der in Wahrheit eine pointierte Autobiographie ist, schrieb er auch: »Man druckte meine Dummheiten. Ich lebte davon. Ich wurde Schriftsteller.« Er wurde bekannt, er hatte Erfolg, als Journalist wie als Romancier. Aber als er am 27. Mai 1939 in Paris starb, war die Nachwelt nicht imstande, Joseph Roth zu ehren und zu lesen. Sie war im Begriff, sich selber in Schutt und Asche zu legen - ein Ende, das Roth als einer der ersten vorausgesehen und dem er sich in gewisser Weise durch seinen frühen Tod entzogen hatte, durch einen Tod, den man rückblickend als eine langsame Selbsttötung mit Hilfe des Alkohols begreifen kann.

Es gab zunächst keine Nachwelt für Roth. 1949 schrieb der Journalist Hermann Linden über die Nachkriegssituation: »Es wunderte mich kaum, daß der Name Roths, der vor 1933 durch immerhin einige hunderttausend Bücher bekannt geworden war, ein Name, der an der Spitze führender Zeitungen in Fettdruck gestanden hatte, der heutigen Leserschaft fast unbekannt war.« Das änderte sich lange nicht. 1956 erschien eine vorläufige, von Roths Freund Hermann Kesten herausgegebene Werkausgabe. Auch sie war nicht sehr verbreitet, blieb Kennern und Freunden vorbehalten. Es dauerte lange, bis man bei Erwähnung des Namens Roth nicht mehr hinzufügen mußte, man meine den österreichischen Schriftsteller Joseph Roth und nicht seinen damals viel bekannteren Namensvetter Eugen. Die Verspätung war auffällig. Während ungefähr gleichzeitig geborene Autoren wie Brecht, Benn, Kästner und Tucholsky gleich nach dem Krieg wieder gelesen und diskutiert wurden, begann das, was man Roth-Rezeption nennen könnte, zwanzig Jahre später. 1965 erschien der bis dahin nur fragmentarisch bekannte Roman Der stumme Prophet, und Roths erstes größeres Werk, das 1923 geschriebene Spinnennetz, wurde 1967 veröffentlicht. 1970 schließlich erschienen Roths Briefe, über die Karl-Heinz Bohrer schrieb: »Die Epoche explodiert, weint, stirbt in ihnen, bevor die Menschen starben.« Und im gleichen Jahr las man zum erstenmal jene in jungen Jahren geschriebenen Texte, die den späteren konservativen Monarchisten Roth als einen Anhänger sozialistischer Ideen zeigten. Günter Blöcker schrieb über die in der links stehenden Zeitung Der Neue Tag Anfang der zwanziger Jahre publizierten Feuilletons und Glossen: »Der Roth, den wir in diesen Arbeiten kennenlernen, läßt sich am ehesten mit Tucholsky vergleichen. Wie dieser kommt er desillusioniert aus dem Kriege und kompensiert seine Enttäuschung mit neuen Illusionen; und wie Tucholsky ist er so etwas wie ein Sozialist von eigenen Gnaden. Das alles ist von einer kühlen Genauigkeit, einer blitzenden Schärfe, einer federnden Eleganz, mit der verglichen Tucholsky sentimental und schwammig wirkt.«

Es wäre vielleicht nicht notwendig gewesen, Tucholsky herabzusetzen, um Roth zu erheben. Jedenfalls begann sich damals (und spätestens mit David Bronsens grundlegender, monumentaler Roth-Biographie, 1974) die Einsicht zu verbreiten, daß Joseph Roth nicht irgendein wortgewandter Feuilletonist und anmutiger Erzähler der zwanziger Jahre war, sondern ein großer Schriftsteller, der in der literarhistorischen Wertskala an die Seite von Schnitzler, Musil und Doderer gehört. Heute mag es selbstverständlich sein, Joseph Roth zu den großen Österreichern zu zählen, aber man sollte sich daran erinnern, daß diese Selbstverständlichkeit vergleichsweise jüngeren Datums ist.

2

In besonderem Sinn war Joseph Roth ein großer Österreicher. Er zählt zu den österreichischsten Autoren überhaupt. Er war zeitlebens auf sein Österreichertum stolz, und seine gegen Lebensende geradezu närrische Liebe zur längst untergegangenen Monarchie steigerte sich bei ihm zu einer konservativen, rückwärtsgewandten Utopie, die märchenhafte Züge annahm und mit den wirklichen politischen Verhältnissen nicht sehr viel gemein hatte. Irgendwo in seinem Herzen schien das auch Roth zu wissen, denn seinem letzten Roman, einer melancholischen Liebeserklärung an das alte Österreich, gab er den Märchentitel Die Geschichte von der 1002. Nacht (1939). Andererseits aber engagierte sich Roth, trotz seiner abnehmenden Kräfte und seiner zerrütteten Gesundheit, bis zum letzten Augenblick in jenen um Otto von Habsburg gescharten konservativen Kreisen, die in der Restauration der Monarchie das einzige Hilfsmittel gegen den Nationalsozialismus erblickten. Verzweifelt wehrte sich Roth gegen den drohenden »Anschluß«. Kurz vor der Annexion Österreichs im Jahre 1938 fuhr er im Auftrag der österreichischen Legitimisten, die im Pariser Exil lebten, und mit dem Einverständnis Otto von Habsburgs nach Wien, um mit dem Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg in Verbindung zu treten und ihn für einen Staatsstreich zur Rückkehr der Habsburger zu gewinnen. Die Mission wurde ein völliger Fehlschlag. David Bronsen berichtet in seiner Biographie, Roth sei, laut Aussage von Freunden, lediglich bis zum Polizeipräsidenten vorgedrungen, der ihm geraten habe, schleunigst das Land zu verlassen. Das war das komische, vor allem aber tragische Finale jener Apotheose Österreichs, die Roth in seinen Briefen, Aufsätzen und Romanen immer stärker betrieb, je unabwendbarer der Nationalsozialismus heranrückte.

Der politische und zugleich märchenhaft irreale Monarchismus war überaus typisch für Joseph Roth. Immer verbanden sich bei ihm diagnostische Scharfsicht einerseits, apolitische Mythomanie andererseits. Er war einer der ersten, die den deutschen Faschismus erkannten und ihm publizistisch Widerstand leisteten. Er war ebenfalls einer der ersten, denen die Ohnmacht dieses Widerstands immer deutlicher wurde. So blieben ihm nur Bitterkeit, Resignation und die Verklärung der Monarchie als eines verlorengegangenen Paradieses. Am 28. April 1933, kurz nach seiner Emigration, schreibt Roth an seinen Freund Stefan Zweig: »Die Welt ist sehr, sehr dumm, bestialisch. Ein Ochsenstall ist klüger. Ich sehe, daß wir den Wahnsinn in Deutschland nicht übertönen werden. Was mich persönlich betrifft: sehe ich mich genötigt, zu Folge meinen Instinkten und meiner Überzeugung absoluter Monarchist zu werden. Ich lasse in 6-8 Wochen eine Broschüre für die Habsburger erscheinen. Ich bin ein alter österreichischer Offizier. Ich liebe Österreich. Ich halte es für feige, jetzt nicht zu sagen, daß es Zeit ist, sich nach den Habsburgern zu sehnen. Ich will die Monarchie wieder haben und ich will es sagen.«

Das unter Schuschnigg zustande gekommene deutsch-österreichische Filmabkommen (1935) kommentiert Roth mit blankem Hohn: »Jene verantwortlichen Stellen, die den famosen ,Kulturaustausch' propagieren, behaupten ja offiziell, wir Österreicher und die Deutschen hätten eine ‚gemeinsame Kultur'! Was ist hier also noch an Kultur ,auszutauschen'? Was sollen wir austauschen? Den Grillparzer gegen Baldur von Schirach? Den Metternich gegen Goebbels? Europäische, christliche, abendländische Kultur gegen die Kultur des wahnwitzig gewordenen Piefke?« Diesem Piefke, der sich anschickte, Europa zu unterwerfen, wollte Roth nicht zu Diensten sein. 1938 gab er in einem Offenen Brief an den Reichsstatthalter für Österreich seinen Rang als österreichischer Offizier zurück: »Ich halte es nämlich für unvereinbar mit meinem Gewissen, als ehemaliger österreichischer Soldat und Kriegsteilnehmer möglicherweise in den Listen der preußischen Armee zu figurieren. Ich gedenke, Frankreich zu dienen, das Sie anzugreifen gedenken.«

In seinem Brief spricht er davon, er sei Leutnant gewesen. Dies ist eine der Rothschen Mystifikationen. Er war, wie Bronsen nachgewiesen hat, niemals Offizier. Er liebte es, seine kleinbürgerliche, bescheidene Herkunft im dunkeln zu belassen und widersprüchliche Auskünfte darüber zu geben. Als die Restauration der Monarchie für ihn zu einem lebensrettenden Projekt wurde, war es für ihn wichtig, seine eigene biographische Bindung an das alte Österreich, die in seinen jungen sozialistischen Jahren eher beiläufig gewesen war, als eine glanzvolle und geradezu symbiotische Beziehung zu begreifen. 1935 schildert Roth in einem Feuilleton für die »Wiener Sonn- und Montagszeitung« einen Besuch in der Kapuzinergruft, und er spricht zu dem dort aufgebahrten Kaiser Franz Joseph: »Lieber Kaiser! Ich habe Dir gedient, und ich habe Dich begraben, ich habe einmal, vielleicht im Übermut, versucht, Dich zu gestalten - - - und ich habe Dich überlebt. Im Tod noch aber bist Du stärker als ich. Vergib mir meinen Übermut!« Und er fügt hinzu: »Damals fühlte ich, daß ich ein Österreicher bin; ein alter Österreicher.«

Schon in jüngeren Jahren hatte Roth jenes Deutschland, in dem er lebte, verlegt und gelesen wurde, verachtungsvoll mit »Dtschld.« abgekürzt. Anfang 1926 schreibt er an Bernhard von Brentano: »Es ist mir mies vor Dtschld. Ich lerne jeden Tag mehr hassen und bin mit Verachtung zum Ersticken gefüllt. Die Sprache ist mir auch schon zuwider.« Später geht sein Abgrenzungsbedürfnis so weit, eine eigene österreichische Sprache zu behaupten. Die österreichischen Schriftsteller unterschieden sich von den deutschen, so schreibt er 1939, durch eine eigene Melodie, durch einen anderen Satzbau und gelegentlich sogar durch eine andere Grammatik. Eine Feststellung, der man zustimmen müßte, wäre sie bloß sprachkritisch gemeint. Roth aber verwendet sie als emphatisches Argument zugunsten seiner monarchistischen Utopie. Die aber geriet ihm zusehends irreal. Es entging ihm zwar nicht, daß viele Österreicher den »Anschluß« wollten, auch nicht, daß sich in Österreich derselbe Faschismus ausbreitete, den er in Deutschland geißelte. Geradezu masochistisch beschimpfte er die österreichischen Befürworter des Anschlusses als »Sozialdemokraten« und »Juden«; er, der sich selber einst zum Sozialismus bekannt hatte, er, der Jude war.

Man sieht, Roths Monarchismus war von Verblendung nicht frei. Aber es war eine sozusagen hellsichtige, eine verzweifelte und auch freiwillige Verblendung. Er hielt es nicht mehr aus, weder Deutschland noch die ganze schreckliche damalige Wirklichkeit. Er sehnte sich zurück nach einer Zeit, die niemals so existiert hatte. Wahrscheinlich wußte er das auch. Wahrscheinlich setzte er deshalb sein ganzes immenses literarisches Können ein, um dieser so niemals existent gewesenen Monarchie wenigstens eine literarische Existenz zu verschaffen. Das Maß seines Identifikationsbedürfnisses mit Österreich aber erklärt sich wohl nicht allein aus seiner politischen Verzweiflung. Es ist eine alte Weisheit, daß gerade die Randständigen das Zentrum lieben und lieben wollen, so wie Leute aus der Provinz die Metropole oft höher achten als deren Bewohner. Joseph Roth stammte aus der Kleinstadt Brody in Ostgalizien, unweit der russischen Grenze, aus einer Gegend also, wo jene Auflösungserscheinungen am deutlichsten sichtbar wurden, die Grillparzer bereits im Revolutionsjahr 1848 bemerkt hatte: »Die lächerliche Nationalitätsfrage hatte allen Volksstämmen der östreichischen Monarchie eine zentrifugale Bewegung eingedrückt.« Diese zentrifugale Bewegung war in den slawischen Ostgebieten, die nach dem Krieg folgerichtig von Rußland einverleibt wurden, naturgemäß besonders stark. Besiedelt war diese Landschaft vor allem von Juden, einem ewig heimatlosen Volk armer Bauern, Händler und Gewerbetreibender, deren Schicksal in der vergleichsweise toleranten. Vielvölkermonarchie noch am ehesten eine erträgliche Zukunft zu haben schien.

So läßt sich also vermuten, daß Joseph Roth gerade deshalb, weil er nicht aus den österreichischen, rein deutschsprachigen Kernlanden stammte, das Zentrum liebte: Wien, den Kaiser, die Monarchie; daß er gerade deshalb, weil er ursprünglich ein heimatloser Jude war, sich nach einer prächtigen Heimat sehnte. Er ernannte Österreich zu dieser Heimat. Aber er litt wohl auch gelegentlich unter der hochnäsigen Arroganz der Ur-Österreicher. In seinem vorletzten Roman Die Kapuzinergruft (1938) charakterisiert der Ich-Erzähler die jugendliche Großbourgeoisie der Hauptstadt: »Zu sehr verwöhnt aufgewachsen waren sie in dem von den Kronländern der Monarchie unaufhörlich gespeisten Wien, harmlose, beinahe lächerlich harmlose Kinder der verzärtelten, viel zu oft besungenen Haupt- und Residenzstadt, die, einer glänzenden, verführerischen Spinne ähnlich, in der Mitte des gewaltigen schwarz-gelben Netzes saß und unaufhörlich Kraft und Saft und Glanz von den umliegenden Kronländern bezog. Die Zigeuner der Puszta, die subkarpatischen Huzulen, die jüdischen Fiaker von Galizien, meine eigenen Verwandten, die slowenischen Maronibrater von Sipolje, die schwäbischen Tabakspflanzer aus der Bacska, die Pferdezüchter der Steppe, die osmanischen Sibersna, jene von Bosnien und Herzegowina, die Pferdehändler aus der Hanakei in Mähren, die Weber aus dem Erzgebirge, die Müller und Korallenhändler aus Podolien: Sie alle waren die großmütigen Nährer Österreichs; je ärmer desto großmütiger.«

Einmal noch, ein letztes Mal noch entfaltet Roth hier das Universum Österreich. Unverkennbar sind diese Sätze von Trauer und von Kritik erfüllt. Die sentimentale Verklärung der Monarchie betrieb Roth nur in seinen publizistischen Äußerungen, zu politischen Zwecken. In seinen Romanen gelingt ihm das scheinbar Unmögliche: die realistische Utopie. An anderer Stelle der Kapuzinergruft läßt Roth sein Alter ego, den Grafen Chojnicki, sagen: »Das Wesen Österreichs ist nicht Zentrum, sondern Peripherie.« Auch deshalb, weil Roth von der Peripherie kam, liebte er Österreich. Und Österreich war für ihn nicht nur Wille und Vorstellung, sondern auch Realität.

3

Joseph Roth muß allein deshalb ein großer Österreicher genannt werden, weil er den Radetzkymarsch schrieb, einen seiner schönsten Romane und der schönste Nachruf, der je einer Staatsform geschrieben worden ist. »Staatsform« ist ein Verlegenheitswort. Denn was war die Monarchie? Keine Nation, denn ihr gehörten viele Nationen an. Kein Volk, denn sie bestand aus vielen Völkern und vielen Sprachen. Keine Gesellschaft, denn die unterschiedlichsten Lebensformen, Traditionen und Religionen vereinigten sich in ihr. Daß sie überhaupt existierte, war ein historisches Wunder. Dieses Wunder hat Joseph Roth in seinen Romanen, und besonders im Radetzkymarsch (1932), immer wieder beschrieben. Aber was war sie für ihn, die Monarchie?

Joseph Roth gehörte einem Volk an, das nach seiner Vertreibung nie ein Vaterland besessen hatte, nie eine Nation gewesen war. »Es ist gewiß nicht der Sinn der Welt«, schreibt er in seinem Essay Juden auf Wanderschaft (1927), »aus ,Nationen' zu bestehen, und aus Vaterländern, die, selbst wenn sie wirklich nur ihre kulturelle Eigenart bewahren wollten, noch immer nicht das Recht hätten, auch nur ein einziges Menschenleben zu opfern. Die Vaterländer und Nationen wollen aber in Wirklichkeit noch mehr, noch weniger: nämlich Opfer für materielle Interessen. Sie schaffen ,Fronten', um Hinterländer zu bewahren. Und in dem ganzen tausendjährigen Jammer, in dem die Juden leben, hatten sie nur den einen Trost: nämlich den, ein solches Vaterland nicht zu besitzen.«

Dieses antizionistische Argument ist auch ein anarchistisches, und es könnte von Bakunin stammen: Schuld an den Kriegen und am Elend der Menschen sind die Staaten. Mit den Waffen des Nationalismus und Patriotismus führen sie die Völker in immer neues Unglück. In diesem Mechanismus sind die Juden wehrlose Opfer. Zugleich aber verkörpern sie in ihrem vaterlandslosen Dasein die Utopie einer von jedem Chauvinismus freien Menschheit. Die österreichische Monarchie, die ihrem Wesen nach jedem Nationalismus oder Patriotismus feind sein mußte, kam dieser Utopie am nächsten. Aber die Monarchie versagte: »Die alte österreichisch-ungarische Monarchie lieferte den scheinbar praktischen Beweis für die Nationalitäten-Theorie. Das heißt, sie hätte den Beweis für das Gegenteil dieser Theorie liefern können, wenn sie gut regiert worden wäre. Die Unfähigkeit ihrer Regierungen lieferte den praktischen Beweis für eine Theorie, die also durch einen Irrtum erhärtet wurde und sich durchgesetzt hat, dank den Irrtümern.«

Dem naheliegenden Gedanken, daß derlei »Irrtümer« vielleicht kein Zufall, vielleicht kein Produkt bloßer Unfähigkeit waren, sondern ein historisch notwendiges Faktum, geht Roth in diesem Essay nicht weiter nach. Im Radetzkymarsch jedoch greift er ihn auf und gibt ihm literarische Gestalt. Nunmehr erscheint das Schicksal der Monarchie als besiegelt, ihr Ende ist unabwendbar. Zwar spielt die Geschichte des Romans, beginnend mit der Schlacht bei Solferino 1859, endend mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, hauptsächlich mitten im tiefsten Frieden, in jenem Frieden, von dem es in der Geschichte der 1002. Nacht heißt: »Weit und breit herrschte ein satter, behäbiger, übermütiger Frieden in der Welt.« Aber dieser Friede ist für den, der Augen hat zu sehen, schon durchsetzt von den Anzeichen des Untergangs. Sogar der Bezirkshauptmann Trotta, Sohn des geadelten Helden von Solferino, der dem Kaiser das Leben rettete, sogar der Bezirkshauptmann, der mit angestammter Gelassenheit seine Amtsgeschäfte versorgt, kann nicht umhin, widrige, ihm höchst verhaßte Begebenheiten zu bemerken. Da gibt es Sozialdemokraten, die Resolutionen verfassen, ein Wort, das ihm schon allein deshalb äußerst fatal vorkommt, weil es durch den Austausch bloß eines Buchstabens zu dem noch schlimmeren Wort »Revolution« wird. Da gibt es allerhand »Individuen« (auch dies ein geradezu unanständiger Begriff) und schließlich aufrührerische Gruppen, die auf nationale Rechte pochen. Bei sich selber stellt Herr von Trotta kategorisch fest: »Es mochte viele Völker geben, aber keineswegs Nationen.« Immerhin findet noch allsonntäglich der Radetzkymarsch vor seiner Amtsvilla statt: »Die herben Trommeln wirbelten, die süßen Flöten pfiffen, und die holden Tschinellen schmetterten.«

Aber die tröstliche Musik vermag allmählich nicht mehr, das ferne Donnergrollen zu übertönen. Denn draußen in Ostgalizien, wo der Sohn als Infanterieleutnant dient und wo ihn der alte Trotta einmal besucht, dort ist »der Untergang der Welt bereits so deutlich zu sehen, wie man ein Gewitter, sieht am Rande einer Stadt, deren Straßen noch ahnungslos und glückselig unter blauem Himmel liegen«. Das Regiment gibt im Schloß des Grafen Chojnicki ein großes Fest. Tagelang zuvor herrschte brütende Hitze, Gewitterwolken wanderten am Himmel vor und zurück. Jetzt, da die Offiziere und die adligen Gäste sich entschlossen einem düsteren Rausch entgegen trinken, bricht das Gewitter los. Im selben Augenblick, in dem die ersten Blitze die derangierte Festgesellschaft beleuchten, meldet ein reitender Bote die Ermordung des Thronfolgers.

Zu den immer wieder erstaunlichen Qualitäten des Radetzkymarschs gehört, daß derlei unverblümte Metaphorik, die dem modernen literarischen Urteil problematisch erscheinen mag, nicht annähernd aufdringlich oder aufgesetzt wirkt. Indem Roth plausibel macht, daß der Untergang der Monarchie tatsächlich dem Untergang einer Welt und also der Welt gleichkommt, kann er es sich leisten, die himmlischen Mächte an der Inszenierung dieses Endes teilhaben zu lassen. Er ist insofern ein konservativer Autor; einer, der es einmal noch unternimmt, eine vergangene Epoche zu vergegenwärtigen, und zwar als etwas Ganzes, Abgeschlossenes. Dem es einmal noch gelingt, eine Welt zu entwerfen. Er benutzt dazu traditionelle literarische Mittel und führt sie zu höchster Vollendung, wie es später Doderer wieder versuchte. Musil läßt seinen Mann ohne Eigenschaften (1930) mit dem berühmten meteorologischen Lagebericht beginnen, in zweifellos modernerem Zugriff, dem aber Geschlossenheit nicht mehr gelingt. In seinen späten Romanen faßt Roth den Zustand des Abendlandes noch vor seiner Zersplitterung in Fragmente zu düsteren Gemälden zusammen, und der traditionelle Symbolismus gewinnt bei ihm neue Kraft. Schwärme von Raben sitzen unheilverkündend auf den Bäumen, lassen sich selbst durch Schüsse nicht vertreiben und künden vom schmählichen Ende des jungen Trotta. Tatsächlich fällt er kurz darauf im feindlichen Kugelhagel, aber sein Tod ist eine blutige Farce: er stirbt mit zwei Wassereimern in den Händen - Karikatur seines ruhmreichen Vorfahren, des Helden von Solferino. Eine Welt ist vergangen, und ihre letzten Zuckungen sind kaum mehr tragisch, sondern lächerlich.

Die Dialektik von Tragik und Komik beherrscht den ganzen Roman. Schon das erste Liebeserlebnis des Carl Joseph von Trotta ist gezeichnet von Vergeblichkeit und Tod. Die Frau des Wachtmeisters Slama verführt den jungen Kadetten und stirbt an der Geburt eines von ihm empfangenen Kindes. Nach dem förmlichen und peinlichen Kondolenzbesuch überreicht Slama dem Liebhaber seiner Frau devot ein Bündel Liebesbriefe, auf Anordnung des Bezirkshauptmanns. Bis zu diesem Zeitpunkt glaubte sich der junge Trotta (und mit ihm der Leser) im Alleinbesitz dieser kostbaren, verwirrenden, verschwiegenen Liebesaffäre. Nun erst erkennt er, daß sowohl der Vater als auch der betrogene Ehemann davon wissen. Dieser aber ist diskret aus anerzogenem Gehorsam gegen ranghöhere Personen, jener ist diskret, weil Diskretion zu den Charaktermerkmalen seiner Klasse gehört. Der Skandal gleicht dem Zittern eines stillen, unerschütterlichen Sees, wenn der Wind darüber fährt. Kurz darauf trifft der Bezirkshauptmann den Wachtmeister: »,Grüß Gott, lieber Slama!', sagt der alte Herr von Trotta. ,Nichts Neues, was?' - ,Nichts Neues!' wiederholt der Wachtmeister.«

So endet, tragisch und komisch, die einzige wirkliche Liebe des jungen Trotta zu einer Frau. Seine zweite Liebe ist die Freundschaft zu dem Regimentsarzt Demant. Er stirbt in einem Duell, einer Affäre wegen, in die Trotta verstrickt ist. Er wird in ein ostgalizisches Regiment versetzt, wo er seinem Kummer mit Hilfe des Alkohols zu entrinnen sucht, begleitet vom ewigen Quaken der Frösche in den Sümpfen ringsumher. Als der Vater ihn besucht, erlebt er einen völlig verzweifelten und betrunkenen Sohn: »Die Toten! Ich kann die Toten nicht vergessen! Vater!« Der Enkel des Helden von Solferino verfällt langsam der Agonie - ebenso wie die Monarchie. »Und keiner von den Offizieren des Zaren und keiner von den Offizieren der Apostolischen Majestät wußte um jene Zeit, daß über den gläsernen Kelchen, aus denen sie tranken, der Tod schon seine hageren, unsichtbaren Hände kreuzte.« Ein Satz, der später in dem Roman Die Kapuzinergruft wörtlich und mehrfach wiederkehrt.

Es ist ein Lied vom Tod, das Joseph Roth hier spielt. Die drei Teile des Romans bilden eine langsam sich beschleunigende Abwärtsbewegung: der erste Teil hat acht Kapitel und 115 Seiten, der zweite sieben (98 Seiten) und der dritte sechs (92 Seiten). Der erste Teil schildert die festgefügte Tradition, der zweite das Grenzland mit seinen Auflösungserscheinungen, der dritte die Apokalypse. Die sich nach unten senkende Spirale endet im Epilog, der den Tod des Kaisers und den Tod des Bezirkshauptmannes Trotta schildert. Das erste Kapitel beschreibt die Heldentat von Solferino, das letzte den unheldischen Tod Trottas. In jedem der drei Teile tritt der Kaiser auf, ein unendlich alter Mann am Ende, der die Geräusche der Welt nur mehr als ein sanftes Säuseln wahrnimmt.

Der Versuch, eine wirkliche historische Gestalt darzustellen, ist Roth später in seinem Napoleon-Roman Die hundert Tage (1935) mißglückt. »Das ist das erste und letzte Mal, daß ich etwas ,Historisches' mache. Der Schlag soll es treffen«, schreibt er 1935 an Rene Schickele. Entweder vergißt Roth im Augenblick der Niederschrift dieses Briefes sein Porträt von Franz Joseph I. im Radetzkymarsch, oder er begreift es nicht als ein »historisches«. In der Tat formt er das Bild des Kaisers nach seinem Geschmack und mit humoristischen Details. Er nimmt ihm die Erhabenheit und verleiht ihm eine private Individualität. Indem er seinen Bezirkshauptmann Trotta dem Kaiser physiognomisch ähnlich erscheinen läßt, bindet er die historische Gestalt in den Kosmos seiner Geschichte ein. Die Begegnung zwischen Kaiser und Bezirkshauptmann, in der Mitte des dritten Teils, ist der Höhepunkt des Romans, dem der Ausbruch des Ersten Weltkrieges als bloße Koda folgt. Es ist eine strenge musikalische Form, die Roth hier wählt, mit einer gemächlichen und sorgfältigen Exposition, mit teils wörtlich wiederholten, teils sinngemäß variierten Leitmotiven. Selten hat Roth so genau und liebevoll gearbeitet wie hier. Mit einem ihm sonst eher fremden Klassizismus komponiert er eine wahrhafte Abschiedssymphonie. Klassisch ist ihre Form. Modern aber und zeitgemäß die knappe und schlanke Sprache, die alles leicht und durchsichtig erscheinen läßt, die melancholische Ironie, die der im Grunde sentimentalen Fabel die Sentimentalität austreibt.

4

Zeitgemäß im Sinne von gegenwartsnah war der Radetzkymarsch schon 1934 nicht. Er markiert Roths Wende. Denn bis dahin war er ein dezidiert zeitkritischer Autor gewesen, der seine Romane im Stil der »Neuen Sachlichkeit« geschrieben hatte. Im Vorwort zur Flucht ohne Ende (1927), die er im Untertitel einen »Bericht« nennt, schreibt er: »Ich habe nichts erfunden, nichts komponiert. Es handelt sich nicht mehr darum, zu ,dichten'. Das Wichtigste ist das Beobachtete.« Natürlich dichtet er dennoch. Die Geschichte von Franz Tunda, der erst für die russische Revolution kämpft und später als ein heimatloser Fremdling den dekadenten Optimismus Westeuropas besichtigt, retardiert immer wieder in poetischen Szenen. Aber die Fiktion der Nichtfiktion blieb wichtig für Roth. In der Mitte des Romans heißt es: »Ende April erhielt ich folgenden Brief von Franz Tunda«, und Roth zitiert den langen Brief, der mit der Anrede »Lieber Freund Roth« beginnt. Auch in seinem nächsten Roman Zipper und sein Vater (1928) tut der Ich-Erzähler so, als berichte er lediglich die Lebensgeschichte seines Freundes Arnold Zipper. Am Ende schreibt er einen Brief an ihn und entschuldigt sich für die Unvollkommenheiten seines »bescheidenen Berichts«. Der stumme Prophet (1929) beginnt damit, daß der Ich-Erzähler in der Silvesternacht von 1926 auf 1927 in einem Hotel in Moskau sitzt und mit Freunden über einen gemeinsamen Bekannten, den Revolutionär Friedrich Kargan streitet. Schließlich erzählt er ihnen die Wahrheit über Kargan und schreibt später den nächtlichen mündlichen Bericht nieder. Der Satz »In meinem Zimmer schwebte der bekannte Zigarettendunst, den man aus den Romanen der russischen Literatur kennen dürfte« unterstützt polemisch den quasi antipoetischen Anspruch Roths. In Rechts und links (1928) mokiert er sich über die romanhaften Bedürfnisse der Leser, und einmal erzählt er eine Geschichte, die so banal sei, »daß man sich schämen würde, sie zum Beispiel in einem Roman zu erzählen«.

Der forsche Tonfall solcher Bekundungen aber verbirgt nur die Empfindsamkeit und Empfindlichkeit Roths. Er war ein äußerst genauer Beobachter und ein leidenschaftlicher Augenzeuge, und weil er so viel mehr als andere, stumpfere Zeitgenossen sah, spürte, ahnte, roch, bedurfte er des Schutzmantels eines scheinbaren Zynismus. »Seit jeher mangelt es mir an Herz. Seitdem ich denken kann, denke ich mitleidlos«, schreibt er einmal. Und: »Ich war ein besonders braver Junge, voll stiller Bosheit und gefüllt mit Gift, bescheiden aus Hochmut, erbittert gegen die Reichen, aber ohne Solidarität mit den Armen.« In solchen Äußerungen steckt bei aller Selbststilisierung, die Roth immer betrieb, auch Wahrheit. Jedenfalls pflegte er in den Romanen und journalistischen Arbeiten der zwanziger Jahre den Gestus des mitleidlosen Beobachters. Seine Sprache ist schneidig und schneidend. Dann aber ganz plötzlich, wie in einem erschreckten Innehalten, mitleidvoll und voller Poesie. Die zeitkritischen Passagen in Romanen wie Rechts und links, Die Flucht ohne Ende und Zipper und sein Vater, wo er die neureiche westdeutsche Bourgeoisie beschreibt, sind von einer geradezu höhnischen Schärfe und von kabarettistischem Witz. Sie lassen sich mit Tucholsky oder mit George Grosz vergleichen, und ihre Unbarmherzigkeit, Unbedingtheit macht die spätere Resignation plausibel.

Roth liebte Deutschland nicht. Während seiner ersten Reise nach Deutschland lernt Franz Tunda im D-Zug einen Herrn kennen. Sie befinden sich mitten im Gespräch: »Hier erfolgte eine merkwürdige Verwandlung des Herrn. Er war plötzlich um einen Kopf größer, seine trüben Augen blitzten kühn und blau, über seiner Nasenwurzel erschien ein winziges Koordinatensystem aus Falten - ,verzeihen Sie', sagte der Herr mit vorgeneigtem Oberkörper: ,Staatsanwalt Brendsen'. Gleichzeitig schlugen seine Fersen mit scharfem Knall zusammen. Tunda glaubte einen Augenblick, seine Verhaftung stünde bevor.« Zugleich aber ist Die Flucht ohne Ende der Versuch, dieser präfaschistischen, verlogenen, geschäftstüchtigen, sentimentalen Bourgeoisie ein anderes Bild entgegenzusetzen: das Bild des modernen Romantikers, der einsam und frei das Panorama der Städte und Gesellschaften durchstreift und nirgends eine Heimat findet. Am Ende des Romans heißt es: »Es war am 27. August 1926, um vier Uhr nachmittags, die Läden waren voll, in den Warenhäusern drängten sich die Frauen, in den Modesalons drehten sich die Mannequins, in den Konditoreien plauderten die Nichtstuer, in den Fabriken sausten die Räder, an den Ufern der Seine lausten sich die Bettler, im Bois de Boulogne küßten sich die Liebespaare, in den Gärten fuhren die Kinder Karussell. Es war um diese Stunde, da stand mein Freund Tunda, 32 Jahre alt, gesund und frisch, ein junger, starker Mann von allerhand Talenten, auf dem Platz vor der Madeleine, inmitten der Hauptstadt der Welt, und wußte nicht, was er machen sollte. Er hatte keinen Beruf, keine Liebe, keine Lust, keine Hoffnung, keinen Ehrgeiz und nicht einmal Egoismus. So überflüssig wie er war niemand in der Welt.«

Dieses Gefühl der Heimatlosigkeit beschreibt Roth immer wieder. Er selber hatte ja auch nie, von einer kurzen Ausnahme abgesehen, eine Wohnung, hauste immer nur in Hotels und aus Koffern. Er wechselte die Zeitungen wie die Städte, ein Jude auf Wanderschaft quer durch Europa, lebte in Berlin, Paris, Amsterdam, reiste durch Polen, Rußland, Albanien, Frankreich. Er war, wie Hermann Linden schrieb, ein Zivilisationsnomade, an keinem Ort zu Hause, immer unterwegs, auf der Suche nach einer Heimat. In Cafes und Kneipen schrieb er seine Romane und Feuilletons. Wollte man die Stationen und Fahrten seines Lebens auf einer Karte Europas einzeichnen, es käme ein wirres Geflecht von Linien heraus, ohne Zentrum und ohne Ziel. Unbehaust war er nicht nur deshalb, weil er Jude war. Es war auch ein Kennzeichen seiner Generation, jener, die aus dem Krieg in die Fremde heimkehrten. »Wir sind irrtümlich zurückgekommen«, heißt es in Zipper und sein Vater, »daß wir nicht freiwillig sterben, ist alles.« Und am Ende schreibt der Autor in seinem Brief an Zipper: »Wir werden uns nie verständlich machen, wie Dein Vater es noch konnte. Wir sind dezimiert. Wir sind zu wenige.« Das Beispiel Paul Bernheims (Rechts und links) macht klar, »wie die Tapferkeit sich im Ablauf der Geschlechter erschöpft und um wieviel schwächer die Söhne sind, als die Väter es waren«.

Das Motiv der schwachen Söhne und starken Väter beherrscht nahezu alle Romane. Einzig in seinem wunderbar leichtfüßigen Frühwerk Hotel Savoy (1924) bleibt der Kriegsheimkehrer Gabriel noch frei von Resignation. Aber auch er sagt: »Ich bin ein Einzelner und habe kein Gefühl für die Gemeinschaft. Ich bin ein Egoist.« Auch er fügt sich den süßen Schmerz der Einsamkeit zu, erfährt sie als Entbehrung und Wollust zugleich. Einsam sind alle Helden bei Joseph Roth. Einsam, weil schwache Söhne starker Väter, wie Arnold Zipper und Paul Bernheim, Carl Joseph Trotta und Franz Ferdinand Trotta (Die Kapuzinergruft), Tarabas und Golubtschik (Beichte eines Mörders). Einsam, weil heimgekehrt aus dem Krieg und nunmehr unfähig, sich der neuen Tüchtigkeit anzuschließen, wie Andreas Pum (Die Rebellion), Franz Tunda und Friedrich Kargan. Einsam schließlich, weil sie alle nicht imstande sind, zu Frauen eine dauerhafte und beglückende Beziehung zu entwickeln. Schon Gabriel, der die schöne Tänzerin Stasia liebt, aber unbeholfen und stolz ihre Liebe verscherzt, resümiert: »Die Frauen begehen ihre Dummheiten nicht wie wir aus Fahrlässigkeit und Leichtsinn, sondern wenn sie sehr unglücklich sind.« Nicht das Unglück der Frauen jedoch schildert Roth, sondern immer wieder das Unglück der Männer. Wenn sie lieben, dann irren sie sich, und niemals begreifen sie das unbegreifliche, rätselhafte, widersprüchliche Wesen der Frau. Manchmal werden sie geradezu ihr wehrloses Opfer, wie Andreas Pum etwa, oder sie geben sich Frauen hin wie einem fremqen, bösen Rausch. Der Niedergang des Anselm Eibenschütz (Das falsche Gewicht, 1937) ist verursacht durch Frauen: durch die eigene, die sich ihm verweigert und ihn betrügt, durch die fremde, die ihn in sexuelle Hörigkeit treibt und vernichtet. Und der Stationschef Fallmerayer (in der gleichnamigen Erzählung von 1933) verfällt einer russischen Gräfin, verläßt Weib und Kind und verschwindet am Ende spurlos. Arnold Zipper und Franz Ferdinand Trotta aber leben mit Frauen zusammen, die lesbisch sind oder lesbisch tun und sich so den Männern tückisch entziehen. Einzig dem Porträt der Mizzi Schinagl, die den aus Dummheit gewissenlosen Baron Taittinger vergeblich liebt und seinetwegen zur Prostituierten wird, widmet Roth eine gewisse Sympathie (Geschichte der 1002. Nacht). Aber auch hier ist das Unglück, ist der Niedergang Taittingers das eigentliche Thema des Romans. Im Falschen Gewicht taucht der Wachtmeister Slama wieder auf und erzählt einmal, er sei von seiner Frau mit dem Sohn des Bezirkshauptmannes betrogen worden.

Wollte man die in den Romanen verstreuten Bemerkungen Roths über Frauen sammeln, man stieße auf ein düsteres, pessimistisches Frauenbild. Es ließe sich möglicherweise biographisch erklären, durch seine vaterlose Kindheit, durch eine offenbar heikle Mutterbeziehung und durch die Ehe mit einer früh gefährdeten und bald an Schizophrenie erkrankten Frau. Aber solche Psychologisierungen haben immer etwas Rechthaberisches, und zur literarischen Bewertung tragen sie nicht viel bei.

Zur literarischen Bewertung aber gehört das Eingeständnis, daß einige und gerade die frühen Romane von Joseph Roth etwas Unfertiges, Unausgeführtes haben. Sie wirken hastig, ungeduldig, kurzatmig. Ihr Umfang ist ja auch gering, schwankt in der Regel um hundert Seiten. Schön sind immer die Anfänge, bestechend die Exposition und Charakterisierung der Figuren. Aber wenn es darum geht, die einzelnen Handlungsstränge weiter zu verfolgen, das Szenarium der Personen episch zu entfalten, dann bricht Roth sehr häufig ab, beginnt zu kommentieren anstatt zu erzählen, selber zu reden, anstatt reden zu lassen, und biegt die verheißungsvoll begonnenen und vielfältigen Linien der Geschichte zu einem schnellen Ende zusammen. Niemals zwar leidet seine Sprache darunter. Die bleibt immer wunderbar einfach, strahlend treffsicher, aber seine Meisterschaft beschränkt sich allzu oft darauf, Situationen zu entwerfen, anstatt eine kontinuierliche Vielschichtigkeit durchzuhalten. Dies hat sicherlich auch mit den Produktions bedingungen zu tun. Roth, der notorisch. unter Geldmangel litt, der, wenn er Geld hatte, es mit vollen Händen ausgab, und wenn er keines hatte, schamlose Bittbriefe schrieb, vor allem an den begüterten Freund Stefan Zweig, Roth produzierte sehr schnell und hatte immer damit zu tun, den gezahlten Vorschüssen hektisch hinterherzuschreiben. Viele seiner Romane kamen schon als Fortsetzungsabdrucke in die Zeitungen, da er das Buch kaum konzipiert, geschweige denn zu Ende gebracht hatte. So blieb ihm wenig Zeit zur Besinnung und keine Möglichkeit, eine Geschichte umzuarbeiten oder ausreifen zu lassen. Vielleicht ging ihm das Schreiben manchmal zu leicht von der Hand. Er war ja in jungen Jahren vor allem Journalist, gewohnt, schnell zu reagieren und schnell zu produzieren. Er war ein Meister der kurzen Form, des blitzenden Feuilletons, der pointierten Reportage, und der Rhythmus seines Schreibens vertrug sich nicht immer mit einer so ausladenden und gemächlichen Gattung, wie sie der Roman im Grunde ist.

So sind viele seiner Romane verkappte Erzählungen, geboren aus einem einzigen wirkungsvollen Einfall, aufblühend in scharf beobachteten Szenen und in poetischen Augenblicken, aber schon früh auf die Pointe der Geschichte zusteuernd. Deswegen sind Roths Texte niemals langwierig und langweilig, niemals breit oder umständlich, immer haben sie jene für ihn typische Schnelligkeit, Beweglichkeit, Schlankheit. Aber das führt dazu, daß vor allem die Nebenfiguren oft nur karikaturhaft verzerrte und verknappte Statisten sind. Man amüsiert sich über sie, bewundert die apercuhaften Wendungen, die satirische Kraft, aber sie prägen sich nicht ein, ihr Leben ist von des Autors Gnaden und also nicht lang. Dieses Unbehagen schwindet jedoch, wenn man die Romane nacheinander liest und sie als ein zusammengehöriges Ganzes betrachtet. Dann fügen sich plötzlich die fragmentarischen Teile zu einem einzigen traurigen und schönen Gemälde zusammen. Es erzählt uns von der Einsamkeit und vom Tod, aber auch von der Liebe, die immer noch eine Himmelsmacht ist, so vergeblich sie auch scheint, von der Lüge und vom Scheitern, aber auch von jenem ephemeren Glück, das dem Menschen immer noch widerfährt. Zunächst sind es die Städte und Landschaften, die Roth immer wieder beschwört: die ostgalizischen Ebenen mit ihren Sümpfen, ihren ärmlichen Dörfern und ihren hitzegeschwängerten Himmeln, die Cafes in Wien und Paris, wo die Nomaden der modernen Welt sich am Kaffee wärmen, der Dschungel der Städte, die Straßen, die Bahnhöfe, die Hotels, schließlich die Grenzschänke zwischen Rußland und Österreich, wo Deserteure und Auswanderer verkauft werden, wo der Arm des Gesetzes kurz und schwach ist. Hier hausen Jadlowker (Das falsche Gewicht) oder Parthagener (Der stumme Prophet), und hier macht immer wieder der geheimnisvolle Kapturak seine finsteren Geschäfte. Da gibt es die mächtigen, dunklen und vitalen Gestalten wie Brandeis (Rechts und links) oder Zwonimir (Hotel Savoy), Tarabas oder Savelli (Der stumme Prophet), die zweifelnden, heimatlosen Intellektuellen wie Friedrich Kargan oder Franz Tunda, die schwachen Opportunisten wie Paul Bernheim oder Taittinger, und dann natürlich die verspäteten, melancholischen Trottas, die klugen und die bösen Chojnickis, und dazu die Nebenfiguren, die das Inventar dieses Kosmos vervollständigen: die Diener (Onufrij und Jacques), die Juden (Mendel Singer, Grünhut, Kristianpoller), die Verräter und gewissenlosen Schwächlinge wie Theodor Lohse und Theodor Bernheim. Immer wieder tauchen diese Menschen auf, oft unter demselben Namen, unter geringfügig veränderten Umständen, immer wieder diese Schauplätze und Situationen. Im Grunde hat Roth in all seinen fünfzehn Romanen einen einzigen Roman geschrieben, den Roman des Mannes (und immer sind seine Hauptfiguren Männer), der zur Modernität, zum Leben in der Gegenwart verdammt ist, der diese Wirklichkeit aber nicht erträgt, sondern der flieht, in die Einsamkeit, in die Revolution, in die Vergangenheit. Alle diese Fluchten aber sind zum Scheitern verurteilt. Ihr Scheitern beweist: dieser Wirklichkeit ist nur mit dem Märchen, mit der Legende beizukommen. Dieses Märchen, diese Legende hat Roth geschrieben, den Hiob, seinen schönsten Roman.

6

Der Hiob, 1930 geschrieben, markiert die Abkehr Roths von seinen zeit kritischen Romanen, ist aber noch frei vom Monarchismus der späteren. Er ist einzigartig für Roth: weil er nie sonst ein derart vollkommenes Werk schuf, weil nirgends eine Geschichte bei ihm so friedvoll und tröstlich endet, weil seine Sprache selten so bis zum letzten Satz konzentriert und ausgeruht war. Der Hiob ist einzigartig für die Literatur: weil die Gattung der frommen Legende weder vor ihm noch nach ihm dieses literarische Niveau erreicht hat. Denn es ist eine fromme Legende, die er hier erzählt, aber fromm nicht im Sinne von unbedarft, sondern im Sinne von weise. Daß die Geschichte des Juden Mendel Singer, der aus Ostgalizien nach Amerika auswandert und dessen Leben einen Verlauf wie das des biblischen Hiob nimmt, am Ende gut ausgeht, ist ein Wunder, das nicht erklärt werden kann. Es ist ein Wunder, das Gott selber gewirkt hat und bei dem es ganz unerheblich ist, was der Autor (oder der Leser) davon hält und ob er an Gott glaubt oder nicht. Denn nicht der Autor erzählt diese »Geschichte eines einfachen Mannes« (so der Untertitel), sondern die Geschichte erzählt sich selber, und weil sie die Geschichte Mendels ist, der Gott erst fürchtet, dann haßt, dann liebt, bedarf es keines modernen Zweifels und keiner rationalistischen Begründung von außen.

Die literarische Technik, die Roth hier benutzt, besteht darin, den Inneren Monolog derart zu radikalisieren, daß er zur Erzählhaltung schlechthin wird. Nicht Mendel Singer erzählt, nicht ein auktorialer, allmächtiger Erzähler, sondern etwas, was man den objektiven Geist Mendels nennen könnte: ein wissendes, begnadetes Über-Ich, Mendel Singers Engel. »Vor vielen Jahren lebte in Zuchnow ein Mann namens Mendel Singer. Gott hatte seinen Lenden Fruchtbarkeit verliehen, seinem Herzen Gleichmut und seinen Händen Armut.« So beginnt der Roman, in einer Sprache, die ebenso einfach ist wie die Mendels, die sich zugleich aber naiv-raffiniert des Märchentons bedient und seine Suggestion erneuert. »Und zum erstenmal in seinem Leben entblößte Mendel Singer aus freiem Willen sein Haupt, so wie er es nur im Amt getan hatte und im Bad. Die spärlichen, gekräuselten Härchen auf seinem kahlen Kopf bewegte ein Frühlingswind wie seltsam zarte Pflanzen. So grüßte Mendel Singer die Welt… Mendel schlief ein. Und er ruhte aus von der Schwere des Glücks und der Größe der Wunder.« So endet der Roman, und das Glück Mendels ist auch das Glück des Lesers.

Im Hiob bringt Roth die Musikalität seiner Sprache zur Vollendung. Sie kehrt wieder im Radetzkymarsch, in der Kapuzinergruft und im Falschen Gewicht. Dies sind ja auch seine schönsten Romane. Musikalität heißt, daß die Sprache selber der Geschichte eine Melodie gibt, daß die Sätze nicht nur mit ihren Inhalten sprechen, sondern auch durch ihre Form, ihren Klang, bis hin zur Lautmalerei: »Blau war der Himmel. Weiß war das Schiff. Grün war das Wasser. In diesem Augenblick erdröhnten die Sirenen. Die Maschinen begannen zu poltern. Und die Luft und das Schiff und die Menschen erzitterten. Nur der Himmel blieb still und blau, blau und still.« So reist Mendel Singer nach Amerika. Musikalisch ist auch das Prinzip der Wiederholung. So wie eine Melodie immer wieder auf denselben Ton spielerisch zurückfällt, sich von ihm löst, ihn umrankt und ihn wiederholt, so wiederholt auch Roth bestimmte Worte, bestimmte Sätze. »Aber Mendel Singer stand schwarz und stumm, in seinem Alltagsgewand, im Hintergrund, in der Nähe der Tür und bewegte sich nicht. Seine Lippen waren verschlossen und sein Herz ein Stein. Der Gesang erhob sich wie ein heißer Wind. Mendel Singers Lippen blieben verschlossen, sein Herz ein Stein. Schwarz und stumm, in seinem Alltagsgewand, hielt er sich im Hintergrund, in der Nähe der Tür.«

Roth liebt es auch, Absätze mit demselben Satz beginnen zu lassen, mit dem der vorige endete, und er erreicht so, daß die Bewegung der Geschichte in wichtigen Augenblicken retardiert. Von den insgesamt 34 Kapiteln des Romans Die Kapuzinergruft sind 15 durch solche Satzwiederholungen ineinander verschlungen, ein Kunstgriff, der die Ausweglosigkeit der Geschichte sprachlich werden läßt. Das neue Kapitel beginnt nicht an einem neuen Punkt, sondern fällt immer wieder, als wäre ein Aufbruch sinnlos, auf den alten Satz zurück. Im Falschen Gewicht, einer Geschichte voller Melancholie und Vergeblichkeit, heißt es schon am Anfang: »Die Frau erinnerte Eibenschütz an eine Tulpe, die während dieser ersten Frühlingsnacht in Zlotograd zu welken begonnen hatte. Eibenschütz stieß einen Fensterladen auf und sah hinaus auf die Straße. Aber auch der Morgen war welk. Welk war der Morgen. Sogar der Morgen war welk.«

7

Der Eichmeister Anselm Eibenschütz geht an den Frauen zugrunde, an der Härte und Einsamkeit der flachen und leeren Landschaft - und am Alkohol. Trinker sind sie fast alle, die Figuren aus den späten Romanen, ob Tarabas und Taittinger, ob Trotta und mit ihm die gesamte Mannschaft der lebensmüden Grafen und Offiziere. Im Radetzkymarsch heißt es: »Es gab niemals im Lauf des langweiligen Tages eine Gelegenheit, keinen Schnaps zu trinken. Es gab im Gegenteil manche Nachmittage und manche Abende, an denen es geboten war, Schnaps zu trinken. Denn das Leben wurde leicht, sobald man getrunken hatte!« Die schmerzliche Ironie in solchen Sätzen (und es finden sich viele davon in Roths Romanen) ist unüberhörbar. Er beschrieb damit seine eigene Situation. Denn Roth war Alkoholiker. Er trank sich zu Tode. Er war also unzweifelhaft krank. Aber er war mehr als das. Der Alkoholismus gab ihm jene höchste Form der Nüchternheit und Klarsicht, die uns Nüchternen immer verschlossen bleiben wird. Seine Trunksucht war in gewisser Hinsicht das Opfer, das er seinem Schreiben gebracht hat, das er also, um es pathetisch zu sagen, uns Lesern gebracht hat.

1933 schreibt er an Stefan Zweig nach einem entsetzlichen alkoholischen Zusammenbruch: »Vielleicht ist es ein Zeichen, daß ich aufhöre. Aber, glauben Sie mir: so sehr ich glaube, daß die Not meine Muse ist, so deutlich sehe ich auch, daß sie mich zum Selbstmord treibt. Noch nie hat einem Alkoholiker der ,Genuß' des Alkohols so wenig gefallen wie mir. Gefallen einem Epileptiker seine Anfälle?« Und auf die Bitten Zweigs, mit dem Trinken aufzuhören, antwortet er: »Ich komme einfach mit der Welt nicht zu Rande. Ich verlange zu viel - von mir literarisch - von den Anderen menschlich. Ich verstehe nicht, wie so viel Böses im Allgemeinen geschieht, und, daß dieses möglich ist, macht mir die Einzelnen verdächtig. Ich wittere Unrat und Verrat. Ich kenne, glaube ich, die Welt nur, wenn ich schreibe, und, wenn ich die Feder weglege, bin ich verloren. Der Alkohol ist keine Ursache, sondern eine Folge.« Also mußte er trinken. Bis zuletzt sah man ihn im Café Tournon in Paris, wie er, umgeben von Pernod-Gläsern, in gestochener Schrift seine klare Prosa niederschrieb. In seinem letzten Werk schrieb er sich selber den Nachruf: Die Legende vom heiligen Trinker.


zum Seitenbeginn

blog comments powered by Disqus