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Ulrich Greiner Siegfried Lenz: Schweigeminute »Wir setzen uns mit Tränen nieder…« – so beginnt, mit Bachs Schlusschor, die neue Erzählung von Siegfried Lenz, Schweigeminute. Die Trauerfeier in der Aula des Gymnasiums irgendwo an der norddeutschen Küste gilt der Lehrerin Stella, und während die jüngeren Schüler einander foppen und schubsen, während manchem Kollegen die Augen feucht werden, während das Ritual der Ansprachen, Blumenkränze und Lieder über die Bühne geht und dem Tod eine notdürftige Form gibt, leidet der Schüler Christian am bittersten, denn die junge Englischlehrerin war die erste große Liebe seines Lebens. Man erhebt sich zur Schweigeminute, und in diesem Augenblick erinnert sich Christian an das vergangene Glück, erzählt sich selber und uns Lesern diese Geschichte. Kunstvoll, wie Lenz die Erzählposition unmerklich wechselt, von der ersten Person in die zweite und wieder zurück. »Ich umarmte sie und zog sie an mich. Sie war nicht erstaunt, sie versteifte sich nicht, in ihren sehr hellen Augen lag ein träumerischer Ausdruck, vielleicht war es auch nur Müdigkeit, du neigtest mir dein Gesicht zu, Stella, und ich küsste dich.« Viel mehr wird nicht gesagt, und am Ende bleibt das leere Kopfkissen zurück, von dem es heißt, es habe nur eine einzige Delle gehabt. Selten las man etwas so Keusches, etwas so Erotisches. Die Schweigeminute, eine zeitlose Kostbarkeit, passt in diese Zeit. Siegfried Lenz: Schweigeminute. Novelle. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2008 Erschienen in der ZEIT blog comments powered by Disqus |