Home - Literatur als Kunst - Was ist Lyrik?
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Ulrich Greiner Ich beginne damit, den Titel meines Vortrags zu erläutern: „Der Schmutz der Wirklichkeit“. Diese Wendung bezieht sich auf eine Bemerkung von Hans Henny Jahnn. Ich nehme an, dass nicht alle von Ihnen mit Hans Henny Jahnn vertraut sind, obwohl er zu den allerdings nicht sehr zahlreichen bedeutenden Schriftstellern zählt, die Hamburg hervorgebracht hat. Er wurde in Stellingen geboren und machte sein Abitur am Kaifu – also leider nicht am Johanneum. Seine beiden bahnbrechenden Romane sind „Perrudja”, erschienen 1929, und „Fluss ohne Ufer”, erschienen in den 40er und 50er Jahren. Ich muss zugeben, dass diese Bücher nicht leicht zu lesen sind, dass sie nicht sehr „bekömmlich” sind, um mit seinen eigenen Worten zu reden. Aber sie sind in jeder Hinsicht außerordentlich, und mit diesem Hinweis muss ich es leider bewenden lassen, weil ich zu meinem Gegenstand zurückkehren will. Hans Henny Jahnn also wendet sich in einem Vortrag aus dem Jahr 1946 gegen das falsche Bedürfnis (und jetzt zitiere ich ihn), „in der Dichtkunst das Schöne, das Geschliffene, das Präzise zu finden, eine pfiffige Unverbindlichkeit, aber nicht das Notwendige.“ Und in einem anderen Zusammenhang zitiert er beifällig die Bemerkung Lessings, dass nur die Wahrheit dem Stil echten Glanz verleihe, dass die Wahrheit ohne Stotterei und Posse nicht auskomme. Und damit gelangt Jahnn zu der starken These, „dass es kein gültiges Werk der Kunst gibt, das nicht ästhetische Mängel aufzuweisen hätte; es ist, wenn es nicht lügt, mit dem Hauch der wirklichen Wirklichkeit beschmutzt.“ Ich wiederhole: Jedes gültige Werk der Kunst ist mit dem Hauch der wirklichen Wirklichkeit beschmutzt. Der Ausdruck „wirkliche Wirklichkeit“ ist merkwürdig, er taucht mit anderer Bedeutung auch in Stifters „Nachsommer“ auf. Ich werde am Ende darauf zurückkommen. Jetzt aber zu der Unterzeile: Gibt es reine Literatur? Sie alle kennen die Unterscheidung zwischen „reinen“ und „angewandten“ Wissenschaften. Während in der angewandten Wissenschaft die behandelten Gegenstände vorgegeben sind und erst danach die Methoden zur Untersuchung dieser Gegenstände geschaffen werden, ist es bei der reinen Wissenschaft, etwa in der Mathematik oder der Logik, gerade umgekehrt: Die Methode ist vorgegeben und die damit untersuchbaren Gegenstände werden erst durch sie geschaffen. Sie sehen, worauf ich hinauswill und wo die Analogie liegt. Die angewandte Literatur bezieht sich auf etwas Vorgegebenes, also auf die Wirklichkeit, und gewinnt daraus ihr Material, ihre Zielsetzung oder Botschaft. Das trifft etwa für den sogenannten realistischen Roman zu. Was wäre dann die reine Literatur? Eine Literatur folglich, die sich die Methode ihrer Darstellung nicht von der Wirklichkeit vorgeben lässt, sondern die durch ihre Methode Wirklichkeit erst herstellt, und damit eben eine zweite Wirklichkeit, eine Wirklichkeit anderer Ordnung. Es liegt auf der Hand, dass die Lyrik am ehesten imstande ist, in diesem Sinne reine Literatur zu sein. Nehmen wir das berühmte Tiger-Gedicht von William Blake. Es beginnt mit den Zeilen: „Tyger Tyger, burning bright, / In the forests of the night“. Das Gedicht ist nicht leicht zu übersetzen, und ich gebe Ihnen hier den Anfang der Übersetzung, die der deutsche Lyriker Wilhelm Lehmann angefertigt hat. Die ersten drei Strophen in Lehmanns Übertragung lauten so: Tiger, Tiger, Flammenpracht Stammt vom Himmel, aus der Höll', Welche Stärke, welche Kunst, Sie sehen, dass Lehmann versucht, Reim und Rhythmus nachzubilden, und weil das äußerst schwierig ist, kommt er manchmal zu etwas merkwürdigen Wendungen und Satzstellungen. Blakes Gedicht nämlich ist in der Hauptsache eine Imagination, die mit liedhaften, mit musikalischen Mitteln arbeitet. Wir sehen einen Reigen von Bildern, hervorgerufen wie in einer Art Beschwörung. Blake tritt auf wie ein Schamane, der das Geheimnis einer anderen Wirklichkeit mit fragenden Rufen zu uns herüberholen will. Es ist kein Zufall, dass die erste und die letzte Strophe denselben Wortlaut haben. Die zauberische Formel kehrt zu ihrem Anfang zurück, weil man die Geister, die beschworen werden sollen, erst aufwecken muss, durch den wiederholenden Ruf. Ich führe Ihnen dieses Beispiel vor, weil es für die Bilderwelt dieses Gedichts keine Entsprechung in der wirklichen Welt gibt. Diese Bilderwelt bezeichnet nur sich selber, es gibt kein Wie oder Als ob. Die Wälder der Nacht, in denen dieser Tiger glüht: Das ist eine transzendente Realität von eigener Gewalt, sie setzt sich absolut und fragt nicht, was wir für Wirklichkeit halten. Den Tiger und die Wälder der Nacht gibt es nur in diesem Gedicht, nirgendwo sonst, sie sind erst durch das Gedicht entstanden. Auch die folgenden Zeilen verfahren ähnlich: Ich ahne, dass einige unter Ihnen diese Beispiele zwar recht schön finden, dennoch aber einen triftigen Einwand im Kopf haben. Denn Hölderlin und Blake beziehen sich eben doch auf bestimmte Realien, auf den Tiger und die Wälder, auf die Schwäne und die wilden Rosen. Zwar transformieren sie diese Dinge in eine andere Welt, aber sie könnten das nicht tun, wenn wir nicht alle eine Vorstellung davon hätten, was ein Tiger ist und was ein Schwan. Dieser Einwand führt zu der simplen Tatsache, dass Literatur immer mit Sprache zu tun hat, und weil die Sprache unser aller Verständigungsmittel ist, weil sie ein oft missbrauchtes, ein oft unzureichendes Mittel ist, der Welt, in der wir leben, Herr zu werden, eben deshalb kann sich Literatur nie in einem vollkommen wirklichkeitsfreien Raum bewegen, so, wie es etwa die Musik kann, die wahrscheinlich aus diesem Grund von einigen als die höchste aller Künste betrachtet wird. Zwar hat die Literatur es immer wieder versucht, sich von der alltäglichen Bedeutung der Wörter zu befreien, ihren semantischen Gehalt aufzuheben. Dafür gibt es ebenso wunderbare wie bizarre Beispiele. Aber der Normalfall ist eben doch, dass sie vom „Schmutz der Wirklichkeit“ in hohem Maß berührt ist. Das gilt vor allem für den Roman, und über einige Romane will ich im Folgenden sprechen. Trotz aller Einwände, die ich eben gegen mich selber vorgebracht habe, scheint mir, dass die Unterscheidung zwischen reiner und angewandter Literatur die Aufmerksamkeit schärfen kann für unterschiedliche literarische Verfahren. Anders gesagt: Es gibt Romane, deren Wirklichkeitsnähe so groß ist, dass der Modus ihres Erzählens davon völlig bestimmt ist – denken Sie nur an den historischen Roman oder den Abenteuerroman. Das etwa wäre angewandte Literatur. Und es gibt andere Romane, deren Inhalt, deren Geschichte gegen Null tendiert und die daraus einen anderen Modus gewinnen, der seinerseits eine Art Gegenrealität hervorbringt. Ich will nun dieses Gegensatzpaar an ausgewählten Beispielen verdeutlichen. Mein Vortrag hat zwei Teile, und er endet, wie sich das gehört, mit einer abschließenden Bemerkung. Ich beginne also mit Teil eins. Wovon handelt dieser Roman? Das ist die erste Frage, die einen interessiert, wenn man von einem Buch hört. Nehmen wir ein Beispiel: Sie erzählen einem Freund von dem Buch, das Sie gerade lesen, von jenem alten Professor an der amerikanischen Ostküste, der sich in eine junge, hübsche Putzfrau verliebt und dank Viagra mit ihr ein spätes sexuelles Glück erfährt; den aber am Ende seine Lebenslüge, dass er nämlich ein Schwarzer ist und dies immer verborgen hat, auf bitterste Weise einholt. Sie fügen noch hinzu, dass „Der menschliche Makel“ von Philip Roth (2002) außerordentlich gut geschrieben sei, und Sie erwähnen die Verfilmung des Romans mit Nicole Kidman und Anthony Hopkins in den Hauptrollen. Und wenn Sie diese Geschichte genauer ausbreiten, dann tun Sie so, als wäre sie wirklich geschehen – was sie in mancher Hinsicht auch ist. Aber Sie wissen, dass unter dem Titel das Wort „Roman“ steht, dass Philip Roth sich die Geschichte ausgedacht hat. Den alten Mann und das junge Mädchen gibt es ebenso wenig wie den Vietnam-Veteranen, der die beiden umbringen wird. Natürlich, sonst wäre man von dem Buch nicht beeindruckt, enthält es, obwohl die Details erfunden sind, eine höhere Wahrheit. Es sagt sehr viel über die Macht, die gesellschaftliche Traditionen und Verabredungen über den Einzelnen haben, immer noch und immer wieder. Interessant finde ich daran zwei Dinge: Dass wir erstens dazu neigen, den Aspekt des Erfundenen zu vergessen, und zweitens das Romankunstwerk auf seinen Inhalt reduzieren. Es fällt uns meistens schwer, Genaueres über die Sprache und die Architektur des Romans zu sagen. Aber es wäre in meinen Augen falsch, das Reden über den Stoff als Anfängerfehler zu betrachten und nur noch über Formprinzipien zu reden. Die spielen zwar eine bedeutende Rolle (schließlich reden wir von Kunst), aber der Roman ist, verglichen mit anderen Kunstgattungen, die am meisten durch den Inhalt bestimmte Kunstform – jedenfalls gilt das für diejenigen Romane, die ich der angewandten Literatur zuordnen würde. Der Roman ist also zunächst eine erzählte Geschichte, die Material der Wirklichkeit in mehr oder minder hohem Maß enthält und verarbeitet. Sie kennen die berühmte Stelle aus dem Johannes-Evangelium, wo Jesus vor Pontius Pilatus steht und sich rechtfertigen soll. Jesus sagt: „Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.“ Und Pilatus fragt zurück: „Was ist Wahrheit?“ Wir können die Pilatus-Frage, ohne ihren Sinn wesentlich zu verändern, auch so stellen: Was ist Wirklichkeit? Wir sollten nicht versuchen, die Frage zu beantworten (daran sind schon Größere gescheitert), sondern nur den Blick auf eine ziemlich einfache Unterscheidung werfen: Ist die Geschichte, die jemand erzählt, erfunden, ist sie fiktiv, oder ist sie nichtfiktiv, also wirklich passiert? Im Alltag fragt man sich das häufig, zumeist automatisch, und meistens läuft diese Frage darauf hinaus, dass man wissen will, ob der andere lügt oder die Wahrheit sagt. Und wenn Sie sich jetzt klar machen, dass die Begriffe Wirklichkeit und Wahrheit voneinander abhängen, ohne dasselbe zu bedeuten, dann kommen Sie zu einem ziemlich verwirrenden Ergebnis: Es kann Geschichten geben, die nicht wirklich so passiert, aber gleichwohl wahr sind, weil sie nämlich eine Erkenntnis enthalten, die Geltung hat und uns überzeugt. Zugleich aber kann diese Erkenntnis keine Geltung haben, wenn sie nicht auch auf Wirklichem beruht. Das klingt sehr abstrakt, und deshalb will ich jetzt über einen der berühmtesten Romane überhaupt reden, über den „Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe, um an diesem Beispiel zu zeigen, wie aufregend das Wechselspiel von Wahrheit, Wirklichkeit und Erfindung sein kann. Das Buch erschien zuerst 1719. Der erste Absatz lautet: Sie sehen, worauf es Defoe ankommt: Er will den Anschein eines wirklichkeitsgetreuen autobiografischen Berichts erzeugen. Jemand spricht, er stellt sich vor, er beglaubigt seine Person durch die genaue Bezeichnung von Geburt, Herkunft und Familie, und erzählt uns sein Leben – ein Leben, wie wir dann lesen, voll unerhörter, unglaublicher Begebenheiten. Aus dieser unbezweifelbaren Tatsächlichkeit soll, so das Ziel, die Überzeugungskraft des Textes, die Wahrheit seiner Botschaft hervorgehen. In den zeitgenössichen Ausgaben übrigens ist der Autor gar nicht genannt ist. Es gibt keinen Hinweis auf Daniel Defoe. Das Buch tut so, als hätte es Robinson wirklich gegeben, als hätte er das Buch selber geschrieben. Ich weiß nicht, ob die zeitgenössischen Leser den Schwindel durchschaut haben – wahrscheinlich schon, aber wahrscheinlicher kommt mir vor, dass sie nicht sonderlich darauf geachtet haben, so wie vermutlich auch Sie nicht, wenn Sie den Roman gelesen haben, wahrscheinlich in jungen Jahren. Sie haben, so nehme ich an, das Buch wahrgenommen wie den Bericht wirklicher Vorgänge. So auch wurde es damals, Anfang des 18. Jahrhunderts, verstanden. Es erreichte sofort mehrere Auflagen, es riss die Leser in Massen hin, und in seinem Sog, der auf den Kontinent übergriff, entstanden Dutzende von Raubkopien, Umarbeitungen, Nachahmungen, und Weiterdichtungen. Einer der Gründe, weshalb man den Roman verschlang, war, dass die bizarre Geschichte auf tatsächlichen Vorkommnissen beruhte. Im Jahr 1704 hatte sich der Matrose Alexander Selkirk auf der Insel Juan Fernandez aussetzen lassen. Die Insel liegt im pazifischen Ozean auf der Höhe von Chile. Selkirk war erst nach vier Jahren und vier Monaten wieder aufgelesen worden – völlig abgerissen und kaum noch zu normalen Sätzen fähig. Der Fall wurde 1712 von dem Kapitän des rettenden Schiffes publik gemacht, und ein Jahr später erzählte Sir Richard Steele in „The Englishman“ von seinen Begegnungen mit Selkirk und dessen Erlebnissen. Selkirk habe mit dem Kapitän des offenbar lecken Schiffs einen unversöhnlichen Streit gehabt und sei lieber auf die unbewohnte Insel gegangen als noch länger mit einem „Verrückten“ unterwegs zu sein, ein Entschluss, den er offenbar sofort bereute, denn andere Berichte erzählen, Selkirk habe den Kameraden nachgerufen, sie sollten umkehren, aber sie hätten ihn nicht gehört oder nicht hören wollen. Es ist ziemlich sicher, dass Defoe sich von Steele hat inspirieren lassen. Interessant sind die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Robinson und Selkirk. Richard Steele berichtet, Selkirk habe eine Seekiste gehabt, darin Kleider und Bettzeug, eine Flinte, Pulver und Kugeln, Messer und Feuerstein, ein Beil und einen Kessel, schließlich Navigationsinstrumente und geistiges Rüstzeug: die Bibel „and a few Pounds of Tobacco“. Die Insel sei bloß von Ziegen und Schildkröten bewohnt gewesen, deren Fleisch ihm zur Nahrung gedient habe, allerdings auch von Ratten, deren sich zu erwehren ein großes Problem gewesen sei. All diese Dinge kehren im „Robinson“ wieder. Aber mehr noch fallen die Unterschiede auf. Defoe erzählt die Vorgeschichte Robinsons: Gegen den Rat seiner Eltern geht er zur See. Das Schiff wird von Piraten gekapert, und Robinson wird versklavt. Ihm gelingt die Flucht, und er wird von einem Schiff gerettet, das sich auf dem Weg nach Brasilien befindet. Dort wird er Plantagenbesitzer. Dann aber investiert er in den Sklavenhandel und schließt sich einer Fahrt nach Afrika an. Er erleidet Schiffbruch und landet als einziger Überlebender auf einer Insel in der Nähe der Mündung des Orinoco – das ist ein Fluss in Südamerika, diese Insel ist also von der Juan Fernandez Insel weit enfernt. Es gelingt ihm unter großen Mühen (jetzt nähern wir uns wieder der wahrscheinlichen Vorlage), überlebenswichtige Güter aus dem Wrack auf die Insel zu schaffen, darunter auch die von Steele erwähnten. Er findet Unterkunft in einer Höhle, die er nach und nach zu einem befestigten Domizil ausbaut. Das gerettete Saatgut bringt er aus. Die Schildkröten und die Ziegen kennen Sie schon. Er führt einen Kalender, liest die Bibel und dankt Gott für seine Errettung. Genug jetzt mit dem Vergleich der beiden Geschichten. Sie sehen die entscheidenden Hinzufügungen Defoes. Sein „Robinson“ verkörpert einerseits die Utopie des absoluten Neubeginns, andererseits ist Defoe pragmatisch genug, seinen Helden mit einer handlichen Notausrüstung zu versehen. Der Roman verkündet die Botschaft, dass Du alles aus Dir machen kannst, wenn Du Dich nur bemühst – und wenn man Dich machen lässt. Du kannst zum Korbflechter und zum Töpfer werden, mit Hilfe Deines Kopfes und der Kraft Deiner Hände, und ebenso vermagst Du auch die Schrift zu lesen, ohne den Beistand der „Pfaffen“, wie Defoe sie nennt. Und von selber wirst Du darauf kommen, dass ein Gott die Ordnung der Dinge geschaffen hat. Es sind die allmählich entstehenden bürgerlichen Tugenden, denen Defoe hier zum Ausdruck verhilft. England war, nach siegreichen Kriegen gegen Spanien und die Niederlande, zur ersten Seemacht erstarkt. Das Zeitalter des Handelskapitalismus erforderte genau das, was Defoe zu Beginn seines Romans und auch später immer wieder ausdrücklich verurteilt (wobei er zugleich diese Verurteilung durch seine Geschichte widerlegt): abenteuerlichen Wagemut und unternehmerisches Risiko. Beides fand in der Seefahrt sein extremes Betätigungsfeld. Gewinn und Ruin lagen hier so dicht beisammen, dass die herrschende Religion sich mühen musste, in all dem einen Gott wirken zu sehen. Robinson akzeptiert diese Perspektive, aber er ist auch jederzeit bereit, sein Schicksal in die Hand zu nehmen. Er hilft sich selbst, und also hilft ihm Gott. Die ungeheure Wirkung aber, die das Buch erzielte, hängt eben mit jener Überblendung von Realem und Fiktivem zusammen, aus der eine für die Zeit geschriebene, aber die Zeiten überdauernde Wahrheit entsteht. Das ist sicherlich einer der Gründe dafür, dass dem „Robinson“ des Daniel Defoe etwas gelungen ist, was nur wenigen Romanen der Weltliteratur gelang: Eingang zu finden in die Volkskultur, ins kollektive Bewusstsein. Die Geschichte kennt jeder, ihren Autor kennen nur wenige. Ich komme zurück zum Ausgangspunkt, zum Wechselspiel von Wirklichkeit und Wahrheit. Was ist Literatur? Es hat sich eingebürgert, darunter jene Texte zu verstehen, die eine eigene, erfundene (fiktive) Welt entwerfen und sie gegen die von uns allen erfahrene wirkliche Welt setzen. Das scheint einfach, ist aber kompliziert. Sie werden es selber schon bemerkt haben, dass sich Traumbilder in die Alltagswelt mischen, so dass man manchmal nicht weiß, ob das, was sich im Kopf bewegt, auf Tatsächlichkeit oder auf Fantasie beruht. Für einen Richter gib es nichts Schwierigeres, als die objektive Wahrheit einander widersprechender Zeugenaussagen herauszufinden. Dieses Problem ist glücklicherweise nicht unser Thema, aber auch der Roman als unreine Mischung, als Zwitter aus Erdachtem und Wirklichem führt immer wieder zur Wahrheitsfrage zurück, und wenn man darunter die simple Frage versteht: „Was an der Geschichte, die dieser Roman erzählt, ist wirklich so gewesen?“, dann wird man selten eine klare Antwort erhalten. Und wenn man denselben historischen Vorgang einmal in einem Roman dargestellt findet und ein andermal in einem historischen Werk, dann kann es passieren, dass man den Roman eindrucksvoller und in gewisser Weise wahrer findet, weil er eine Deutung, eine Botschaft vermittelt, die tiefer in unser Verständnis eindringt als ein bloßer Bericht. Es kann aber auch passieren, dass man den ungeschönten Bericht eines unerhörten Ereignisses gerade deshalb besser findet, weil man in ihm der Geruch des Authentischen spürt. Ich will das an folgendem Beispiel erläutern. 1981 veröffentlichte der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa den Roman „La guerra del fin del mundo“ (Der Krieg am Ende der Welt). Ich zitiere aus dem Klappentext des Suhrkamp-Taschenbuchs (1987): „Brasilien, Ende des 19. Jahrhunderts. Die Monarchie ist abgeschafft, die junge Republik versucht, sich zu konsolidieren. Ein Wanderprediger, Ratgeber genannt, zieht durch die von Hungersnöten geplagten Gegenden und verkündet das Ende der Welt. Eine Schar von Ausgestoßenen sammelt sich um ihn, fest entschlossen, den wahren Glauben gegen den Antichristen zu verteidigen. Dieser Antichrist ist die Republik. Sie gründen in Canudos die Gesellschaft der Ärmsten, ein neues Jerusalem. Die gesamten brasilianischen Streitkräfte werden aufgeboten, um die Anhänger des Ratgebers zu vernichten.“ Vargas Llosa widmet seinen Roman einem gewissen Euclides da Cunha. Der Ingenieur und Freizeit-Journalist wurde 1897 von der Zeitung „Estado de Sao Paulo“ als Berichterstatter in den Krieg geschickt, den die Armee gegen die Aufständischen in Canudos führte. Dort, mitten im zerklüfteten Dürregebiet des Sertao, hatte der Wanderprediger Antonio Conselheiro (der Ratgeber) eine Stadt der Gläubigen gegründet, die nach eigenen Gesetzen lebte und staatliche Vorschriften missachtete. Es kam zu mehreren Feldzügen, bei denen die republikanischen Truppen erbärmliche Niederlagen erlitten, bis schließlich eine mit Kanonen bewaffnete Armee von zwölftausend Mann die Stadt einnahm und dem Erdboden gleichmachte. Dabei kamen mehr als tausend Soldaten um, und von den 20000 bis 30000 Einwohnern der Ansiedlung überlebte fast niemand. Euclides da Cunha war ein Patriot. Ihn hatte das Massaker bis ins Innerste aufgewühlt, er erblickte im Vorgehen der Regierung ein entsetzliches Unrecht. 1902 veröffentlichte er sein Buch „Os Sertoes“, in dem er die Geschichte des Konflikts erklärte, die Landschaft und ihr mörderisches Klima beschrieb, die Armut und Unwissenheit ihrer Bewohner, die Herkunft und die Ziele des Antonio Conselheiro und schließlich den Verlauf des Krieges. Das Buch wurde sofort ein riesiger Erfolg, es verursachte eine bis heute anhaltende Debatte über die „zwei Brasilien“ (das Brasilien der Reichen und das Brasilien der Armen), und es wurde zu einer Bibel der brasilianischen Demokraten. Warum erzähle ich das? Aus zwei Gründen. Erstens ist der Bericht von Euclides da Cunha ein atemberaubendes Werk, das ganz langsam beginnt, als herrsche eine drückende Schwüle, die sich, von einem fernen Wetterleuchten begleitet, in eine Art Weltuntergang hineinsteigert. Das Buch, dessen Lektüre ich sehr empfehle, ist 1994 im Suhrkamp Verlag unter dem Titel „Krieg im Sertao“ erschienen, hervorragend übersetzt und kommentiert von Berthold Zilly. Zweitens aber beleuchtet der Vergleich der beiden Bücher unsere Frage nach dem Verhältnis von Dichtung und Wahrheit. Vargas Llosa stützt sich in allen wichtigen Fakten auf das Buch von Euclides da Cunha. Sein Buch ist ein Roman, das heißt, er gestaltet Menschen und ihre Beziehungen zueinander (hier des Predigers und seiner Anhänger, des Kriegsberichterstatters sowie des Generals und einiger anderer), er erzählt ihre Geschichte, ihre Empfindungen, er schildert ihre Gespräche und Begegnungen. Kurz, er verhält sich wie der klassische Erzähler, der über den erzählten Kosmos herrscht wie ein Gott und eine neue Welt erschafft, in die wir uns willig hineinbegeben. Euclides da Cunha hingegen, da er ja keinen Roman schreibt, sondern, heute würde man sagen, ein Sachbuch, kümmert sich nicht um eine bekömmliche Dramaturgie, sondern er beginnt gewissermaßen bei Adam und Eva, gibt einen geografischen und geologischen Überblick, schildert Land und Leute und Klima und Vegetation, bis er endlich auf den eigentlich Anlass des Buches kommt. So fängt er an: „Das zentralbrasilianische Hochland fällt im südlichen Küstenverlauf jäh, steil und tief zum Meere ab. Stolz überragt es die Fluten; und landeinwärts pflanzt es sich in Hochplateaus fort, die den Kämmen der von Rio Grande bis Minas sich ziehenden Seekordilleren ebenbürtig sind.“ Dagegen der Anfang von Vargas Llosa: „Der Mann war hoch gewachsen und so mager, dass er immer wie im Profil wirkte. Seine Haut war dunkel, seine Knochen vorstehend und seine Augen brannten in immerwährendem Feuer. Er ging in Hirtensandalen, und das violette Gewand, das lose an seinem Körper herabfiel, erinnerte an die Tracht der Missionare, die von Zeit zu Zeit die Dörfer des Sertao aufsuchten.“ Sie sehen: Unterschiedlicher kann man ein und dasselbe Thema kaum behandeln. Doch jetzt muss ich von einer merkwürdigen Leseerfahrung berichten. Ich hatte zuerst Vargas Llosa gelesen und war beeindruckt. Dann wollte ich wissen, wer dieser Euclides da Cunha sei, stieß auf Zillys Übersetzung und war fasziniert. Nun fand ich da Cunha ungleich besser als Vargas Llosa. Mich erschütterte die unausweichliche Gewalt der Vorgänge, und sie wirkten um so dramatischer, als der Autor leidenschaftlich an der lückenlosen Aufklärung dieses bestialischen Krieges interessiert schien und keinerlei Dramatisierung oder Literarisierung im Sinn hatte. Die Mischung aus sachbezogener Lakonie und heiligem Zorn gab der Darstellung die Überzeugungskraft des Authentischen. Ich hatte das Gefühl, einem wirklichen und beglaubigten Vorgang beizuwohnen. Ich wurde zum Teilnehmer einer empörten und verzweifelten Recherche, erfüllt von Sympathie für die Opfer und in kritischer Distanz sowohl gegen die Generalität als auch gegen Antonio Conselheiro. Verglichen damit fand ich, dass Vargas Llosa den eigentlichen Konflikt eher verwischte und dass sein Roman den unnötigen Versuch einer Poetisierung und Psychologisierung unternahm. Ich hatte eine Empfindung, wie man sie gelegentlich angesichts von Hollywood-Verfilmungen großer Romane hat: Die Geschichte wirkt zwar suggestiver, sie kommt einem auf vielerlei Weise entgegen, zugleich aber verliert sie ihre staunenswerte Fremdheit und Größe. Sie sehen an den Beispielen, wie zwei Romane ein dokumentiertes historisches Ereignis – hier der Schiffbruch, dort der Bürgerkrieg – zu einem Kunstwerk umformen, im Falle des „Robinson“ mit einem strahlenden, im Falle des „Krieges am Ende der Welt“ mit einem problematischen Ergebnis. Das ist aber lediglich meine Sicht, und es mag gut sein, dass Sie zu einem anderen Urteil kommen. Wichtig war mir nur zu zeigen, wie groß die Rolle der Faktizität im Roman ist und wohl immer bleiben wird. Gerade dies macht ihn zur beliebtesten Kunstform. Er ist eine Schule der Weltanschauung. Deshalb kann man so gut über ihn reden, streiten (leider auch faseln), deshalb hat er zuweilen eine so große Wirkung. Eben das ist Folge jener interessanten, zuweilen explosiven Mischung, die ich angewandte Literatur nenne, eine Mischung aus Fiktion und Realität, aus moralischer Botschaft und freier literarischer Anverwandlung. Ich komme nun zum zweiten Teil, zu dem, was ich reine Literatur nennen möchte. In seinem Roman „Die Falschmünzer“ lässt André Gide einen Schriftsteller namens Edouard auftreten, der damit schwanger geht, einen Roman mit dem Titel „Die Falschmünzer“ zu schreiben. Der Titel bezieht sich darauf, dass fast alle Personen der Geschichte ein verfälschendes und verfälschtes Leben führen, weil sie entweder bewusst täuschen, sich und ihre Nächsten; oder weil sie sich selber grausam täuschen – über ihr eigenen Motive und die der anderen. Das bedeutet auch, dass die Zuneigungen und Liebesbeziehungen der verschiedenen Personen auf komplizierte Weise unaufrichtig oder unausgesprochen oder unverwirklicht bleiben. Und es bedeutet schließlich, dass der Wahrheitsanspruch der Literatur davon in Mitleidenschaft gezogen wird. Einmal erleben wir ein Gespräch zwischen Edouard und seinen Freunden. Sie fragen ihn, ob er ihnen etwas über den im Entstehen begriffenen Roman erzählen könne, falls ihm das nicht unangenehm sei. „Unangenehm? Durchaus nicht! Aber ich kann Ihnen den Inhalt nicht erzählen.“ Nun fragt Laura – sie liebt ihn, aber weil sie fälschlich glaubt, er liebe sie nicht, verbirgt sie ihre Zuneigung und stellt dumme Fragen – Laura also fragt, „womit sein neues Buch Ähnlichkeit haben werde“. „Mit nichts!“, schrie er. Und fuhr, als habe er auf diese Gelegenheit nur gewartet, fort: „Warum sollte ich noch einmal machen, was andere schon gemacht haben oder was ich selbst schon gemacht habe oder was andere ebenso gut machen könnten wie ich?“ Edouard beruhigt sich allmählich und hält eine kleine Vorlesung: „Von allen literarischen Gattungen bietet der Roman die freieste, am wenigsten durch Regeln eingeengte Form. Ist nun vielleicht gerade das – oder am Ende gar die Furcht vor dieser Freiheit selbst – der Grund, warum der Roman sich stets so ängstlich an die Wirklichkeit geklammert hat?“ Er selber ist der Meinung, der Roman solle sich freihalten von allen realistischen oder naturalistischen Anstrengungen. Er sei nicht dazu da, die Wirklichkeit abzubilden. Aber die Freunde bleiben hartnäckig und fragen nach dem Thema seines Romans. „Er hat keins“, antwortete Edouard brüsk. „Ja, das ist vielleicht das Merkwürdigste: Mein Roman hat kein Thema.“ Es gibt übrigens eine merkwürdige Parallele zu Flaubert. In einem Brief vom 16. Januar 1852 schreibt Flaubert: „Was mir schön erscheint und was ich machen möchte, ist ein Buch über nichts, ein Buch ohne äußere Bindung, das sich selber durch die innere Kraft seines Stils trägt, so wie die Erde sich in der Luft hält, ohne gestützt zu werden, ein Buch, das fast kein Thema hätte, oder bei dem das Thema fast unsichtbar wäre.“ Die Parallele ist so auffällig, dass ich fast anehme, Gide habe mit der zitierten Passage auf Flaubert angespielt. In seinem Buch jedenfalls gibt André Gide dem heiklen Verhältnis von Roman und Wirklichkeit eine weitere Drehung: Sein Held will mit der Wirklichkeit sozusagen nichts zu tun haben. Mehr noch: Er will eine Wirklichkeit eigener Qualität herstellen. Gide nun vervielfacht diese Wirklichkeit, indem er seinen Roman auf zwei verschiedenen Ebenen spielen lässt. Da sind einerseits die Tagebücher Edouards, die er übrigens einmal verliert und die dann von unbefugten Augen gelesen werden; andererseits gibt es einen Erzähler, der uns die Situationen und Personen, die auch in den Tagebüchern vorkommen, aus größerer Distanz schildert. Mit seinen Augen sehen wir Edouard durchaus kritisch, sehen seine Beschränktheit, und deshalb dürfen wir die zitierte Romantheorie nicht völlig für bare Münze nehmen. Auch sie ist Teil der allgemeinen Falschmünzerei, und Edouard unterscheidet sich von ihr nur dadurch, dass er inbrünstig versucht, aus ihr herauszufinden. Das gilt auch für Gide, der hier seinen eigenen Roman im Roman seines Helden spiegelt. Edouards Erstaunen darüber, dass der Roman die freieste aller literarischen Gattungen sei, dass er sich aber zugleich immer wieder an die so genannte Wirklichkeit fessele, diese Beobachtung, dieses Missbehagen führt immer wieder zu Versuchen, den Roman autonom zu machen, ihn also abzulösen von außerliterarischen Vorgaben und Vorsätzen. Mit anderen Worten: Gewisse Schriftsteller sehen im Roman ein komplexes Spiel, das seinen eigenen Regeln folgt und sich nicht mehr (oder kaum noch) auf ein Äußeres bezieht, sondern vor allem auf sich selber. Man kann die Frage, um die es hier geht, auch so formulieren: Der Roman gleicht einem Bauwerk, und der Autor steht als Baumeister vor der Aufgabe, den Zweck, die Logik seiner Architektur zu bestimmen. Er hätte, um im Bild zu bleiben, die Möglichkeit, eine Fabrikhalle zu bauen, und stünde dann ganz im Dienst dieser funktionalen Aufgabe. Ihr haben sich etwa die Autoren des so genannten sozialistischen Realismus unterzogen. Er könnte auch eine Villa bauen, bei der die Funktion eine wichtige, aber bei weitem nicht die einzige Rolle spielt. Dass sie schön werde, was immer das bedeutet, entspricht sicherlich dem Wunsch des Bauherrn, wenn auch nicht immer seinen Möglichkeiten. Schließlich könnte er eine Kathedrale, ein Schloss entwerfen oder, modern gesprochen, ein Museum, und hier träte die Funktion an den Rand. Am äußersten Punkt dieser denkbaren Skala stände eine Architektur, die nur noch sich selber ausdrückt oder eine Idee. Wenn man an die Pyramiden denkt, an den Escorial Philipps II., an Oscar Niemeyers Brasilia oder an Boullées Newton-Denkmal, dann sieht man, dass eine solche Architektur nicht selten großartige, erhabene Monumente hervorbringt, bei denen sich die Frage nach der Brauchbarkeit erübrigt. Romane sind frei in ihrem Ziel und ihrem Zweck. Einige der schönsten nutzen diese Freiheit, um verwegene, nie geschaute Gebilde zu errichten. Und da wir gerade von Architektur reden, fällt mir der Übergang zu einem der erstaunlichsten Romane leicht, die je geschrieben worden sind, zu dem Roman „Das Leben Gebrauchsanweisung“ von Georges Perec (1978). Dieser Roman spielt in einem großen Pariser Mietshaus, und er ist selber ein Haus. Die 99 Kapitel beginnen alle in einem der Räume oder Wohnungen dieses mächtigen Altbaus aus der Jahrhundertwende, sie schildern detailliert die Einrichtung und ihre Herkunft, das Mobiliar, die Bilder an der Wand, die Bücher im Regal, den Nippes auf dem Tisch, so dass wir schon aus dieser intimen Perspektive einigen Aufschluss über den oder die Bewohner erlangen; sie erzählen die Geschichte dieser Bewohner, ihr zuweilen tragisches, dann wieder kurioses Schicksal, sie blenden zurück in die Vorgeschichte der jeweiligen Mieter oder Eigentümer, und allmählich entsteht ein reiches Geflecht von Beziehungen und Biografien. Zugleich entwickelt der Autor eine brennende Neugier auf nahezu jeden einzelnen Gegenstand: Er liest und erforscht ihn wie ein Buch mit sieben Siegeln und zögert nicht, diese Siegel zu öffnen – und damit eine ganze Welt. Denn er steigt hinab in die Tiefe der Geschichte, und er schweift aus in andere Räume, exotische, banale, bizarre. Einmal begibt er sich in den Keller und inspiziert das Depot der Altamonts, einer wohlhabenden, ordentlichen, aber offenbar von einem extremen Sicherheitsbedürfnis erfüllten Familie: Ich unterbreche hier, denn die Liste geht noch eine ganze Buchseite weiter, bis sich der Autor der nächsten Wand zuwendet: Auch hier unterbreche ich, denn nun werden alle diese wunderbaren Weine, die da liegen, namentlich aufgezählt. Dann geht es hinüber zur äußersten Rechten, wo die Pflegemittel aufbewahrt werden, die Glühbirnen, die Streichhölzer und so fort. Nun aber der nächste Keller: Nun gut, aber wozu das Ganze? Es gibt ein wunderbares Gedicht von Joachim Ringelnatz, das den Titel „Logik“ trägt: Georges Perec beantwortet diese Frage so: Das Suahelihaar am Kattegatt ist nicht minder bedeutsam als jeder andere beliebige Gegenstand, sofern er sich nur in die Logik dieser Romanarchitektur fügt. Worin besteht ihre Logik? Betrachten wir einen Liebes- oder Abenteuerroman. Hier ist die Struktur grundsätzlich dramatisch: Es gibt eine Zeitachse, auf der wir die Ereignisse aufreihen können, und diese Ereignisse steuern auf einen Höhepunkt zu. Die Reihenfolge der Ereignisse ist dabei von zentraler Bedeutung. Es ist nämlich nicht egal, ob sich der unglückliche Held erst verliebt und dann umbringt oder umgekehrt. Für die Zwecke seiner Erzählung nun muss der Autor die Szene gewissermaßen möblieren, er muss die Personen ausstatten. Dabei ist es überhaupt nicht leicht anzugeben, wie reichhaltig oder karg diese Ausstattung idealerweise sein muss. Sie erinnern sich vielleicht an Karl May und seine Beschreibungsorgien. Wenn Winnetou zur Tür hereinkommt, werden wir aufs Genaueste über sein Aussehen, seine Kleidung, seine Ausrüstung informiert, vom Stirnband bis zum letzten Mokassinriemen. Karl May hält in solchen Augenblicken gewissermaßen den Projektor an und verweilt beim Standfoto. Achten Sie einmal darauf, wie andere Schriftsteller oft verfahren: Sie zeichnen das Aussehen ihrer Helden nur mit wenigen Strichen, so dass ein Umriss entsteht, den sich der Leser selber ausmalen muss. Könnten Sie Madame Bovary oder Effi Briest beschreiben? Sind sie schlank oder mollig, blond oder braun? Generell gilt, dass der Autor gut daran tut, nur das zu schildern, was dem Erzählziel förderlich ist. Er wird sich also nur eine wohl dosierte Menge an Details und Abschweifungen erlauben. Wahr ist allerdings, dass sich die großen Autoren nicht immer an diese Schulweisheit halten, und auch Perec tut es nicht. Bei ihm allerdings hat das einen sehr präzisen Grund: Seine Romanarchitektur folgt einer anderen Logik. Hier gibt es keine chronologisch aufeinander folgenden Ereignisse, die auf eine Höhepunkt zulaufen könnten. Das Formprinzip ist eben dieses große Haus in der Rue-Simon-Crubellier, und wir finden in dem Buch einen Aufriss der Straßenfront, wo die Wohnungen und ihre Bewohner verzeichnet sind. Der Roman springt dabei von Raum zu Raum, und dort ist prinzipiell jeder Gegenstand schildernswert, weil es in der Geschichte keine vorwärts eilende Bewegung gibt, die durch eine Verweilen aufgehalten werden könnte. Das Verweilen ist in dieser Hinsicht ebenso gut wie das Voranschreiten, kommt es doch vor allem darauf an, das Gemälde zu vervollständigen, oder, um noch einmal den Vergleich mit der Architektur zu bemühen, dieses Haus mit allem Drum und Dran so auszustatten, dass wir wissbegierig und von immer neuen Entdeckungen überrascht darin umhergehen können. Ich habe bisher etwas Wichtiges ausgelassen, nämlich die zentrale Idee des Romans. Im dritten Stock links wohnt ein Junggeselle amerikanischer Herkunft, von dem es heißt: „Bartlebooth beschloss eines Tages, sein ganzes Leben auf ein einziges Projekt hin auszurichten, dessen willkürliche Notwendigkeit allein sein Selbstzweck wäre.“ Bartlebooth ist reich, aber die Frauen, die Macht, die Kunst interessieren ihn nicht. „Angesichts der unentwirrbaren Zusammenhanglosigkeit der Welt" widmet er sein Leben einer ebenso schönen wie absurden Idee, die dann doch einen Zusammenhang herstellt - den allerdings niemand kennt außer Bartlebooth. Als er nämlich zwanzig Jahre alt wird und sich die Frage stellt: „Was soll ich tun?“, lautet seine Antwort: „Nichts“. Dieses Nichts nun muss gestaltet werden und mündet in ein Projekt, das erstens nicht heldenhaft oder spektakulär sein, sondern unsichtbar bleiben soll; das zweitens soweit wie irgend möglich dem Zufall entzogen sein soll; das drittens ästhetisch vollkommen sein soll, also nutzlos und zweckfrei, was einschließt, dass es sich am Ende selber aufhebt. Das ist der Plan. Seine Verwirklichung sieht so aus: Zehn Jahre lang geht Bartlebooth bei einem Maler in die Schule, um die Kunst des Aquarellierens zu lernen. Danach reist er zwanzig Jahre durch die Welt, um alle zwei Wochen eine Aquarell von einem Hafen zu malen, was insgesamt 500 Seestücke ergibt. Diese Bilder schickt er nach Paris, wo sie ein Spezialist (der im selben Haus wohnt) auf eine Holzplatte klebt und in 750 Puzzle-Teile zerlegt. Die nächsten zwanzig Jahre wird Bartlebooth alle zwei Wochen je ein Bild wieder zusammensetzen. Diese Bilder werden wieder an den Ort ihrer Entstehung zurückgebracht, wo sie dann in einem Säurebad so behandelt werden, dass nur noch das leere Blatt Papier zurückbleibt. Sie mögen dieses Projekt für verrückt halten, und damit haben Sie recht. Aber es ist mehr als verrückt. Es ist nämlich außerdem erstens eine Metapher für die Autonomie und Zweckfreiheit der Kunst. Zweitens errichtet es über der „unentwirrbaren Zusammenhanglosigkeit der Welt“ eine Ordnung eigener Güte und Schönheit. Und drittens bildet es das Formprinzip dieses Romans. Er selber nämlich ist ein großes Puzzle-Spiel, das der Leser zusammensetzen muss. Dieser Roman ist also ein Beipiel für reine Literatur, rein, weil er seinen eigenen Gesetzen folgt. Aber handelt es sich überhaupt um einen Roman? Der dicke Band enthält ein Personenregister, eine Zeittafel, einen Plan des Hauses, ein Verzeichnis der Geschichten, und er beginnt mit einer Betrachtung über die Eigenart und Qualität verschiedener Puzzle-Techniken. Er trägt also tatsächlich Züge einer Gebrauchsanweisung. Aber wofür? „Das Leben Gebrauchsanweisung“ lautet der Titel. Ist das pure Ironie – oder können wir für unser Leben etwas daraus lernen? Perecs Buch ist von einer menschenfreundlichen Weisheit durchdrungen, die uns die vom Zufall fürchterlich bedrohte Existenz des Menschen vor Augen führt. Der einzige, der den Zufall wirksam ausschließt, ist Bartlebooth, aber wollten wir so leben wie er? Wenn nicht, dann bleibt uns nur die Möglichkeit, den Zufall ergeben zu akzeptieren – oder hinter ihm ein anderes Prinzip wirken zu sehen, etwa Gott. Das ist eine Frage, die der Roman nicht stellt, aber er führt zu ihr hin. Und die einzige Form, die der Roman anbietet, um das Chaos des Zufalls zu bändigen, also auch den prinzipiell unendlichen Exkurs, der vom Hölzchen aufs Stöckchen und vom Stöckchen aufs Splitterchen und so weiter führen müsste, ist das Puzzle-Prinzip: Nur so lässt sich die in ihre Teile zerfallene Welt wieder zusammensetzen. Aber dieses Zusammensetzen führt im Ernst nicht weit, es macht ja nichts besser. Oder doch? Es unterbricht die allgemeine „Zusammenhanglosigkeit“ für einen Augenblick. Dieser Roman ist eine kleine Insel des Widerstands im allgemeinen Chaos. Ich möchte das, wofür Perec steht, reine Literatur nennen. Sie zeichnet sich durch eine selbstreferenzielle Ästhetik aus. Damit meine ich Romane, die ihren Erkenntnisanspruch aus ihrer Form gewinnen und umgekehrt ihre Form aus ihrem Erkenntnisanspruch. Sie neigen dazu, geschlossene Systeme zu bilden. Die Alternative, die angewandte Literatur, bietet große Möglichkeiten, aber sie ist doch begrenzt: Dass sich der Roman seine Form durch die unerhörte Begebenheit nahelegen lässt, sei es eine erfundene oder eine wirkliche. Dagegen kann man revoltieren, wie es der zitierte Edouard tut, und der Gewinn, den diese Revolte verspricht, ist nichts Geringeres als die Freiheit der Kunst. Es gab und gibt aber immer wieder Versuche, den Roman autonom zu machen, so weit irgend möglich, und eines der extremsten Beispiele ist der kürzlich ins Deutsche übersetzte Roman „Dee Weedergenger“ (Les Revenentes, 1972) von Georges Perec, ein Roman, der (fast) ausschließlich den Vokal „e“ verwendet – das komplementäre Projekt zu dem Roman „La Disparition“ (1969), der alle Vokale gebrauchte außer dem „e“. Ich zitiere die ersten Zeilen von „Dee Weedergenger“: „Verschreckten Lemmern ehnelnd bewegen sechs gelbe Mercedes Benz, deren Fenster gegen sehende Menschen verhengt schejnen, eher gemessen gelbes Blech gen Westend Street, schwenken spehter der Temple Street, ferner jenen engen Wegen entgegen, nechst deren Erlen nebst Ebereschen Exeters mecht‘ge Feste steht…“ Das ist, im Sinne meiner Unterscheidung, reine Literatur, gewissermaßen im reinstmöglichen Sinn. Sie sehen, dass mit diesem einzigen Handgriff, mit der Reduzierung aller Vokale auf das „e“ die herkömmliche Wirklichkeit verschwindet und eine neue Wirklichkeit entsteht, eine Wirklichkeit aus Sprache und Klang. So viel dazu. Ich komme nun zu meiner Schlussbemerkung. Sie ist, um Sie zu trösten, erheblich kürzer als das Vorangegangene. Was heißt Wirklichkeit? Sie erinnern sich an die Bemerkung von Hans Henny Jahnn: das wahre Kunstwerk sei „mit dem Hauch der wirklichen Wirklichkeit beschmutzt“. Unter „wirklicher Wirklichkeit“ ist das Eindringen der kruden Realität in den Roman zu verstehen, das Böse, das Hässliche, die Gewalt, und deswegen kann der Roman keine reine Form sein, er muss sich, wenn er Menschen schildert, auch mit ihrer Gerausamkeit und ihrer Niedertracht auseinandersetzen, so wie es da Cunha und Vargas Llosa in ihren Büchern über den Krieg im Sertao getan haben oder sie wie Jahnn selber, dessen Roman „Fluss ohne Ufer“ mit Mord und Meuterei beginnt. Man kann aber unter „wirklicher Wirklichkeit“ geradezu das Gegenteil verstehen. Heinrich Drendorf, der Held in Adalbert Stifters Roman „Der Nachsommer“ (1857), besucht einmal mit seinen Eltern eine Aufführung von Shakespeares „Lear“ im Wiener Burgtheater. Er fühlt sich zu Tränen gerührt und empfindet das, was scheinbar nur auf der Bühne geschieht, als „die wirklichste Wirklichkeit“, als eine Wirklichkeit höherer Ordnung. „Der Nachsommer“ ist der kühne Versuch, diese höhere Wirklichkeit mit der wirklichen Wirklichkeit zu versöhnen und in eine vollkommene Harmonie zu überführen, die alle widerstreitenden Kräfte und Leidenschaften besänftigt. Weil aber jedes Handeln unerwünschte Effekte haben kann und ein unkalkulierbares Gegenhandeln erzeugt, kann der Roman sein Ziel nur erreichen, indem er die Zeit still stellt und eine Utopie des schönen Nichthandelns entwirft. Der „Schmutz der Wirklichkeit“ wird von Stifter literarisch-programmatisch geleugnet, er kommt im „Nachsommer“ nicht vor. Auch er ist ein Beispiel reiner Literatur. Um den Preis allerdings, dass die Bewegungslosigkeit der Figuren eine ungeheure Anspannung erzeugt, die den Roman wie ein stilles Beben durchzittert. Die Begriffe „reine“ und „angewandte“ Literatur, die ich Ihnen vorgestellt habe, bedeuten wohlgemerkt keine Rangfolge – der reine Roman ist nicht besser als der angewandte oder umgekehrt. Diese Kategorien dienen lediglich dem Versuch, das Gesetz näher zu bestimmen, dem ein Roman sich jeweils beugt. Denn jeder Roman folgt willentlich oder unwillentlich einer bestimmten ästhetischen Logik, und der Reiz des Lesens besteht unter anderem darin, diese Logik zu entdecken – und dann erst darüber zu urteilen, ob der Roman seiner Logik Genüge tut oder eben nicht. |
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