Home - Literarisches Leben - Geburtstagsgruß zum 80. von Fritz J. Raddatz
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Ulrich Greiner Natürlich kannte ich Raddatz, er war schon damals, 1979, ziemlich berühmt. Der ehemalige Rowohlt-Chef leitete das Feuilleton der ZEIT. Sein Buch Traditionen und Tendenzen – Materialien zur Literatur der DDR hatte ich gelesen, es war die erste große Darstellung dieser Art. Raddatz, den ich nie leibhaftig gesehen hatte, war an seinem Vollbart und seiner auffällig-erlesenen Kleidung leicht zu erkennen. Er kam auf mich zu und fragte, nach einem Vorspiel aparter Komplimente, ziemlich direkt, ob ich mir vorstellen könne, dass... Ich konnte es mir gut vorstellen, und im Juni 1980 begann meine Zeit bei der ZEIT. So also kam ich direkt vom Papst zum Großfürsten. Während für jenen das Asketische selbstverständlich war, bei allzeit klarer Hierarchie, die sich einbettete in die dem Heiligen Stuhl nicht unähnliche Verfasstheit der FAZ, fand ich bei diesem einen ausgeprägten Sinn für das Ästhetische und Üppige. Als ich mein Zimmer in Hamburg erstmals betrat, stand auf dem Schreibtisch ein prächtiger Blumenstrauß, daneben lag ein schwungvoll handschriftliches »Willkommen!«. Und als ich die ersten Konferenzen erlebte, die Große Konferenz oder die des Feuilletons, war ich erstaunt über die Ungezwungenheit, die dort herrschte und jedermann zu einem Beitrag ermunterte. Bei der FAZ hatte ein ungeschriebenes Gesetz, das Wortmeldungen nur einer gewissen Anciennität erlaubte, das Feld der Diskutanten begrenzt. Es herrschte unter Raddatz eine Stimmung, wie sie den Hof des Königs Artus geprägt haben mag: Die Ritter der Tafelrunde trafen im Gespräch der Freien und Gleichen aufeinander. Raddatz moderierte oder entflammte dieses Gespräch je nach Lage, aber wie hart die vorausgegangenen Zwiste um Platz und Präsenz auch gewesen sein mochten: Am Dienstagvormittag, wenn nach oftmals langem Spätdienst das aktuelle Feuilleton endlich fertig war, ließ Raddatz eine Flasche Champagner auffahren. Gemeinsam stießen wir an: auf die wiederum besonders geglückte Nummer. Ich gestehe, dass mir das eiskalte Getränk nicht selten unangenehm aufstieß, und den Kollegen mag es ähnlich ergangen sein. Aber der Champagner am Dienstag war eine rituelle Handlung. Sie sollte demonstrieren, dass wir das beste Feuilleton der Welt machten und dass diese Tatsache ein Anlass zum Feiern war. Wir alle wohl haben daran geglaubt, und wenn man an etwas glaubt, wird es auch gut. Heute denke ich: Es wäre immer noch gut, daran zu glauben. Jedenfalls glaubte FJR daran, und falls er je Zweifel hatte (die er, liest man seine Tagebücher, zweifellos hatte), so überredete er sich selber – und damit auch uns –, diesen Zweifeln nicht zu glauben. Der eigentliche Grund jedoch seines Glaubens an die Dignität des eigenen Tuns hat fast religiösen Charakter. Für Raddatz nämlich steht die Welt des Geistes und der Künste fraglos ganz oben, weit über den Niederungen des Politischen und des Ökonomischen. Die Literatur zum Beispiel ist das moralische Korrektiv, und zugleich überspringt sie den kleinen Horizont unseres alltäglichen Verstandes. Sie ist Hoffnung, Utopie, zugleich Gegenentwurf und auch ein Blick ins Ungeheure. Aus dieser Superiorität ergab sich für Raddatz das Faktum, dass das Feuilleton alle anderen Ressorts weit überragte, und er ließ, wenn bei den Ansagen für die nächste Woche die Reihe an ihn kam, nicht den geringsten Zweifel daran. Weil er aber wusste, dass man dem Affen Zucker geben muss, machte er aus seinen Ansagen rhetorische Feuerwerke, die auch dem skeptischsten Redakteur Tränen zustimmenden Gelächters in die Augen trieben. Es war eine wunderbare Zeit, für die ich Raddatz wirklich danke. Denn mit dem Feuer seiner Begeisterung erfüllte er auch uns. Wenngleich ich zugebe, dass es nicht selten der reine Begeisterungswille war, der ihn über alltägliche Widrigkeiten selbstbeflügelnd hinwegsetzte. Als ich nach Tagen harten Schreibens meinen ersten längeren Text seiner Sekretärin, der unvergessenen Frau Schulze, in die Hand drückte und mich nervös-erwartungsvoll eine Weile verzog, fand ich kaum zehn Minuten danach das Manuskript auf meinem Schreibtisch wieder, darüber mit breiter Feder: »Gratulation!« Natürlich war ich erleichtert und froh, dachte aber später, dass er den Text unmöglich sehr genau gelesen haben konnte. Aber so war er. Er hatte das Manuskript gewissermaßen eingeatmet. Wie er ja auch sonst mit geradezu ungeheurer Geschwindigkeit und mit all seinen Nüstern aufnahm, was der Geist der Zeit in den nationalen wie internationalen Zeitschriften enthüllte oder verriet. Er arbeitete simultan, er war gleichzeitig überall, er redete heute mit Enzensberger oder Cioran, morgen mit Kempowski oder Vargas Llosa, während er nebenbei einen Aufmacher diktierte und Honoraranweisungen unterschrieb. Es war diese Selbstüberbietung, dieser enthusiastische und eben auch enthusiasmierende Steigerungswunsch, der mich mitriss und nicht nur mich allein, sondern die gesamte Redaktion der ZEIT. Jetzt, da ich aus Anlass seines 80. Geburtstages über ihn nachdenke, wird mir vollends klar, auf welch dünnem Seil er tanzte. Irgendwann, das erscheint im Rückblick deutlicher als damals, musste der Absturz kommen. Es gab Vorzeichen, die man nicht allzu ernst nahm. Man wusste, dass Raddatz in wichtigen Details nicht immer die nötige Sorgfalt walten ließ, und man verzieh es ihm. Denn er glich jenem Zwischenrufer, der auf Versammlungen die Tagesordnung sprengt. Eine solch regelwidrige Intervention erlangt Beifall, wenn sie ein wichtiges, unvorhergesehenes Thema zur Sprache bringt. Und wenn sie leidenschaftlich genug vorgetragen wird. Beides, die Leidenschaft und der Sinn für das Wichtige, stand ihm lange Zeit zur Verfügung. Er war und ist eben ein Mann, den Geschäftsordnungen nicht sonderlich interessieren. Mich, der ich dazu neige, sie zu beachten, hat das immer ebenso irritiert wie fasziniert. Dass der Sturz eines Tages wirklich passierte (man berief ihn als Feuilleton-Chef ab, aber er blieb Autor bei der ZEIT), musste niemanden überraschen. Es geschah aus einem, wie man heute sagen muss, geradezu lachhaften Anlass. Aber die Erfahrung lehrt, dass solche Stürze selten unmittelbar erfolgen, sondern meist mit jener komischen Verzögerung, die man aus Slapstick-Filmen kennt. Wir im Feuilleton jedenfalls waren sprachlos, ohnmächtig, und dass ich schließlich sein Nachfolger wurde, hatte am Ende auch damit zu tun, dass man eine Gegenfigur suchte. Man war seiner müde geworden. Ich verstehe gut, dass all dies ihn zutiefst gekränkt hat, und rechne es ihm hoch an, dass ich in seinen nicht selten hasserfüllten Tagebüchern zwar oftmals erwähnt werde, aber nie mit Ressentiments und nie (bis auf einmal) mit einem Vorwurf. Er war ein im höchsten Maße anständiger Chef. Nie war er intrigant, nie sprach er mit doppelter Zunge, immer operierte er frei und offen. Da ich selber mal Chef war, weiß ich gut, was dies kostet. Es kann gelingen, wie es FJR gelungen ist, wenn man auf der eigenen Welle ins Gleiten kommt, so wie es guten Seglern bei ausreichendem Wind gelingt. In den Tagebüchern erzählt Raddatz mehrmals davon, wie ihn sein eigenes Tempo immer dann quäle, wenn er sich vornehme, etwas kürzer zu treten. Von schlaflosen Nächten spricht er, von der Unfähigkeit, länger als eine halbe Stunde untätig im Café zu sitzen. Und einmal schreibt er: »Dies Tempo (statt Begabung) mag zuzeiten imponierend gewesen sein, sonst wäre ja nicht aus mir geworden, was aus der Nachkriegsratte geworden ist (der/die so lange tat, als beherrsche sie fließend Englisch und Französisch – bis er TATSÄCHLICH recht gut beide Sprachen beherrschte, immerhin Sartre oder Lévi-Strauss, Arthur Miller oder John Updike interviewen konnte). Eine Art Selbst-Induktion.« Seine Tagebücher zu lesen stimmt mich traurig: so viel Bitternis und Erbitterung! Ihn zu trösten steht mir wohl nicht zu, aber mir scheint, er hat keinen Grund zur Bitterkeit. Sein Ruhm ist groß, sein Werk wahrlich gewaltig. Die Romane, die glanzvollen Essays, die Biografien wurden und werden weithin gelesen, sie ernteten Zuspruch und natürlich auch Verrisse. In Büchern von Kritikerkollegen schlage ich selten nach. Zumeist enthalten sie starke Meinungen. Bei Raddatz, etwa in Revolte und Melancholie oder Die Nachgeborenen, finde ich scharfsinnige Analysen, kluge Einordnungen und Leidenschaft für die Sache. Ich verdanke ihm viel. Auch das Land verdankt ihm viel. Er hat das intellektuelle Leben der Republik über viele Jahre hinweg nicht nur begleitet, wie mancher von uns, sondern befeuert. Oft in seinen Notizen hat er sich mit dem Tod beschäftigt, sah sich frühzeitig verlöschen, und er lebte ja auch riskant. Jetzt wird er achtzig. Noch viele produktive Jahre ihm wünschend, schreibe ich hier mit breiter Feder hin: Gratulation, lieber Herr Raddatz!
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