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Ulrich Greiner

Die kleine Hexenjagd
Über die sprachliche Reinigung von Kinderbuch-Klassikern

Artikel 5 des Grundgesetzes behauptet: »Eine Zensur findet nicht statt.« Was aber, wenn sie doch stattfindet? In der menschenfreundlichen Absicht, auf die Gefühle von Minderheiten Rücksicht zu nehmen? Bekannte deutsche Verlage haben angekündigt, ihre Kinderbuch-Klassiker zu überarbeiten und Formulierungen, die als verletzend empfunden werden könnten, durch neutrale zu ersetzen. Klaus Willberg vom Thienemann Verlag, der die Bücher von Michael Ende und Otfried Preußler verlegt, beabsichtigt, »veraltete und politisch nicht mehr korrekte Begrifflichkeiten« zu entfernen: Wie anders als Zensur oder Fälschung soll man das nennen?

In Preußlers Buch Die kleine Hexe verkleiden sich Kinder als Neger, Chinesenmädchen und Türke. Diese Begriffe sollen nach Willbergs Willen verschwinden: »Die Kinder werden sich als etwas anderes verkleiden.« Ihre Auswahl schrumpft: Als Indianer, Zigeuner oder Eskimo können sie auch nicht gehen, das wäre diskriminierend, ein Dornröschen wäre sexistisch, ein Scheich islamfeindlich. Und Hexe geht ja schon lange nicht mehr.

Vielleicht Pirat? Pippis Herzenswunsch ist, Seeräuber zu werden. Einstweilen ist die Heldin von Astrid Lindgrens legendärer Trilogie Pippi Langstrumpf lediglich »Negerprinzessin«. Das heißt, sie war es. Der Oetinger-Verlag hat schon vor Jahren alle »Neger« entfernt. Heute ist Pippi »Südseeprinzessin«. Damals, Mitte der vierziger Jahre, als der erste Band in Schweden erschien, sei der Begriff noch nicht verletzend gewesen, sagt der Verlag, heutzutage könne man ihn so nicht stehen lassen. Ein Furor politischer Korrektheit verbreitet sich im Land. Die Ministerin Kristina Schröder hat auf die Frage, wie sie mit dem »kleinen Neger« umgehen würde, der gleich zu Beginn in Michael Endes Roman Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer auftaucht, geantwortet, sie würde daraus beim Vorlesen »ein Baby mit schwarzer Hautfarbe« machen.

Schauen wir uns die Szene an. Auf der Insel Lummerland, die unter der Regentschaft von König Alfons dem Viertel-vor-Zwölften von Frau Waas, Herrn Ärmel und Lukas dem Lokomotivführer bewohnt wird, kommt eines Tages ein Paket an. Man öffnet es:

»›Ein Baby!‹, riefen alle überrascht, ›ein schwarzes Baby!‹ – ›Das dürfte vermutlich ein kleiner Neger sein‹, bemerkte Herr Ärmel und machte ein sehr gescheites Gesicht.«

Frau Schröder würde übersetzen: »›Ein Baby!«, riefen alle überrascht, ›ein schwarzes Baby!‹ – ›Das dürfte vermutlich ein Baby mit schwarzer Hautfarbe sein‹, bemerkte Herr Ärmel und machte ein sehr gescheites Gesicht.«

Herr Ärmel ist ein Mann von großer Güte und kleinem Verstand, aber so blöde dann doch nicht. Und der Witz der Szene verschwindet. Denn der eigentliche Schwarze auf Lummerland ist Lukas, der täglich mit seiner Lokomotive auf der Insel herumfährt und den Ruß nie ganz von der Haut kriegt, trotz seiner »besonderen Lokomotivführerseife«. Er bleibt also schwarz, »aber wenn er lachte, sah man in seinem Mund prächtige weiße Zähne blitzen. Außerdem trug er im linken Ohrläppchen einen kleinen goldenen Ring.«

Man sieht: Lukas ist der Karnevalsneger, Jim Knopf ist der richtige Neger. Wer da mit Korrekturen anfängt, darf gar nicht mehr aufhören. Das gilt erst recht für Pippi Langstrumpf. Der Antisemitismus- und Rassismusforscher Wolfgang Benz hat vor einiger Zeit entdeckt, Astrid Lindgrens Buch sei »mit Ressentiments befrachtet« und von »Kolonialrassismus« gezeichnet. Beweis dessen: Pippi behaupte, alle Menschen im Kongo lögen.

Ja, sie sagt das, und es kommt so: Pippi geht eines Tages auf der Straße rückwärts. Von den Nachbarskindern Thomas und Annika darauf angesprochen, antwortet sie: »Leben wir etwa nicht in einem freien Land? Darf man nicht gehen, wie man möchte?« In Ägypten zum Beispiel, wo sie schon einmal gewesen sei, gingen alle Menschen so, und in Hinterindien liefen sie auf den Händen. »›Jetzt lügst du‹, sagte Thomas. Pippi überlegte einen Augenblick. ›Ja, du hast recht, ich lüge‹, sagte sie traurig. ›Lügen ist hässlich‹, sagte Annika. ›Ja, Lügen ist sehr hässlich‹, sagte Pippi noch trauriger. ›Aber ich vergesse es hin und wieder, weißt du. Und übrigens‹, fuhr sie fort, und sie strahlte über ihr ganzes sommersprossiges Gesicht, ›will ich euch sagen, dass es im Kongo keinen einzigen Menschen gibt, der die Wahrheit sagt. Sie lügen den ganzen Tag. Sie fangen früh um sieben an und hören nicht eher auf, als bis die Sonne untergegangen ist.‹«

Selbstverständlich ist es die Aufgabe eines Rassismusforschers, Rassismus ausfindig zu machen, aber er sollte sein Augenmerk vielleicht lieber auf die Realität richten als auf die Fiktion. Pippi Langstrumpf ist nämlich nicht nur ein Kinderbuch, sondern auch ein literarisches Meisterwerk. Es spielt virtuos mit verschiedenen Ebenen von Wahrheit und Wirklichkeit. Wenn Pippi zugibt, dass sie leider oft lüge, und zugleich behauptet, dass alle Kongolesen lögen, erinnert sie an das von Bertrand Russell formulierte berühmte Paradoxon: »Epimenides, der Kreter, sagte: Alle Kreter sind Lügner.«

Für Kinder ist das kein Problem, nur für Erwachsene. Und die Erwachsenen haben Pippi nie wirklich gemocht. In Frankreich war das Buch, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre, mehr als vierzig Jahre lang nur in einer stark redigierten Fassung zu haben. Alle provozierenden Passagen, vor allem Pippis ausgesprochen rotzigen Umgang mit den Lehrern, hatte man gestrichen. Als Astrid Lindgren davon erfuhr, erschien 1995 endlich die richtige Fassung. Aber Pippi ist nicht nur rotzig, nicht nur eine Anarchistin, sie hat auch einen scharfen Kopf. Einmal wird sie von der Lehrerin für eine gute Tat gelobt: »Dazu sind wir ja da, damit wir gut und freundlich zu anderen Menschen sind.« Pippi entgegnet: »Hehe, und wozu sind die anderen Menschen da?«

Dem Wegfall der Negerprinzessin haben Lindgrens Erben offenbar zugestimmt. Man will ja keinen Ärger. Es ist aber sonnenklar, dass Pippis »Neger« nichts anderes sind als eine haltlos-unschuldige Spielerei mit jenem Phantasma des naiven Naturvolks, das schon Gauguin umgetrieben hat. Pippi fährt ja in die Südsee, wo es bekanntlich keine Schwarzen gibt, weshalb Kritiker bemerkt haben, man müsse »Polynesier« sagen. Das steht aber nicht bei Lindgren. Da steht »negerprinsessa«, und an einer Stelle sagt Pippi: »Ich werde einen eigenen Neger haben, der mir jeden Morgen den ganzen Körper mit Schuhcreme putzt. Damit ich ebenso schwarz werde wie die anderen Negerkinder. Ich stelle mich jeden Abend zum Putzen raus, zusammen mit den Schuhen.« Das verstehen heute, da in den allermeisten Hotels die Schuhe nicht mehr geputzt oder gewichst werden, selbst Erwachsene nicht mehr.

Die Bedeutung von »Neger« hat sich tatsächlich gewandelt. Heute ist es ein herabsetzender Begriff, der sich im respektvollen Umgang verbietet. In einem literarischen Text aber kann er erlaubt sein, zum Beispiel bei Rollenprosa. Aber auch die kann problematisch werden. Der Schriftsteller Uwe Timm etwa setzt sich in seinem Roman Morenga mit dem deutschen Kolonialismus in Afrika auseinander. Darin heißt es: »Oberveterinär Gottschalk wurde von einem Neger an Land getragen.«

Er sei für diese Formulierung heftig kritisiert worden, sagt Timm nun gegenüber der ZEIT – übrigens nicht von Afrikanern, sondern von Deutschen. »Aber diese Passage wird aus dem Blickwinkel Gottschalks erzählt, und für den waren die Schwarzen bloß die Neger.« Man könne den historischen Wortgebrauch nicht einfach übergehen und quasi eine reine Sprache herstellen. Das wäre Geschichtsklitterung.

In der Tat: Jeder Sprachgebrauch ist kontaminiert von den Zeitumständen. In Schillers Drama Die Verschwörung des Fiesco zu Genua tritt ein Schwarzer auf: »Muley Hassan, Mohr von Tunis. Die Physiognomie eine originelle Mischung von Spitzbüberei und Laune«. Er versucht erfolglos, Fiesco zu erdolchen. Für Geld tut er alles, und für eine höhere Prämie wechselt er auf Fiescos Seite. Davor sagt er: »Herr, einen Schurken könnt Ihr mich schimpfen, aber den Dummkopf verbitt ich.« Darauf Fiesco: »Ist die Bestie stolz. Bestie, sprich, wer hat dich gedungen?« Vielleicht ist es gut, dass das Stück heute fast nicht mehr gespielt wird. Andererseits ist der Begriff Mohr so erkennbar altmodisch, dass man ihm eine unheilvolle Wirkung kaum noch unterstellt. Und schließlich ist Schiller hohe Literatur, da ist man vorsichtiger.

Bei Kinder- und Jugendbüchern jedoch herrscht nun der Alarmzustand. Die zahllosen Robinson-, Moby Dick - und Gulliver -Ausgaben für Jugendliche wurden schon immer gekürzt und zensiert. Das spielte insofern keine Rolle, als sich jeder, wenn er alt genug war, die Originale leicht zu Gemüte führen konnte. Wie aber steht es jetzt im Fall von Astrid Lindgren, Otfried Preußler und Michael Ende? Und womöglich von vielen anderen, deren Texte längst stillschweigend zensiert wurden? Auch das sind Werke der Literatur, deren Entstehungszeit ihren Sprachgebrauch und ihr gesamtes Wesen unvermeidlich geprägt hat. Darf man diese Prägung wegredigieren? Und darf man Pippis lügnerisches Volk zuerst im Kongo, dann in Nicaragua und schließlich in Kenia lügen lassen, wo der Verlag es nacheinander angesiedelt hat, während es bei Astrid Lindgren seit je im Kongo gelogen hat?

Die Verlage fummeln ja nicht allein aus moralischen Gründen. Klaus Willberg, von der ZEIT dazu befragt, erklärt, in älteren Büchern gebe es zuweilen Wendungen, die den heutigen Kindern nicht mehr verständlich seien. Den Ausdruck »Schuhe wichsen« müsse man durch »Schuhe putzen« ersetzen und das veraltete »Handy« durch das aktuelle »Smartphone«. Es geht mit anderen Worten darum, die Akzeptanz der Kinderbuch-Klassiker auf dem gewohnten Verkaufsniveau zu halten und die jungen Kunden nicht durch ein ungewohntes Vokabular abzuschrecken. Aber dieser Versuch, eine totale Gegenwärtigkeit herzustellen, muss bei anspruchsvollen Texten scheitern.

Winston Smith, der Held von George Orwells Roman 1984, ist Angestellter im sogenannten Wahrheitsministerium. Seine Aufgabe besteht darin, Bücher und Zeitungsberichte umzuschreiben, also rückwirkend zu verfälschen. Seine Freundin Julia ist jünger als er, sie ist unter dem Regime des Großen Bruders aufgewachsen. Eines Tages sagt er zu ihr: »Ist dir klar, dass die Vergangenheit tatsächlich ausgelöscht worden ist? Alle Dokumente sind entweder vernichtet oder gefälscht worden, jedes Buch hat man umgeschrieben, jedes Gemälde neu gemalt, jedes Denkmal, jede Straße und jedes Gebäude umbenannt, jedes Datum geändert. Die Historie hat aufgehört zu existieren.«

So weit sind wir glücklicherweise nicht. Es ist nicht Orwells Großer Bruder, der interveniert, sondern der Kleine Bruder politische Korrektheit. Dessen rastlose Tätigkeit sollte man aber nicht unterschätzen. Er realisiert sich im Tun jener zahllosen, oftmals staatlich bestallten Tugendwächter, die in höherem Auftrag, sei es Feminismus, Anti-Antisemitismus oder Antirassismus, agieren und die mit ideologisch geschärftem Nachtsichtgerät dunkle Abweichungen vom Pfad der Gerechten unverzüglich aufdecken. Wer sucht, der findet. Aber leider recht selten jene hasserfüllten Schläger, deren Untat für alle sichtbar ist. Wenn die überhaupt je gelesen haben, sind sie auf ihre mörderischen Ideen sicherlich nicht durch die fehlgeleitete Lektüre der Kleinen Hexe oder Pippi Langstrumpfs gekommen.

Zweifellos gibt es Rassismus in diesem Land, und es gibt immer mehr Mitbürger nichtdeutscher Herkunft, die Wörter wie »Negerkuss« oder »Mohrenkopf« nicht sehr komisch finden und die in der Idee, sich als »Neger« oder »Türke« zu verkleiden, den Ausdruck jenes »weißen Dominanzdenkens« erkennen, das Wolfgang Benz an Astrid Lindgren kritisiert.

Mekonnen Mesghena zum Beispiel sieht das so. Als Flüchtling aus Eritrea kam er im Alter von vierzehn Jahren nach Deutschland, machte Abitur, studierte Journalistik, war beim WDR und leitet nun das Referat »Migration & Diversity« der Heinrich-Böll-Stiftung. Er war es, der den Thienemann Verlag durch einen »massiven, in der Sache aber korrekten Beschwerdebrief«, so Willberg, dazu bewog, die Kleine Hexe zu überarbeiten. Im Gespräch mit der ZEIT schildert Mesghena die Hürden und Vorurteile, die er im Lauf seines Lebens zu überwinden hatte. Als er seiner Tochter aus der Kleinen Hexe vorlas, stieß er auf das Kapitel, in dem sich die Kinder verkleiden. »Ich geriet ins Stocken. Das hat sie gemerkt und gefragt: Was ist los? Ich habe gesagt: Das wimmelt nur so von rassistischen Ausdrücken. Für sie ist das kein Fremdwort. Sie weiß, dass ich mit dem Kindergarten gesprochen habe, damit das Wort Neger dort nicht mehr verwendet wird. Ich habe sofort an den Verlag geschrieben, dass ich die Ausdrücke rassistisch finde.«

Nun könnte man Mesghena entgegnen, er möge bedenken, dass alles Geschriebene dem Gesetz sprachlichen Altwerdens unterliege. Und dieses Gesetz werde nicht dadurch beseitigt, dass man Texte umschreibe, handele es sich um die Bibel oder um die Kleine Hexe. Und zweitens könnte man ihm sagen, dass die von ihm monierten Bücher in der Lesebiografie deutscher Kinder, die heute oftmals erwachsen seien, eine wichtige Rolle gespielt hätten und dass man ihnen nicht die Erinnerung stehlen dürfe. Damals sei es ein gewiss unschuldiges Vergnügen gewesen, sich als Türke oder Neger zu verkleiden. So wie ja auch unter den Heiligen Drei Königen, die als Sternsinger in die Wohnungen kommen, bis heute immer einer sei, der sich als Mohr verkleide, obwohl der Bibeltext keinen Hinweis darauf gebe.

So könnte man sprechen, müsste aber zuvor auf ein höchst verbreitetes Argument eingehen, das bei Kristina Schröder auftaucht, wenn sie sagt: »Auch ohne böse Absicht können Worte Schaden anrichten.« Damit ist gemeint, dass die – ob leichtfertige, ob spielerische – Verwendung des Wortes »Neger« den Samen des Rassismus sät, der, einmal in den Boden der kindlichen Seele gesenkt, böse Früchte trägt.

Das, mit Verlaub, ist ein naiver Gedanke. Er setzt eine Art Unschuld des Kindes voraus, die sich dadurch bewahren lasse, dass man es vor schädlichen Vokabeln schütze. Er übersieht den simplen Sachverhalt, dass keine Erziehungsidee jemals direkt zum Ziel gelangt ist (zum Glück), denn der Charakter eines Menschen entsteht dialektisch, über Figuren der Spiegelung, des Widerspruchs, der Überbietung. Sodass ein Kind, das von Beginn an gelernt hätte, wie böse es sei, »Neger« zu sagen, vielleicht irgendwann von der Lust ergriffen würde, es endlich zu sagen – und die verächtlichen Implikationen womöglich für wahr zu halten.

Glaubt im Ernst jemand, man erziehe Astrid-Lindgren-Leser zu Rassisten, wenn man den Text nicht reinige? Sollte man die pädagogische Energie nicht besser auf das Heer jener Illiteraten richten, die von Pippi Langstrumpf noch nie etwas gehört haben und trotzdem genau wissen, wer der Neger ist?

Was eigentlich sagen die jungen Leser selbst dazu? Die ZEIT hat zwei Hamburger Schulklassen das Problem vorgelegt. Hier einige Antworten: »Früher dachten viele Deutsche, sie seien klüger als Menschen aus anderen Ländern. Sie fanden es lustig, sich zum Beispiel als Türken, Chinesen und Neger zu verkleiden. Meine Eltern kommen aus Spanien und der Türkei. Deshalb kann ich über so etwas nicht lachen.« Oder: »Wenn man jemanden Negerlein nennt, klingt das wie der Name für ein Haustier. Und das ist gemein! Wenn solche Wörter in Büchern vorkommen, muss man die Bücher ändern.« Schließlich: »Das Wort Negerkuss darf man heute nicht mehr sagen, das ist schwarzen Menschen gegenüber gemein. Deshalb sollte das Wort Neger auf keinen Fall in einer Geschichte vorkommen.« So oder ähnlich lauteten die allermeisten Antworten.

Was folgt daraus? Wenn das Ergebnis repräsentativ ist (was wir nicht wissen), so ist es höchst ermutigend. Es bedeutet nämlich, dass Kinder, die eine gewisse Lesepraxis haben, in Sachen Wortwahl sehr empfindlich sind, sodass also die Furcht, sie würden durch ehemals harmlose und heute kränkende Vokabeln auf Abwege geführt, unbegründet ist. Diese Kinder müssten dann nur noch ihre Erfahrungen mit der Geschichtlichkeit von Texten sammeln, damit sie einsähen, wie wenig rückwirkendes Umschreiben hilft.


Die Annahme einer harmlosen Kinderseele, die vor schlimmen Wörtern zu bewahren sei, führt in die Irre. Vermutlich ist die gegenteilige Annahme richtig: dass die kindliche Seele keineswegs rein und unschuldig ist, sondern von früh an gesättigt mit Aggressivität – ein Wort, das man nur mit Vitalität übersetzen muss, um es weniger schrecklich zu finden. Der Aggressionstrieb findet etwa in den Märchen der Brüder Grimm das Feld, auf dem er sich unschädlich austoben darf. Die Märchen verstoßen gegen alle Regeln politischer Korrektheit. Es herrschen dort Mord und Totschlag, Mütter werden verbrannt und Söhne umgebracht. Das muss niemanden erschrecken, denn derlei ereignet sich im Kopf, passiert aber nicht wirklich.
Wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute. Und wenn nicht, würde es nicht helfen, die Märchen umzuschreiben. Wie überhaupt das Fälschen noch nie geholfen hat.
Mitarbeit: Catalina Schröder, Kilian Trotier

17.1.2013


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