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Ulrich Greiner Ein Besuch bei Alberto Manguel und seiner 30000 Bände umfassenden Bibliothek Ohne Schriftsteller gäbe es keine Literatur, ohne Leser keine Literaturgeschichte. Denn das Werk, damit es wirken kann, will gelesen werden. Jeder Leser verwirklicht es von Neuem. In Wahrheit ist also er es, dem die Literatur ihr Leben verdankt, ohne ihn wäre sie ein Haufen sinnloser Seiten. Der Leser jedoch bleibt anonym, er verrichtet seine Arbeit ohne Auftrag und ohne Dank. Mondion? Mon Dieu! Ein Dorf kann man es nur mit Mühe nennen. Kaum ein Dutzend Häuser gruppiert sich um einen Hügel, von dem man nach allen Seiten übers liebliche Land schaut. Wie in alten Bilderbüchern steht in der Mitte die Kirche, deren Glocke sich stündlich etwas blechern zu Wort meldet. Die Kirche stammt aus dem 13. Jahrhundert, sie ist verschlossen, eine förmliche Gemeinde und einen Pfarrer gibt es schon lange nicht mehr. Direkt an die Kirche angebaut, steht das betagte Pfarrhaus, zwei Etagen hoch. In seiner Mitte befindet sich die Einfahrt, ein klappriges Brettertor, und wenn man hindurchgeht, begleitet von der schwanzwedelnden Hündin Lucy, gelangt man in einen bezaubernden Innenhof, geschmückt mit zahllosen Rosen, überschattet von einer großen Akazie. Von links oben blickt feierlich die Fensterrosette der Kirche herab. Und rechts das aus warm leuchtendem Kalkstein gefügte Gebäude – das muss die Bibliothek sein, die wir aus Manguels Büchern schon ein bisschen kennen.
Dann aber öffnet sich der Hof in einen weitläufigen Garten, wo es mächtige Koniferen gibt, von Früchten strotzende Kirschbäume, steinerne Sitzbänke und immer wieder die schönsten Rosen. Wer will, kann an die Natursteinmauer treten und seinen Blick über die Felder schweifen lassen. Aber wir befinden uns hier in einem hortus conclusus, in dem nach außen abgeschlossenen Paradies des Lesers, und der Leser richtet seinen Blick nicht in die Weite der Landschaft, sondern in die Weite des Geistes. Es gibt hier keine Aussichtsterrasse, kein Panoramafenster mit Fernsicht. Nach innen geht der Weg. Alberto Manguel beginnt seinen Tag morgens um fünf. Heute hat er zwei Stunden in Dantes Göttlicher Komödie gelesen, vor dem Frühstück. Das ist der ideale Moment, wenn man noch nicht in der alltäglichen Welt zu Hause ist. Manguel nennt das »eine Art Meditation«. Sei man zu wach, dann kämen zu viele vom Buch ablenkende Gedanken, das Denken richte sich auf eigene Ziele. Dafür ist Zeit am Vormittag, wenn er schreibt. Er staune immer wieder, sagt er, über Dantes Perfektion. Da gebe es keine einzige schwache Stelle. Wir sitzen im Innenhof unter einem großen Sonnenschirm, und Manguel springt auf, wie er es noch ein paar Mal tun wird, um in die Bibliothek hinüberzulaufen und das passende Buch zu holen. Er findet es immer sehr schnell. Diesmal bringt er die zweisprachige Dante-Ausgabe: links das italienische Original, rechts die französische Fassung. Er lese recht gut Italienisch und brauche die Übersetzung nur für Zweifelsfälle. Wir hatten unser Gespräch auf Deutsch begonnen, Manguel sprach es akzentfrei, war aber nach wenigen Sätzen ins Englische geraten. Er entschuldigt sich dafür und sagt, Deutsch sei die Sprache seiner Kindheit, schwierigere Dinge darin auszudrücken falle ihm schwer. Auf Englisch erzählt er, wie er, 1948 in Buenos Aires geboren, zur deutschen Sprache kam. »Meine Mutter war besessen von der deutschen Kultur. Sie hielt sie für die bedeutendste. Sie gab eine Anzeige auf und suchte ein deutschsprachiges Kindermädchen. Es meldete sich eine tschechische Jüdin, die vor den Nazis nach Argentinien geflohen war. Sie war eine schlechte Lehrerin, weil sie überhaupt nicht darauf achtete, dass ich noch ein Kind war. Sie las Lessings Nathan mit mir und Kleists Zerbrochnen Krug. Ich verstand das kaum. Andererseits war sie insofern eine gute Lehrerin, als es keine Grenzen gab, sie hat nie etwas simplifiziert. So kam ich in die deutsche Literatur. Ich musste Gedichte von Heine auswendig lernen, einige kann ich noch heute.« Als Manguel fünf Jahre alt war, verbrachte die Familie einen Sommerurlaub in Garmisch-Partenkirchen. »Das war ein Ansichtskartendorf mit Geranienkästen auf den Balkonen und herzförmigen Öffnungen in den Fensterläden. Ich hatte kein Bewusstsein davon, dass meine Familie jüdisch war und wie merkwürdig es war, die Ferien ausgerechnet in einem von Hitlers Lieblingsorten zu verbringen, und das wenige Jahre nach dem Krieg.« Der Vater arbeitete im diplomatischen Dienst und war der erste argentinische Botschafter in Tel Aviv. Später ging die Familie nach Großbritannien, dort lernte Manguel Englisch, mit dem Kindermädchen sprach er Deutsch, und erst als die Familie nach Buenos Aires zurückkehrte, lernte er Spanisch, die Sprache seiner Heimat. Da war er acht Jahre alt. Und die Mutter, in welcher Sprache hat sie zu ihm gesprochen? »Meine Mutter hat selten mit mir geredet, ich hatte wenig Kontakt zu ihr.« Das Thema Auschwitz wurde in der Familie niemals erwähnt, auch vom Kindermädchen nicht. Manguel erinnert sich daran, dass man den Kuchen bei einem deutschen Konditor in Buenos Aires einzukaufen pflegte und wie die Mutter einmal sagte, eigentlich solle man nicht zu diesem Mann gehen, aber sein Kuchen sei halt der beste. Später erfuhr er, dass der Mann ein Nazi war. Manguel entspricht nicht dem Klischee des Büchermenschen. Weder wirkt er blass und vergrämt, noch umgibt ihn die Aura des melancholischen Gelehrten. Eine Brille mit dicken Gläsern trägt er durchaus, aber die Augen blicken lebhaft und munter, als verberge sich hinter der Stirn die nächste Pointe. Dass er außerdem ein leidenschaftlicher Koch ist, werde ich später merken. Aber gelesen hat er schon immer. Und vorgelesen. Als Schüler wurde er zum Vorleser des erblindeten Jorge Luis Borges, des großen argentinischen Schriftstellers. Danach studierte er Literatur und Philosophie, schloss Bekanntschaft mit Autoren wie Hector Biancotti oder Julio Cortázar und ging, als die Verhältnisse unter der argentinischen Militärdiktatur unerträglich wurden, ins Ausland, arbeitete als Lektor und Verleger in Paris, London, Mailand, Tahiti, Toronto. Dass Alberto Manguel in der Welt herumgekommen ist, kann man wahrlich sagen. Aber was ist das Primäre für ihn? Knapp und entschieden antwortet er: »Meine Erfahrung des Lesens ist meine Erfahrung der Welt.« Und auf eine Nachfrage sagt er erneut: Zuerst komme für ihn das Lesen, dann erst das, was wir Leben oder Wirklichkeit zu nennen gewohnt seien. Das sei auch ganz normal, denn wir alle konstruierten immerzu Modelle der Wahrnehmung. Um wirklich eine Erfahrung machen zu können, müssten wir sie uns selber erzählen können, und die Muster dieser Erzählung fänden wir in der Literatur, sie biete uns die Formen der Aneignung. Aber jeder Leser, so fügt er hinzu, lese auf seine eigene Weise. Ihn zum Beispiel interessiere die Handlung der Romane von Agatha Christie oder Arthur Conan Doyle nur in Maßen, spannend finde er die Figuren und ihr Verhalten. Er ist ein Liebhaber von Kriminalromanen und besitzt eine ganze Sammlung davon. Es scheint fast so, als seien für Manguel eigentlich alle Bücher interessant. Gibt es welche, die er zu schlecht findet, um sie zu lesen? »Ich bin da nicht übermäßig anspruchsvoll, es genügt für mich irgendein Punkt der Anziehung.« Er denkt einen Augenblick nach und sagt: »Doch, Dan Browns Da Vinci Code, das ist wirklich ganz schlecht, voller Klischees.« Was ist ein Klischee? »Wenn Bulwer-Lytton einen Roman mit dem Satz beginnt: It was a dark and stormy night. Die Formulierung tritt an die Stelle des Sinns. Wir können mit dem Sinn eines Satzes nur dann etwas anfangen, wenn er mit unverbrauchten, überraschenden Worten gesagt wird.« Aber der erste Schriftsteller, so wende ich ein, der It was a dark and stormy night geschrieben hat, war doch literarisch im Recht, oder? Das gibt er sofort zu und erzählt, wie so oft in unserem Gespräch, eine Begebenheit aus einem der unendlich vielen Bücher, die er kennt. In einem Roman von Thomas Love Peacock erklärt der stolze Besitzer eines großen Gartens die einzigartige Idee der Anlage: Der Besucher solle beim Spazierengehen an jeder Biegung auf eine Überraschung stoßen. Worauf der Besucher zurückfragt: Und was, wenn ich zum zweiten Mal hindurchgehe? Es gibt aber noch andere Bücher, die Manguel nicht lesen mag – weil er sie widerwärtig findet, American Psycho von Bret Easton Ellis etwa. Die völlig emotionslose Schilderung des Bestialischen, aufgelockert durch die Insignien eines komfor-ta-blen Konsumismus, findet er unerträglich. Über Jonathan Littell und seinen Roman Die Wohlgesinnten urteilt er nicht ganz so ablehnend wie ich. Man habe ihm die Übersetzung angetragen, und er habe sie aus zwei Gründen abgelehnt: »Erstens brauche ich für ein neues Buch vier bis sieben Jahre. Angenommen, ich würde 80, dann könnte ich vielleicht noch zwei Bücher schreiben. Die Übersetzung würde mich davon abhalten. Zweitens aber wollte ich nicht im Kopf dieses furchtbaren Mörders und Nazis Max Aue leben.« Manguel erzählt von seinem Roman News from a Foreign Country Came (1991, die vergriffene deutsche Fassung erschien 1996 unter dem Titel Im siebten Kreis). In diesem Buch spielt ein französischer Polizeioffizier die Hauptrolle, der im Algerienkrieg das Foltern erlernt und praktiziert hat und von den argentinischen Militärs als Spezialist eingekauft wird. In Buenos Aires unterrichtet er Foltertechniken. »Es fiel mir schwer, ihm eine Stimme zu geben, es war eine einzige Qual.« Der Roman beginnt an einem Badestrand in der Nähe von Quebec, wo der Mann inzwischen als geachteter Pensionär den Sommerurlaub verbringt, zusammen mit seiner depressiv verschatteten, nahezu verstummten Frau und seiner zehnjährigen Tochter. Erzählt wird der Anfang aus der Sicht des Kindes, das keinen Gesprächspartner hat außer dem nicht sehr geliebten Kindermädchen. Die von einer stillen Trauer beherrschte Atmosphäre ist meisterhaft beschrieben, und man kann sich leicht vorstellen, dass Manguels eigene Erfahrungen in die Szene eingeflossen sind.
Der vorstehende Beitrag erschien in der ZEIT vom 30. Juli 2009. Der beschriebene Besuch bei Alberto Manguel fand in den Tagen vom 17. bis 20. Juni 2009 statt.
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