Ulrich Greiner
Nordwestpassage Wie Herman Melville in seinem Roman Pierre neue Länder
erobert und darin verloren geht
Dies ist der siebte Roman von Herman Melville, erschienen 1852, ein Jahr
nach Moby-Dick. Schon der war kein Erfolg. Mit Pierre
or The Ambiguities (Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten) aber gelang
es Melville, sich für die übrige Zeit seines Lebens (er starb
als fast vergessener Autor 1891) endgültig zu versenken. Danach war
er abgeschrieben, bis zu jenem Jahr 1921, als die Melville-Renaissance
mit der ersten Veröffentlichung von Billy Budd begann.
An Pierre scheiden sich die Geister. Noch immer ist die Frage,
ob dies Melvilles schlechtestes Buch sei (wie etwa John Updike glaubt)
oder im Gegenteil sein intimstes, sein eigentliches Vermächtnis (wie
der Pierre-Übersetzer Walter Weber glaubt), nicht entschieden. Wer
heute diesen Roman liest - und die Lektüre gleicht wahrlich dem Stolpern
durch einen Irrgarten -, der wird am Ende, falls er je geglaubt haben
sollte, er wisse ungefähr, wer Herman Melville war, nichts mehr für
sicher halten.
Wie? Dieses wirre Buch soll von demselben Autor stammen, der den ungeheuerlichen Moby-Dick und den herzzerreißenden Billy Budd geschrieben hat? So fragt sich der Leser; im selben Augenblick aber, heimgesucht
von einer ganzen Armada von Doppeldeutigkeiten, fällt er sich selber
ins Wort: Nein, Pierre ist nicht wirrer, nicht finsterer als
das Leben, und Melvilles Kunst besteht eben darin, Finsternis und Wirrsal
derart zu steigern, dass auf der Gegenspur plötzlich Lichter auftauchen.
Was aber bedeuten sie, wo führen sie hin?
Nehmen wir zunächst an, der Roman erzähle Folgendes: Ein stark-schöner
Jüngling mit Namen Pierre, Nachkomme einer ruhmreichen, vermögenden
Familie irgendwo im Osten Amerikas (wir befinden uns in der Mitte des
19. Jahrhunderts), verlebt heitere Tage an der Seite seiner jugendlich-schönen
Mutter, die sein Werben um die blond-schöne Lucy gut heißt
und der baldigen Hochzeit zustimmt. Pierres Glück jedoch wird vereitelt
durch einen nächtlings überbrachten Brief. Eine gewisse Isabel
offenbart sich ihm als Halbschwester. Sie lebt in ärmlichsten Verhältnissen
und verlangt von ihm, ohne es förmlich zu verlangen, dass er für
sie sorge und ihr Schutz gewähre.
Nach einer dramatischen Begegnung mit der schwarz-schönen Isabel
entbrennt Pierre in geschwisterlicher Liebe und findet sich in einem unlösbaren
Konflikt: Darf er den unbekannten Fehltritt des verehrten, früh verstorbenen
Vaters offenlegen? Kann er auf das Mitleid der stolzen Mutter hoffen?
Seine Antwort lautet: Nein. Die ebenso hirnverbrannte wie tugendhafte Lösung, auf die Pierre
verfällt, besteht darin, dass er sowohl Lucy wie seiner Mutter gegenüber
behauptet, sich heimlich verheiratet zu haben. Er will auf Lucy verzichten
und mit Isabel in einer gewissermaßen wilden Scheinehe leben.
Was nun geschieht: Lucy fällt in eine todesähnliche Ohnmacht,
die Mutter verstößt ihren Sohn. Dieser rafft das Nötigste
zusammen und flieht mit Isabel nach New York. Dort, enterbt und ebenso
arm wie Isabel, beschließt er, sein Leben als Schriftsteller zu
fristen. Überraschend gesellt sich Lucy hinzu, und Pierre könnte
aus dieser Dreierkonstellation seinen Lustgewinn ziehen, stattdessen sitzt
er, in Wolldecken gehüllt und gegen die Eiseskälte kämpfend,
an einem Werk, das die Menschheit Mores lehren will. Aus dem Buch wird
nichts, und es naht das schreckliche Ende.
Das wäre lediglich eine unter vielen möglichen Nacherzählungen:
Pierre, der entsagungsvolle Held, ist das Opfer puritanischer Doppelmoral.
Sein himmelhoher Enthusiasmus scheitert an Selbstsucht und Engstirnigkeit.
Eine andere Nacherzählung ginge so: Pierre, gesegnet mit körperlicher
Stärke und geistiger Schwäche ist das Opfer eines romantischen,
wirklichkeitsfernen Idealismus. Er scheint ein trauriger Trottel, der
zu spät begreift, dass Isabel gar nicht seine Halbschwester ist (was
übrigens bis zum Ende offen bleibt) und der jenes Schicksal erleidet,
das Muttersöhnchen oftmals blüht.
Und wieder anders ginge es so: Pierre, ohne wirklich zu wissen, was er
tut, ist ein Pionier der Moderne, weil er der alten Zeit, dem arkadischen
Glück auf neuenglischen Hügeln, kühn entsagt und das Abenteuer
in der Metropole sucht, samt Ahnensturz und Selbstverwirklichung, die
zur Selbstvernichtung führt.
Will man das lesen? Hätte der Autor irgendeinen unbekannten Namen,
würde man vermutlich resignieren. Aber er heißt nun mal Melville,
und so geht man durch diese rund 600 Seiten wie durch die übelste
Wetterfront: Es beginnt bei schönstem Sonnenschein, wird immer schwüler,
ein Wetterleuchten droht von Ferne, dann kracht der Donner und Hagelschauer
verheeren das Idyll.
Das Merkwürdigste aber: Man liest, ohne zu begreifen, was man da
liest, und versinkt in einer immer bizarrer werdenden Geschichte, angezogen
von einem finsteren Sog, einer zwischen blankem Hohn und hochherzigem
Räsonnement verzweifelt schwankenden Wahrheitssuche. Sie kann ihr
Ziel nicht finden, denn alles, wirklich alles in diesem unheimlichen Vorgang
ist von der Pest des Doppeldeutigen angesteckt. Eine große Rolle
spielt dabei Hamlet. Pierre, der Shakespeare und Dante kennt,
findet in der Nacht der Entscheidung, als er in sein Zimmer zurückkehrt,
den Hamlet aufgeschlagen auf dem Tisch. Sein Blick fällt
auf die Zeilen: "Die Zeit ist aus den Fugen: Fluch und Gram / Dass
ich zur Welt, sie einzurichten, kam!"
Erst am Ende versteht der Leser, dass das schwer erträgliche Süßholz
des Anfangs, wo Pierre mit Lucy die sentimentalsten Landpartien unternimmt
oder mit seiner Mutter die banalsten Gespräche führt, nur ein
anderer Ausdruck jener gallenbitteren Unbekömmlichkeit ist, mit der
Melville in diesem seinem dunkelsten Buch sich quält: Der Mensch
ist unbegreiflich. Das menschliche Leben bestehe aus Handlungen, deren
Ursache uns verschlossen sei, heißt es einmal, "blinde Maulwürfe"
seien wir. Die Doppelung verrät den Wunsch, dass der Mensch, wenn
er schon nichts anderes als ein Maulwurf ist, wenigstens sehen könne.
Pierre ist auch deshalb ungewöhnlich, weil das Buch einer
der wenigen Melville-Romane ist, die nur zu Lande spielen, und der einzige,
in dem Frauen derart im Mittelpunkt stehen. Moby-Dick und Billy Budd sind reine Seefahrer- und Männergeschichten.
Die beiden antipodischen Frauen in Mardi (der helle Engel
Yillah und der dunkle Engel Hautia) sind bloß allegorische Gestalten.
Sie kehren wieder in der blonden Lucy und der schwarzen Isabel, jetzt
aber in Fleisch und Blut, als Varianten weiblicher Verheißung.
Lucy wandelt mit Pierre den Pfad heiterer Tugend, ihre unschuldige Seele
kennt weder Frivolität noch Ambivalenz. Anders Isabel: Alles an ihr
ist doppeldeutig, und gerade dieses Geheimnis lockt Pierre. Einmal ist
von ihrem "sengenden Blick" die Rede, und an derselben Stelle
sagt sie: "Man nennt mich eine Frau und dich einen Mann, Pierre;
doch das hier hat nichts zu tun mit Mann und Frau. Unsere Unschuld hat
kein Geschlecht." Das gleicht dem Dementi eines Verdachts, der noch
gar nicht ausgesprochen wurde, jetzt aber da ist: Inzest.
Der Inzest ist die extremste Form der Doppeldeutigkeit. Sie lauert auch
in der Beziehung Pierres zu seiner Mutter. Mehrmals wird ihre überaus
weiblich und jugendlich wirkende Erscheinung hervorgehoben. Beide lieben
es - auch um Fremde zu täuschen -, einander mit "Bruder"
und "Schwester" anzureden, und es ist klar, dass die schöne
Witwe ihren starken Sohn ungern einer anderen Frau überlässt:
Wenn es denn sein muss, der ätherisch-fügsamen Lucy, aber niemals
der wilden Isabel.
Ein Mann zwischen drei Frauen: Melville, der ein keuscher, scheuer Erzähler
ist, führt dieses erotische Drama sehr deutlich aus, zugleich aber
gibt es keinen Zweifel daran, dass Pierre einer ist, der (um die idealische
Tonlage dieses Buchs derb zu konterkarieren) so ziemlich alles anbrennen
lässt.
Es ist in unserer heute vollkommen entromantisierten Zeit nicht leicht,
die richtigen Worte für erotische Spannungen zu finden, deren Bedeutung
im Unausgesprochenen liegt. Der Konflikt zwischen dem schönen Billy
Budd und dem hässlichen Claggart: Ist er homosexuell? Schon der Begriff
wirkt unerlaubt grob, und noch die großartige Oper von Benjamin
Britten leidet eben daran, dass sie die Affäre ins Schwule hinein
verdeutlicht.
So wäre denn auch Pierres Ratschluss zu verstehen: Indem er sich
als den legitimen Gatten Isabels ausgibt, verstößt er die dominante
Mutter und verzichtet zugleich auf Lucy. Der Preis, den er dafür
zu zahlen hat, lautet Entsagung. Er entrichtet ihn mit hohem Mut, aber
wir wissen nicht, denn darüber schweigt die Geschichte, wie schwer
es ihn ankommt. Wir erkennen daran, dass es Melville nicht um den Konflikt
der Triebe, sondern um den der Ideen geht. Und man verstünde die
Geschichte falsch, wenn man sie in den modernen Psycho-Inventar einordnete.
Es ist zwar alles da, es liest sich zuweilen wie die höhnisch vorweggenommene
Trivialisierung der Tragik durch die Moderne, aber das erscheint nur unseren
verderbten Augen so. Denn Melville ist es heiliger Ernst. Das sieht man nicht allein an den
oftmals lästig langwierigen moralisch-philosophischen Reflexionen,
nicht nur an den damit korrespondierenden grandiosen Landschaftsbeschreibungen.
Man sieht es auch an der Dramaturgie dieser irren Geschichte. Sie lässt
sich am ehesten mit einer Oper vergleichen. Der Anfang klingt wie eine
Pastorale. Der erste Akt entfaltet in sehr langsamem Tempo die zunächst
idyllische Konstellation. Gewaltig dann die jähe Peripetie, die nach
Isabels bewegenden Arien hereinbricht. Pierres Entscheidung, die Flucht
aus dem Vaterhaus, der Bruch mit der Mutter, der dramatische Abschied
von Lucy - all dies ereignet sich auf wenigen Seiten, derart rasant, dass
dem Leser der Atem stockt.
Der zweite Akt spielt in der kalten, steinernen Stadt. Was vorher Arkadien
war, wird nun zur Hure Babylon. Die Ereignisse beschleunigen sich: Pierres
Mutter stirbt vor Kummer und Zorn; der reiche Vetter, der um Lucy wirbt,
tritt als rächender Nebenbuhler auf, ebenso schwört deren Bruder
Rache; Pierre scheitert mit seinem Opus Magnum und erhält zwei bedrohliche
Briefe.
Und hier wieder ein heftiger Umschwung. Er liest die Briefe, zerknüllt
sie und tritt mit den Schuhen darauf. Es heißt: "Jetzt trage
ich die Schlittschuhe des Hasses an den Füßen Ich trete hinaus
vor die künstlichen Fassaden der Welt und fordere allen und jeden
zum Kampf!" Dritter Akt: Von nun an heißt Pierre Ahab. Er geht
hinaus, erschießt seinen Vetter. Dann begehen er und Isabel Selbstmord.
Vorhang.
Und wieder, wenn man die Geschichte so erzählt, wirkt sie halbwegs
homogen, und sei es als Melodram. Das Problem aber ist, dass Melvilles
heiliger Ernst so viele Aggregatzustände kennt: mal ist er leicht
wie Luft, mal schwer wie Lehm, dann wieder flüssig wie ein schneller
Bach, und jedesmal glaubt sich der Leser in einem anderen Buch. Da ist einerseits schieres Pathos, das sich zu großartigen Sätzen
verdichtet wie: "Da durchschlug ein Keil von Stille die Nacht und
nagelte sie wie mit einem langen Bolzen fest an diese Seite der Welt." Da ist zweitens jener heiter tremolierende, schwadronierende Ton, den
wir aus Mardi und Moby-Dick kennen; der dann drittens
jäh ins Satirische umschlagen kann, so etwa, wenn Melville die literarischen
Debatten seiner Zeit ins Visier nimmt. "Die Welt ist voller Unsinn;
darum möge man mich nicht schelten, wenn auch ich mein Scherflein
dazu beitrage."
Und viertens dann der steile Exkurs ins Philosophische, das Hadern mit
der Wahrheitsfrage, das Anrennen gegen die "künstlichen Fassaden".
Auf der Flucht nach New York findet Pierre in den Polstern der Kutsche
ein paar Fetzen Papier, den Traktat eines gewissen Plotinus Plinlimmon.
Er trägt den Titel Ei, was griechisch ist und "wenn"
heißt. Mit dem Wort "wenn" bricht die Broschüre unvermittelt
ab. Ihr Inhalt läuft darauf hinaus, dass es dem Menschen weder anzuraten
noch möglich sei, Gottes Gesetz zu erfüllen. Denn so wie die
Greenwich-Zeit nur in England Gültigkeit habe und ein Chinese, der
ihr folgen wolle, in die Irre gehe, so gelte auch Gottes Gesetz nur in
einer göttlichen Welt und könne in der Welt der Menschen kein
Maßstab sein.
Diese hanebüchene Theorie ist von einem zeitgenössischen Kritiker
(wie man in den Anmerkungen nachlesen kann) als Blasphemie gegeißelt
worden. Der Mann hatte Erzählung und Erzähler verwechselt. Plotinus
Plinlimmon taucht später als obskurer Sektenprediger und Guru wieder
auf. Wahr ist aber, dass der fundamentale Zweifel, der Pierre beim Lesen
von Ei erfasst, auch der von Melville gewesen ist. Der hervorragende
Apparat entschlüsselt die Anspielungen, auf den Philosophen Plotin,
auf die Inschrift des Apollotempels in Delphi "EI" und deren
Interpretation durch Plutarch. Die Anmerkungen zitieren auch Ahabs Monolog
über "das große Wenn" in Moby-Dick.
Es ist der Fluch des Konditionalis, der Melville auch in Pierre wieder verfolgt, und wir verspüren seine heiße Sehnsucht nach
einer Klarheit, einer Wahrheit, die nicht von den Schatten einer üblen
Kontingenz verdunkelt würde. Zu Beginn des neunten Buches vergleicht
Melville die Wahrheit mit dem Nordpol. Er spricht von dessen "zweifelhaftem,
ungewissem, sich brechendem Licht", wo "die für richtig
erkannten Lebensmaximen ins Wanken geraten". Dann heißt es: "Das Beispiel so vieler Geister, die wie unauffindbare
Nordpolforscher auf ewig in diesen trügerischen Regionen verschollen
sind, warnt uns, dieselben unbedingt zu meiden; und so erkennen wir, dass
es dem Menschen nicht ansteht, der Spur der Wahrheit allzuweit zu folgen,
und tut er's trotzdem, so verliert er dabei den Kompass seines Geistes,
der ihm den Weg weist; gelangt er nämlich an den Pol, und nur nach
dessen Ödnis weist die Nadel, dann zeigt sie gleichgültig auf
jeden Punkt des Horizonts."
Es gibt wohl kaum einen, der diesem gescheiten Ratschlag so zielstrebig
zuwidergehandelt hat wie Melville. Er wollte es wissen. Nachdem er als
junger Seefahrer vermutlich alles erlebt hatte, was die Welt an Schönheit
und an Gemeinheit bietet, begann er seine Expeditionen ins Reich des Geistes.
Ein wahnsinniger, verwegener Autodidakt - er muss alles gelesen haben,
was er in die Finger bekam, Philosophie, Literatur, naturwissenschaftliche
Abhandlungen, Reiseberichte und natürlich alles über den Walfang.
Er kämpfte mit Milton und Shakespeare, er haderte mit der Bibel.
Am Ende glich er wohl jenem John Franklin, der auf der Suche nach der
Nordwestpassage 1846 im Eis verschollen war.
Pierre ist die Suche nach einer Passage durch die Eiswüsten
des menschlichen Daseins. Als Roman betrachtet ist er unausgewogen, uneinheitlich,
widersprüchlich; als Dokument dieser Expedition jedoch ergreifend
und eindrucksvoll. Insofern ist die Frage, die alle seine Leser immer
wieder beschäftigt: Was um Himmels willen hat Melville mit diesem
Buch gewollt?, falsch gestellt. Er wollte etwas herauskriegen über
sich und seine Zeit, und was das sein würde, konnte er nicht wissen.
Der Roman, und das bleibt verwirrend, gibt keine klare Antwort. Er bleibt
seinem Titel bis zum bitteren Ende treu: The Ambiguities.
* * *
Den Roman hat es schon einmal auf deutsch gegeben: 1965 im Claassen Verlag,
übersetzt von Walter Weber unter dem sehr fantasievollen Titel Pierre
oder Im Kampf mit der Sphinx. Ist die neue Übersetzung von
Christa Schuenke besser? Betrachten wir die zwei bereits auszugsweise
zitierten Passagen im Vergleich.
Beispiel 1: "For now am I hate-shod! On these I will skate to my
acquittal! No longer do I hold terms with aught. World's bread of life,
and world's breath of honor, both are snatched from me, but I defy all
world's bread and breath. Here I step out before the drawn-up worlds in
widest space, and challenge one and all of them to battle!"
Walter Weber: "Denn jetzt bin ich vom Haß beflügelt. Damit
will ich zu meiner Freisprechung fliegen! Ich halte meine Termine mit
niemand mehr ein. Das Brot des Lebens und der Atem der Ehre der Welt,
beide sind mir entrissen; doch ich trotze allem Brot und allem Atem dieser
Welt. Hier trete ich heraus vor die Front der Welt ins weiteste Feld und
fordere jeden und alle zum Kampf heraus."
Christa Schuenke: "Denn jetzt trage ich die Schlittschuhe des Hasses
an den Füßen! Auf ihnen will ich meinem Freispruche entgegengleiten!
Ich halte mich an keine Übereinkunft mehr. Das weltliche Brot des
Lebens, der weltliche Odem der Ehre, sie sind beide mir entrissen; aber
ich verschmähe alles weltliche Brot und allen weltlichen Odem. Ich
trete hinaus vor die künstlichen Fassaden der Welt, hinaus ins freieste
Feld, und fordere alle und jeden zum Kampf!"
Beispiel 2: "An infixing stillness, now thrust a long rivet trough
the night, and fast nailed it to that side of the world.
Walter Weber: "Tiefe Stille durchdrang die Nacht und legte sich wie
eine weiche Mutterhand auf diesen Teil der Welt."
Christa Schuenke: "Da durchschlug ein Keil von Stille die Nacht und
nagelte sie wie mit einem langen Bolzen fest an diese Seite der Welt."
In beiden Fällen ist Christa Schuenke freier und zugleich überzeugender.
In Beispiel 2 hat Walter Weber offenbar wild fantasiert, jedenfalls ist
von der "weichen Mutterhand" im Urtext nichts zu sehen. Man
erkennt an den Beispielen, wie klangvoll Melville im Original ist, und
wie schwierig es ist, eine deutsche Entsprechung zu finden. Es hat sich
jedenfalls gelohnt, eine neue Übersetzung anfertigen zu lassen, und
Christa Schuenke hat die Aufgabe glanzvoll gelöst.
* * *
Elizabeth Hardwick, die große alte Dame der amerikanischen Literaturkritik,
Mitbegründerin der New York Review of Books, sagt über Pierre: "ein Abfallprodukt, zu lang, schwerfällige
Handlung, bombastisch überladen und völlig wirklichkeitsfremd".
Vor allem das letzte Adjektiv ist ziemlich fragwürdig: Als ob es
Melville je um simplen Realismus gegangen wäre. Sie schreibt das
in ihrem Melville-Buch, einer schmalen Sammlung von Skizzen über
Melvilles Leben und von Interpretationen seiner wichtigsten Werke. Darin
finden sich einige schöne, pointierte Einsichten, aber man legt das
Bändchen unbefriedigt aus der Hand. Interpretieren kann man notfalls
selber, und man möchte doch, wenn schon von Melvilles Leben die Rede
ist, ein bisschen mehr und Genaueres wissen. Die mokante Haltung, mit
der sich Elizabeth Hardwick über das gigantische Unternehmen des
Melville-Biografien Hershel Parker äußert, wirkt ein bisschen
deplatziert. Als Einführung jedoch in Melvilles Welt ist das Buch
durchaus zu empfehlen.
* * * Moby-Dick als Hörbuch auf zehn CDs: Auch dies ein doppeldeutiges
Unternehmen. Denn es handelt sich hier nicht um einen vorgelesenen Roman,
sondern um ein Hörspiel, das professionell mit probaten akustischen
Mitteln Effekt erzielt, vom Seemannslied bis zur Trillerpfeife, vom Ahoi-Ruf
bis Meeresrauschen. Klaus Buhlert, der Regisseur, hat die Erzählstimme
geteilt: Rufus Beck spricht den Ich-Erzähler Ismael, und er macht
das lebendig und ausdrucksvoll; Felix von Manteuffel spricht den auktorialen
Erzähler Melville. Manfred Zapatka schließlich gibt den Ahab,
und obwohl er alle Register seines Könnens zieht, vom Wutschrei bis
zum elegischen Selbstgespräch, so ist es doch eine Spur desillusionierend
zu hören, dass dieser Mythos schließlich doch nur ein gewöhnlicher
Mensch und Mann ist. Der Roman (naturgemäß erheblich, aber
intelligent gekürzt) wird durch diese Inszenierung auf ein bekömmliches,
handliches Maß reduziert, und dagegen ist insofern nichts einzuwenden,
als ein Hörpiel, wenn man schon aus Moby-Dick eins machen
will, kaum besser gemacht werden kann. Es gleicht einer kundig geführten
und abgesicherten Safari, und wer an ihr teilnimmt, kann sagen, er habe
die Wildnis gesehen. Erlebt hat er sie nicht.
Hermann Melville: Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten. Hanser Verlag
Elizabeth Hardwick: Herman Melville
Herman Melville: Moby-Dick oder Der Wal. Aus dem Englischen von Matthias
Jendis. Bearbeitung, Konpoistion und Regie Klaus Buhlert. Produktion Bayrischer
Rundfunk- Der Hörverlag, München 2002. 10 CDs, ca 541 Min.