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Ulrich Greiner

Ein Parzival des Finanzkapitals
Martin Mosebach Roman "Mogador" – und seine Erzählungen "Das Leben ist kurz"
Mogador ist der ehemalige portugiesischeName einer Hafenstadt an der Atlantikküste Marokkos. Hier im Wesentlichen spielt das neue Buch von Martin Mosebach. Dass er sich für den alten Namen mit seinem sonoren Klang entscheidet – denn lange schon heißt die Stadt Essaouira –, verleiht der Erzählung eine zeitlose Aura. Zwar spielt der Roman in der Gegenwart, zwar handelt er von betrügerischen Bankgeschäften, die uns vertraut vorkommen, zugleich aber taucht er tief hinein in eine vormoderne Welt, wo magische Praktiken und archaische Bräuche noch Teil des Alltags sind.

Mosebachs Mogador ist nicht allein die Geschichte wirtschaftskrimineller Machenschaften, sondern auch ein Märchenbuch, wo Wunder aus Wundern sprießen wie die Blumen eines Feuerwerks, wo das Menschliche dicht neben dem Grausamen haust und das Unschuldige neben dem Verdorbenen. Man liest dieses außerordentliche Buch derart gebannt, dass man fast enttäuscht ist, sich nach rund 370 Seiten im eigenen Alltag wiederzufinden. Was natürlich daran liegt, dass Mosebach ein begnadeter Erzähler ist. Seine Leser wissen das längst, doch Mogador bildet einen neuen Höhepunkt seiner Kunst.

Held der Geschichte ist ein junger Mann namens Patrick, der sich schon früh mit der aparten Pilar vermählt hat. »Sie war eine Puritanerin von der frischen, appetitlichen Sorte.« Pilar entstammt einer vermögenden Familie, er hingegen bescheidenen Verhältnissen. Man ignoriert die Differenz im unausgesprochenen Einvernehmen. Gleichwohl spornt sie ihn an, finanziellen Erfolg zu erzielen. Der gelingt ihm ziemlich rasch, doch gehört es zu der freundlich ironischen Umgangsweise des Paares, davon kein Aufhebens zu machen: »Erfolge waren selbstverständlich und darum nicht so wichtig. Wichtig war überhaupt nichts – oder besser: Wichtig war, das Wichtigfinden zu verachten.« Kurz: Wir haben es mit Zeitgenossen zu tun.

Patrick macht Karriere in einer Düsseldorfer Privatbank und gelangt in näheren Kontakt zu einem prominenten Kunden des Hauses. Bei einem Abendessen im besten Pariser Etablissement legt der aus Mogador stammende Herr verzweigter Unternehmungen dem jungen Mann nahe, eine unvermeidliche und erhebliche Bestechungszahlung zu vertuschen. Der Vorstand der Bank billige die Transaktion, wolle aber formal nichts von ihr wissen. Der ehrgeizige Patrick zaudert und zittert, fädelt sie gleichwohl ein und merkt zu seiner Genugtuung, dass sie geräuschlos zu gelingen scheint. Er wird zum Abteilungsleiter befördert. Als er dem Finanzmogul abermals begegnet, kneift dieser ihm väterlich in die Wange und sagt, er habe bei ihm einen Wunsch gut.

An diesen Satz erinnert sich Patrick, als er wenig später in die Staatsanwaltschaft gebeten wird. Ein Kollege hat Selbstmord begangen, und es mehren sich Indizien dafür, dass die Bank auf tönernen Füßen steht. Patrick merkt, dass die Ermittler mehr wissen, als für ihn gut ist. Panik ergreift ihn. Er springt vom Fenster der Toilette auf ein Vordach, gelangt auf die Straße, findet ein Taxi, lässt sich zum Flughafen bringen, fliegt nach Casablanca und nimmt den Bus nach Mogador, wo der Marokkaner, in dem Patrick seinen Gönner vermutet, eines seiner Büros betreibt.

Was schnell und hell wie ein Wirtschaftskrimi begann, verlangsamt und verdunkelt sich nun. Wir erleben, wie der smarte Patrick, der nur seinen Nadelstreifenanzug und ein allerdings ansehnliches Bündel Banknoten bei sich hat, allmählich herunterkommt, herunter von seiner rigiden Zeitökonomie und verwöhnten Überheblichkeit. Zeit hat er jetzt genug, denn er wartet auf die Ankunft seines Gönners, und das Quartier, in dem er sich vor der Polizei versteckt, ist weit unter seinem Niveau:

»Die Schneckenhauswendeltreppe war abgetreten worden in den beiden Jahrhunderten, die das Haus nun stand, viele der gemauerten Stufen hatten ihre hölzernen Kanten verloren und waren verfallen. Am Zustand der Treppe nahm niemand Anstoß. Man war hier weit entfernt von neuzeitlichem Sicherheitsdenken, schon gar von der Frage nach der Verantwortung für Unfälle. In diesem Treppenhaus zu stürzen, das war wie ein Sturz auf freiem Feld, wo man nicht daran denken würde, die Wurzeln und Steine anzuklagen.«

Es ist der junge Karim, »der Meister des Müßiggangs«, der rasch die Not des Fremden erkannt und ihn, ohne nach Papieren zu fragen, hierher bugsiert hat. Da sitzt er nun in seinem unmöblierten Zimmer und versucht, sich Rechenschaft abzulegen. Dass seine Karriere ebenso beendet ist wie seine Ehe, scheint ihm unabweisbar. Warum hat er sich auf diesen Betrug eingelassen? Eigentlich hätte er mit seiner Lage zufrieden sein dürfen. »Es war, so gestand er sich mit Erbitterung ein, einzig Pilar, die das zerstört hatte, auf die raffinierteste Weise, quasi nicht vorwerfbar: durch ihr Schweigen, die Gleichgültigkeit gegenüber allem, was er unternahm.«

Doch solche Selbstquälereien treten hinter der Not zurück, die völlig fremde Welt, in die es ihn verschlagen hat, zu verstehen. Eigentlich kann er sich nur mit Karim verständigen, der etwas Französisch spricht und ihm manches erklärt. Das Haus gehört Khadija. Sie ist Wahrsagerin, Puffmutter und in diesem Viertel eine von allen respektierte Instanz. Sie stammt aus ärmsten Verhältnissen und besitzt eine seltene Mischung aus Leidensfähigkeit und Durchsetzungskraft.

Es wirkt zuweilen, als hätte Mosebach Ursprung und Ziel seiner Geschichte aus dem Auge verloren. Ausführlich erzählt er uns von dieser Frau, von ihrer Herkunft, von ihren magischen Séancen mit einem steinalten Imam, von ihrer machthungrigen Geschäftstüchtigkeit, die auch den jungen Karim einbindet. Mit Karim freundet sich Patrick an, reist mit ihm zu dessen Familie aufs Land und wird Zeuge des Verlobungsrituals mit einer faszinierend schönen Nachbarstochter.

Obwohl solche Geschichten scheinbar ins Abseits führen, folgt man ihnen gebannt. Mosebach erweist sich als orientalischer Märchenerzähler, der jedes noch so bizarre Detail zum Funkeln bringt. Er folgt jenem Prinzip, das der Müßiggänger Karim hochhält: »Eine Unterhaltung war auf dem richtigen Weg, wenn sie in eine Geschichte mündete.« Bei vielen dieser Geschichten verschwimmt der Unterschied zwischen Realität und Fantasie. Es ist, als befände sich Patrick in einem ebenso faszinierenden wie fürchterlichen Traum, der die dunkle Seite seines Wesens enthüllt.

Patrick ist keineswegs nur der nette Bursche, für den er sich gerne hält. Unter seiner gefälligen Oberfläche verbergen sich perverse Wünsche. Schon in Düsseldorf überfielen ihn – zu seiner eigenen Irritation – obszöne Fantasien wie etwa die, der Frau des Vorstandsvorsitzenden das Kleid nass zu pinkeln. Und hier in Mogador verstrickt er sich mit Karim in vulgäre Männergespräche, deren finsterer Kern in einem nächtlichen Saufgelage, das mit einer Vergewaltigung endet, sichtbar wird. Der Vorfall erschreckt ihn zutiefst, und aus Furcht vor einer Anzeige flieht er zurück nach Düsseldorf, wo ihn zu seiner größten Erleichterung die versöhnungsbereite, mittlerweile schwangere Gattin in die Arme schließt.

Selten hat Mosebach seine Helden so nahe ans wahrhaft Böse herangeführt. Die Märchen dieses Buchs stellen (ebenso wie die berühmten der Brüder Grimm) das Wunderbare unvermittelt neben das Gemeine und das Verstörende. In Mogador werden die einander widrigen Welten von Abendland und Morgenland, von industriegesellschaftlicher Tüchtigkeit und religiösem Traditionalismus nicht miteinander versöhnt, sondern zu einem farbenprächtigen und höchst widersprüchlichen Bild zusammengeführt. Unser nur scheinbar harmloser Patrick, ein Parzival des Finanzkapitals, wird in eine andere Zeit gestürzt, und er kehrt als ein anderer zurück, geläutert, verwundet, gereift.

Es scheint, als habe sich Martin Mosebach, der kürzlich seinen 65. Geburtstag feierte, einen besonderen Auftritt erlauben wollen, indem er seinem neuen Verlag, der Rowohlt heißt anstelle von Hanser, gleichzeitig zwei Bücher anempfahl, nicht allein Mogador, sondern auch den Erzählungsband Das Leben ist kurz. Er enthält Glossen zu einem bestimmten Stichwort, historische Fantasien, groteske Erzählungen und Miniatur-Romane. Die Sammlung ist sorgfältig komponiert und zeigt den ganzen Reichtum von Mosebachs Fantasie und Sprachfähigkeit.

Wir begegnen zum Beispiel einem Mann, der an einer Bushaltestelle in der französischen Provinz auf Freunde wartet, die ihn zu ihrem Haus abholen sollen. Niemand erscheint. Hat er das Datum verwechselt? Er geht in die verlassene Gaststätte, kommt mit der Bedienung ins Gespräch, erfährt Bruchstücke eines fremden Lebens und gerät in eine Absence, als widerfahre ihm ein Traum.

Eines der autobiografischen Stücke erzählt von einer Silvesternacht. Der Vater, der sonst die Knallerei nicht mag, hat eine große Kiste mit Raketen geschenkt bekommen und beschließt, daraus etwas Grandioses zu machen. Er packt seine Frau und die beiden Knaben ins Auto und fährt über verschneite Straßen hinauf zum Feldberg im Taunus. Dort oben werden sie nicht nur das Feuerwerk über dem Himmel Frankfurts sehen können, sondern ihr eigenes wird alle anderen überstrahlen. Allein, der Feldberg ist von Wolken umhüllt, die Raketen bohren sich in den Schnee oder verschwinden im Nebel, und eine davon verletzt den Vater an der Hand. Dennoch sagt er auf der Heimfahrt: »Ich finde, wir sollten unseren Ausflug nicht zerreden. Bei etwas besserem Wetter hätten wir einen erstaunlichen Ausblick gehabt.« Der Erzähler erinnert sich daran, wie der Vater noch Jahre später von dem überwältigenden Erlebnis der Silvesternacht auf dem Feldberg erzählte, als man das Gefunkel des Frankfurter Feuerwerks bis zum Horizont hin habe sehen können. Dieser Vater muss wahrhaft ein Poet gewesen sein. Jetzt wissen wir, wo Mosebach seine Feuerwerkskünste herhat.

Martin Mosebach: „Mogador“. Roman; Rowohlt Verlag, Reinbek 2016, 22,95 €

Martin Mosebach: "Das Leben ist kurz. Zwölf Bagatellen“; Rowohlt Verlag, Reinbek 2016; 16,95 €

Erschienen in der ZEIT


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