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Ulrich Greiner

Nootebooms Blues
Der bezaubernde Roman „Philip und die anderen“, vor fünfzig Jahren erschienen, ist endlich neu übersetzt

Leicht wie die Luft und schwer wie der Regen, flüchtig wie ein Gedanke und schmerzlich wie eine Erinnerung – so liest sich Cees Nootebooms wunderbarer Roman Philip und die anderen. Vor fast fünfzig Jahren wurde er geschrieben. Damals war Nooteboom, der in diesem Sommer 70 wird, Anfang zwanzig. Das Buch war in den Niederlanden ein großer Erfolg. Die deutsche Übersetzung (von Josef Tichy bei Eugen Diederichs) erschien 1958 unter dem Titel Das Paradies ist nebenan und verschwand spurlos. Erst jetzt, da Nooteboom ein berühmter, gefeierter Autor ist, kommt die Neuübersetzung Helga van Beuningens mit dem richtigen Titel. Man liest, man staunt und wird verzaubert wie von einem großen Traum. „Dieser Roman“, schreibt Rüdiger Safranski in seinem schönen Nachwort, „wurde mein persönliches Kultbuch, und jedesmal, wenn ich mich neu verliebte, wurde daraus vorgelesen.“

„Du bist als altes Kind geboren, du wirst nichts erleben, sondern dich nur erinnern“, sagt das Mädchen Jacqueline zu Philip. Sie haben auf der Place du Forum in Arles getanzt, und nun kommt die Nacht. „Du darfst mich nicht küssen, wenn du mich nach Hause bringst“, sagt sie, denn sie hat sich in ihn verliebt. Er gehorcht und geht. Und als er durch die nächtlichen Straßen wandert, trifft er einen alten Mann. Er singt ein Lied und sagt zu ihm: „,Komm mit, ich muss dir eine Geschichte erzählen. Hol dein Gepäck, dann fahren wir.‘ - ,Wohin?‘, fragte ich, aber er sah mich erstaunt an und sagte ,Zu der Geschichte natürlich‘, und darum bin ich mit ihm gegangen.“

„In jener Nacht fuhren wir durch ein totes, unheimliches Land. Königlich wuchs der Mond aus der erloschenen rötlichen Erde. Nebel und Dunst zogen durch die Täler, umringten uns wie eine Gefahr, der wir jedesmal wieder zwischen hartem, scharfem Gestrüpp entwichen, das wie eine Herde längst gestorbener Tiere die Hänge zu den bizarren, im Nachtlicht blühenden Felsen emporkletterte.“

Die Geschichte, zu der sie fahren, ist die Geschichte vom chinesischen Mädchen. Philip wird sie am Strand von Calais sehen, wo es stürmt und regnet, „sie hatte Haare in der Farbe von Krähenfedern“, sie wird verschwinden und er wird ihr nachjagen durch halb Europa, als Tramp auf staubigen Straßen stehen, Lastwagenfahrer vom Einschlafen abhalten, er wird in Paris die traurige Vivien trösten, sie aber nicht lieben, und in Luxemburg wird er mit der schönen Fey in einer Ruine hausen, und sie wird fragen „Du liebst mich nicht, oder?“, und er wird antworten: „Ich glaube nicht, aber wissen kann ich es nicht, ich habe das nämlich noch nie getan.“

Am Ende trifft er die chinesisch aussehende Marcelle. Sie trampen nach Stockholm, und dort gesteht er ihr seine Liebe. „Und ich wusste, ich würde dieses Spiel verlieren, weil ich sie liebte, weil wir ineinander passten wie Hände und sie trotzdem fortgehen würde.“ Sie geht, er weint zum ersten Mal, und ganz am Ende fährt er zu seinem Onkel Alexander, dorthin, wo Philips Reise begann, damals, als der kleine Junge den alten Onkel besuchte und nicht an die Klingel kam. „,Bist du das, Philip?‘, fragte er, als ich in den Garten kam. ,Ja, Onkel‘, sagte ich. ,Hast du mir etwas mitgebracht?‘ ,Nein, Onkel‘, sagte ich, ,ich habe dir nichts mitgebracht.‘“

So endet der Roman, und so fängt er an, eine Liebesgeschichte ohne Geliebte, eine Reise ohne Ziel, ein Sehnsuchtsgesang ohne Erfüllung. Erstaunlich, mit welcher Grazie dieser kaum erwachsene Schriftsteller, in Wahrheit selber ein alt geborenes Kind, über die Abgründe des Tiefsinns und des Kitsches einfach hinwegschwebt, mit welch traumwandlerischer Sicherheit er vom Fantastischen ins Realistische wechselt und wieder zurück, wie er umstandslos in die nächste Szene springt, ohne sich mit Überleitungen aufzuhalten, und wie er die Sprachmelodie bis ins Poetisch-Üppige treibt, um sie dann wieder lakonisch werden zu lassen.

So reisen wir mit Philip in die Auberge irgendeines provencalischen Dorfes, wo er aus dem Fenster blickt, vorbei an „dem sich schwer herabneigenden Blauregen, der an der Hauswand atmete wie ein großes lebendes Tier, geheimnisvoll bewegt von den Händen eines leichten Windes. Ich legte mich in das riesige Bett und lachte, weil es knarrte, wenn ich mich umdrehte, und weil die Laken aus grober Baumwolle waren und wie Kinder rochen, die im Fluss gebadet hatten.“ Wir erleben die Straßen, „gesegnet in Rot und Rosa durch die erste und letzte Sonne“, die Parks, wo der einsame junge Mann an Liebespaaren vorübergeht, die zu ihm sagen: „Warum störst du uns? Wenn du an uns vorbeikommst, sitzen wir wie erstarrt da, und oft sind wir lächerlich, wie wir da sitzen.“ Und Philip antwortet (aber das ist schon Philip nicht mehr, sondern ein anderer): „Gleich geht ihr miteinander fort, und vielleicht schlaft ihr zusammen in einem Bett – ihr werdet dann morgen früh wach, ja, der eine wird vor dem anderen wach und sieht, was er liebt oder nicht liebt, es ist fremd, wie vergrößert.“

Alle diese Bilder und Szenen, diese Farben und Gerüche und Geräusche fügen sich zu einem schwermütigen Gesang – aber die Schwermut ist leicht –, zu einem langen und langsamen Blues, der die Motive wiederholt, variiert und fortführt, wie etwa das Motiv des Mädchens im roten Kleid, das sich von ihrem Geliebten mit einem Kuss verabschiedet und in den Bus steigt, in dem auch Philip und der Onkel sitzen, aber getrennt voneinander, „denn sonst ist es kein Fest mehr, wenn man miteinander reden muss“, sagt der Onkel. Das Fest feiern sie, wenn Philip zu Besuch kommt, und es besteht darin, dass sie nachts mit dem Bus an den Teich fahren. „Wir setzten uns mit dem Gesicht zum Mond hin, der grünlich vor uns im Wasser schaukelte, und hörten die Schritte der Kühe auf der Wiese hinter dem Deich. Nebelschwaden und kleine Dunstschleier waren über dem Wasser und merkwürdige kleine Nachtgeräusche, so dass ich zunächst nicht merkte, dass mein Onkel Alexander wohl leise weinte. Ich sagte: ,Weinst du Onkel?‘ ,Nein, ich weine nicht‘, sagte mein Onkel, und da war ich mir sicher, dass er weinte.“

Nootebooms Blues lebt, was auch seine großen Romane wie Rituale (1980) oder Allerseelen (1999) auszeichnet, gewissermaßen aus dem Prinzip des unbewegten Bewegers (wie der Schöpfergott auch genannt wird), das heißt, er erkennt in der Bewegung das Bleibende, im Voranschreiten die Wiederholung. Das kontemplative Verweilen ist seine Stärke. Er hört den Tönen nach, die er selber erzeugt hat. So erfahren wir Leser das Vergehen der Zeit – wie einer der vielen, die als Erzähler in dieser von vielen erzählten Erzählung auftreten, sagt: „Die Leute, die sagen, dass ein Jahr schnell vergeht, vergessen, dass sie ein weiteres Jahr bräuchten, um zu erzählen, was im vergangenen geschehen ist.“

Nootebooms erster Roman besitzt die Altersweisheit eines Kindes, das noch wenig erlebt hat, aber schon alles erinnert, das noch nicht viel weiß, aber schon alles versteht. Vielleicht verstehen Kinder manche Dinge besser, weil sie nicht verwirrt sind durch die Menge der Möglichkeiten, die sie noch nicht haben, so wie auch alte Menschen, die sie nicht mehr haben. Und zugleich liegt auf diesem Buch der Schatten der Frühreife, den auch Hofmannsthal erfuhr, als er schrieb: „Ganz vergessener Völker Müdigkeiten / Kann ich nicht abtun von meinen Lidern, / Noch weghalten von der erschrockenen Seele / Stummes Niederfallen ferner Sterne“. Damals, 1895, war Hofmannsthal genauso alt wie Nooteboom, als er Philip schrieb, ein Buch, in dem sich Keuschheit und Formbeherrschung verbinden und in dem schon alles angelegt ist, was Nooteboom später entfaltet hat. Es kamen Kenntnis und Erfahrung hinzu, die Kenntnis vieler Geister und Kontinente, die Erfahrung des Alters. Aber der Kern von Nootebooms Kunst, hier ist er schon, dieses unvergleichliche Ineinandergehen von Poesie und Philosophie, ein Lichtblick in diesem literarisch matten Frühjahr.

Cees Nooteboom: Philipp und die anderen. Roman. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Mit einem Nachwort von Rüdiger Safranski. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003


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