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Ulrich Greiner
Denken wie der Wald
Versuch über Stifters „Witiko“

Vortrag zum 200. Geburtstag von Adalbert Stifter im Stifterhaus Linz, 13. September 2005

 

Sehr geehrte Damen und Herren!

ich freue mich außerordentlich, es ist mir eine Ehre, zu Ihnen über Stifter sprechen zu dürfen. Es ist aber auch ein hohes Risiko, was mir durchaus bewusst ist. Ich komme aus Hamburg, wie Sie wissen, und hier zu reden, heißt im wahrsten Sinne des Wortes, Stifter nach Linz zu tragen. Ob das einem Hamburger gut bekommt? Wir werden sehen – Sie werden sehen. Der Titel meines Vortrages lautet: „Denken wie der Wald“, und er wird sich in der Hauptsache mit dem „Witiko“ beschäftigen.

Dass Stifter ein Geheimtipp sei, wird heute niemand mehr behaupten. Das eindrucksvolle Konzert der Ausstellungen, Vorträge und Veranstaltungen aus Anlass des 200. Geburtstages, organisiert und ermöglicht vom Adalbert-Stifter-Institut und dem Land Oberösterreich, führt deutlich vor Augen, dass der „sanfte Unmensch“, wie Arno Schmidt ihn genannt hat, inzwischen zum festen Bestand des literarischen Kanons gehört. Die zahlreichen Ausgaben seiner Romane und Erzählungen beweisen das ebenso wie die gewaltige Historisch Kritische Gesamtausgabe (HKG), die Liebeserklärung von Arnold Stadler, das originelle Stifter-Buch von Leopold Federmair oder die hervorragende Biografie von Wolfgang Matz.

Und doch ist Stifter nicht wirklich populär, seine Bekanntheit ist bei weitem nicht so groß wie die jenes Dichters, dessen 200. Todestag wir kürzlich gefeiert haben. Ich meine Schiller, dessen auf größtmögliche Wirkung bedachtes Schreiben und Handeln in der Tat dazu geführt hat, dass seine Dramen und Gedichte bis heute lebendig sind, auf der Bühne des Theaters und neuerdings auch wieder in den Schulen. Robert Gernhardt hat in seinem Schiller-Essay gezeigt, wie Schiller-Sätze durch unseren Sprachschatz geistern, als wären es Volksweisheiten oder Werbesprüche.

Stifters Wirkung hingegen ist anderer Natur. Zwar hatte er zu Beginn seiner schriftstellerischen Karriere einen ihn selbst überraschenden Erfolg, gleich zu Beginn mit seiner Erzählung „Der Condor“, und dann mit den „Studien“ und den „Bunten Steinen“. Aber schon „Der Nachsommer“ stieß auf Widerstand, und als es Stifter unter unsäglichen Mühen endlich gelungen war, seinen „Witiko“ abzuschließen, gab es nur wenige, die imstande waren, die halsbrecherische Größe dieses Unternehmens zu begreifen. Stifter war nicht mehr Mode. Als er die Erzählung „Der fromme Spruch“ 1866 an den Herausgeber der Zeitschrift „Die katholische Welt“ schickte, lehnte dieser den Text mit folgender Begründung ab: „Die Erzählung ist unnatürlich; solche steifen Personen gibt es nicht, ihre Reden sind alle wie auf Schrauben gestellt; die alltäglichen Dinge sind in endloser Breitspurigkeit vorgeführt; die Handlung ist fast null; der Stil ist gezwungen und voller Wiederholungen; man glaubt kaum, daß es dem Verfasser ernst ist.

Michael Scheffel hat in seinem Aufsatz über die Geschichte der Stifter-Rezeption das Auf und Ab der literarischen Präsenz beschrieben: Das Verschwinden Stifters aus der literarischen Debatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, seine Wiederkehr um die Jahrhundertwende, schließlich der Versuch, sein Werk in die völkische Ideologie der Nazis hineinzupressen. Bemerkenswert, dass die Ausgaben der Romane in der Inselbücherei bis Ende der dreißiger Jahre große Verbreitung fanden: „Der Nachsommer“ erreichte eine Auflage von fünfzigtausend Exemplaren und, was noch erstaunlicher ist, der „Witiko“ eine von dreißigtausend Exemplaren.

Von solchen Zahlen sind wir weit entfernt. Stifter scheint heute wieder der Autor der Wald- und Wiesenstücke zu sein. Den „Nachsommer“ kennen nicht sehr viele, den „Witiko“ kennt kaum einer. Gleichwohl hat sein Werk eine anhaltende und tief gehende Wirkung. Stifter zählt zum Kreis jener Schriftsteller, die in die Literatur hineingewirkt, ihre Geschichte und Entwicklung verändert haben. Sein Werk besitzt für die ästhetische Debatte große Bedeutung, bis heute in unsere Gegenwart. Arno Schmidts ebenso polemischer wie amüsanter Angriff gegen Stifter und seinen „Nachsommer“ ist ja letztlich nur ein Ausdruck dieser unterschwellig andauernden Strömung. Dass Peter Handke sich oftmals auf Stifter und sein sanftes Gesetz bezogen hat und bezieht, das ist bekannt. Unter den neueren Autoren sind es vor allem Arnold Stadler und Andreas Maier, für die Stifter ein Autor ersten Ranges ist.

Anders als viele Schriftsteller des 19. Jahrhunderts ist Stifter modern geblieben – er ist gewissermaßen immer moderner geworden. Zeitgenossen wie Wilhelm Raabe oder Franz Grillparzer haben ihren festen Platz in der Literaturgeschichte, aber es geht von ihnen keine bis in die Gegenwart reichende Wirkung aus. Bei Stifter ist das anders, und warum das so ist, darüber will ich im Folgenden etwas nachdenken.

Wenn man sich Stifters Werk chronologisch vor Augen hält, dann sieht man, wie es sich im Ausdruck immer mehr einengt, sprachlich immer eigentümlicher wird, bis hin zu jener verschroben wirkenden Darstellungsweise, die Arno Schmidt am „Nachsommer“ kritisiert hat. Während zum Beispiel „Der Hagestolz“ von 1843 und der ein Jahr später geschriebene „Waldsteig“ noch eine reiche, wandlungsfähige Sprache besitzen, die sich um den treffenden, bildhaften Ausdruck erfolgreich bemüht, ist die Sprache des rund zwanzig Jahre später geschriebenen „Witiko“ radikal abgemagert, vollkommen antiexpressiv, frei von ornamentaler Ausschmückung, frei von jeglicher Metaphorik.

Sehen wir uns den Text näher an. Als Witiko zum ersten Mal auftaucht, erfahren wir von ihm lediglich, dass er ein junger Mann ist, der auf seinem Pferd durch den Wald reitet. Wie er heißt, woher er kommt, wohin er geht, das erfahren wir nicht. Der Erzähler gibt uns sparsame Hinweise auf das Äußere des Mannes und seines Pferdes. Da heißt es:


„Das Haupthaar konnte nicht angegeben werden; denn es war ganz und gar von einer ledernen Kappe bedeckt, welche wie ein Becken von sehr festem und dickem Stoffe gebildet, so daß ein ziemlich starker Schwerthieb kaum durchzudringen vermochte, dergestalt auf dem Kopfe saß, daß sie alles Haar in ihrem Innern faßte, und an beiden Ohren so gegen den Rücken mit einer Verlängerung hinabging, daß sie auch einen Hieb auf den Nacken unwirksam zu machen geeignet schien.“

Der Erzähler gibt vor, die Haarfarbe seines Helden nicht zu kennen. Er beschreibt nur das, was in diesem konkreten Augenblick zu sehen ist, hier also die lederne Kappe, von der er allerdings nicht sicher weiß, dass sie einen Nackenhieb abhalten könnte – er nimmt es nur an. Wenig später macht Witiko Rast in einem Wirtshaus. Es wird ausführlich beschrieben, wie er sich der Pflege seines Pferdes widmet. Er breitet zum Beispiel seinen Mantel über das Pferd aus. Es heißt:

„Als er diesen auseinander gefaltet hatte, sah man, daß er ein sehr einfaches kunstloses Stück Stoff von grober Wolle und grauer Farbe sei.“

Die Beschaffenheit des Mantels kann also erst dann geschildert werden, wenn Witiko ihn auseinander faltet. Nun werden die übrigen Gäste beschrieben:

„Seitwärts des Reiters, etwa zehn Schritte von ihm entfernt, saßen an einem Brettertische zwei andere Männer. Sie hatten sehr beschmutzte Lederkoller an. Die untere Bekleidung konnte man der sehr breiten Tischplatte willen nicht sehen.“

Wieder also wird nur das gesagt, was unmittelbar ins Auge fällt. Der kurz darauf folgende Satz bestätigt diese Erzählhaltung ausdrücklich:

„Ob in der Schenkstube jemand war, konnte man nicht sehen.“

Was ist das für ein Erzähler? Ein Chronist offenbar, der sine ira et studio das Evidente, Greifbare, Unbezweifelbare in den Mittelpunkt stellt. Wichtig ist die Perspektive. Wir kennen Stifter auch als Landschaftsmaler. Ein Maler muss die Sichtachsen beachten. Wenn er zwei Männer hinter einem Wirtshaustisch malen will, kann er nicht zugleich das zeigen, was durch den Tisch verborgen ist, also etwa die Beinkleider der Männer. Aber erinnern Sie sich bitte an die Szene mit dem Mantel. Hier ist die Sichtachse mit einer Zeitachse verbunden. Witiko faltet den Mantel auseinander und breitet ihn über das Pferd, und indem er das tut, wird die Webart des Mantels sichtbar.

Woran erinnert uns diese Perspektive? In der Tat, es ist die Perspektive einer Filmkamera. Natürlich hat Stifter nicht wissen oder voraussehen können, was Kino bedeutet, aber er verhält sich genau wie ein Kameramann. Wir können die Wirtshausszene darauf hin betrachten, wo jeweils die Kamera steht und welche Einstellung sie vornimmt. Jede dieser Einstellungen ist ein für sich abgeschlossenes Bild. Dieses Bild wird abgelichtet, und zwar völlig kommentarlos. Es bedeutet zunächst nur, was es zeigt, und es zeigt nur, was aus dieser Perspektive wahrnehmbar ist:

„Der Reiter nahm nun selber den flachen länglich runden Korb, in dem der Knecht Haber gebracht hatte, in seine Hände, schüttelte den Haber, und gab dann einen Teil davon, mit seinen Händen abgemessen, dem Pferde in die Kufe. Als dieses davon fraß, und in seinem Fressen fortfuhr, ging der Reiter wieder zu seinem Tische, setzte sich dort nieder, und sah vor sich hin. Nachdem eine gehörige Zeit vergangen war, stand der Reiter wieder auf, und ging zu seinem Pferde. Er ordnete ihm neuerdings sein Futter, und gab ihm jetzt auch Heu, welches der Knecht gebracht hatte. Er blieb nun bei dem Pferde stehen.“

Solche Sätze lesen sich wie ein Drehbuch. Aber die Parallele zum Film ist damit auch fast schon erschöpft. Es sei denn, wir erinnerten uns an die Filme jener gewissermaßen antifilmischen Ästhetik, wie sie am radikalsten Jean-Marie Straub realisiert hat. Im Allgemeinen aber will uns der Film, ebenso wie die Malerei, ein farbenfrohes, detaillgesättigtes Bild vor Augen führen. Das aber will Stifter im „Witiko“ offensichtlich nicht. Franz-Josef Czernin hat in seinem scharfsinnigen Essay über den „Witiko“ auf die extreme Kargheit der Darstellung hingewiesen. Betrachten Sie etwa folgende Sätze:

„Das Pferd ging durch die Schlucht in langsamem Schritte. Als es über sie hinausgekommen war, ging es wohl schneller, aber immer nur im Tritte. Es ging einen langen Berg hinan, dann eben, dann einen Berg hinab, eine Lehne empor, eine Lehne hinunter, ein Wäldchen hinein, ein Wäldchen hinaus, bis es beinahe Mittag geworden war.“

Wenn Sie sich an die ungemein anschaulichen Naturbeschreibungen der frühen und mittleren Erzählungen erinnern, dann werden Sie sich fragen, was auch ich mich frage: Worin besteht die Logik dieser reduzierten Sprache, und worin besteht ihre Wirkung? Die Wirkung ist leicht zu beschreiben: Wir erleben die Gleichförmigkeit einer Bewegung, den langsamen Ritt eines Mannes durch die Landschaft, wahrgenommen von einem fernen, unbeteiligten Beobachter. Man kann das langweilig finden, und das ist ja immer das vorherrschende Urteil über den „Witiko“ gewesen. Aber für den geduldigen Leser entsteht durch die Reduktion der erzählerischen Mittel ein Leerraum, der sich mit Spannung füllt. Und diese Spannung entlädt sich in den großen, in den dramatischen und emotionalen Szenen, an denen dieser ungewöhnliche Roman so reich ist. Sie wirken eben deshalb so stark, weil sie sich in äußerster Langsamkeit aufbauen, weil sie ihre Leuchtkraft auf einem fast monochromen Hintergrund entfalten.

Nehmen wir als Beispiel die erste Begegnung Witikos mit Bertha, wobei wir erst am Ende der Szene die Namen der beiden erfahren und auch ihr Alter: Bertha ist sechzehn Jahre alt, Witiko zwanzig. Bis dahin heißen sie im Text immer nur „der Reiter“ und „das Mädchen“. Der Reiter also kommt auf diese Waldlichtung und begegnet dem Mädchen, das auf seinem Kopf einen Kranz mit wilden roten Rosen trägt. Die Rose ist das Wappenzeichen jenes alten, fast erloschenen Geschlechts, dessen letzter Nachkomme Witiko ist. Dass Bertha die rote Waldrose im Haar trägt, ist Symbol für den Neuanfang, den Witiko mit seiner militärischen und politischen Karriere setzen wird. Zugleich aber ist sie ein sublimes erotisches Zeichen. Denn die Begegnung der beiden ist das, was man gemeinhin Liebe auf den ersten Blick nennt. Aber diese Bezeichnung wäre viel zu grob für dieses zarte und mit höchster Kunst geschilderte Gefühl. Der Höhepunkt der Szene geht so:

„Nach einer Weile sagte sie: »Trägst du immer diese häßliche Haube auf deinem Haupte?«
»Nein, nur wenn ich sie brauche«, sagte er, sie ist sehr leicht herab zu nehmen.« Bei diesen Worten nahm er die Lederhaube samt ihrem Anhange von seinem Haupte, und eine Fülle schöner blonder Haare rollte auf seinen Nacken herab. Die Haube legte er in das Gras.
»Ach, was Ihr für schöne Haare habt!« sagte das Mädchen.
»Und was du für rote Wangen hast«, erwiderte er.
»Und wie blau Eure Augen sind«, sagte sie.
»Und wie braun und groß die deinen«, antwortete er.
»Und wie Ihr freundlich sprecht«, sagte sie.
»Und wie du lieblich bist«, antwortete er.“

Die ans Herz gehende Wirkung dieser Szene kommt eben aus der archaischen Schlichtheit der Sprache, die sich hier ins Liedhafte steigert. Sie erinnert an die Psalmen des Alten Testaments. Leicht könnte man sich die Szene gesungen vorstellen. Sie wiederholt sich übrigens noch zweimal, vier Jahre und dann wieder zwei Jahre später. Ich werde darauf zurückkommen.

Es gibt aber für die Kargheit der Sprache einen zweiten Grund, anders gesagt: Sie hat noch eine besondere Seite. Betrachten wir dazu das zweite Kapitel aus dem ersten Band. Witiko begegnet auf seinem Ritt einer Schar von munteren, draufgängerischen Edelleuten, angeführt von Wladislaw, der im folgenden Kapitel zum Herzog Böhmens und Mährens gewählt werden wird, eine Wahl, die dann zu jenem Erbfolgekrieg führt, in dem Witiko eine ruhmreiche Rolle spielt. Das allerdings wissen wir bei diesem ersten Zusammentreffen noch nicht, wir wissen auch den Namen des Anführers nicht, der im Verlauf der Szene immer nur „der Scharlachreiter“ genannt wird. Er stellt ein paar harmlos-spöttische Fragen, die den (das muss man nun leider sagen) ziemlich humorlosen Witiko derart aufbringen, dass er sich und sein Pferd rasch aus der Reichweite der Ritter bringt und sein Schwert zieht. Der gut gelaunte Wladislaw kann Witiko beruhigen, und so reitet man eine Weile langsam nebeneinander her. Dabei erzählt ihm Wladislaw, wer die einzelnen Ritter sind und stellt sie ihm vor. Ich lasse jetzt die kaum variierten kurzen Dialoge und die Namen der Reiter weg und zitiere nur jeweils den Augenblick, da Witiko seinen Blick auf den angesprochenen Mann wirft.

Der erste Reiter:

„Witiko sah auf den Mann zu seiner Rechten. Er ritt auf einem schwarzen Pferde. Er war schönen braunen Angesichtes und schwarz von Haar und Augen. Er hatte ein grünes Gewand, auf der schwarzen Haube eine Reigerfeder, und trug Schwert und Hüfthorn.“

Der zweite Reiter:

„Witiko blickte gegen ihn zurück. Er ritt auf einem Goldfuchs, war braun von Haar und Augen, hatte ein braunes Gewand, auf der schwarzen Haube eine Geierfeder, und trug Schwert und Hüfthorn.“

Der dritte Reiter:

„Witiko wendete sich ein wenig auf seinem Pferde, und sah nach dem Manne, der gerufen hatte. Er ritt auf einem braunen Pferde, und war ein sehr schöner Jüngling mit blonden Haaren und blauen Augen und rosenrotem Angesichte. Er trug ein scharlachbraunes Gewand und auf der schwarzen Haube eine weiße Feder. Er hatte Schwert und Hüfthorn.“

Der vierte Reiter:

„Witiko blickte um. Der Mann ritt auf einem Rappen, hatte lichte Haare, grüne Kleider, eine schwarze Feder auf der schwarzen Haube, und trug Hüfthorn und Schwert.“

Ich breche hier ab, es kommen noch weitere Reiter. Woran erinnert diese Beschreibung? Mich erinnert sie an die Bildnisse der romanischen Kunst, die das Typische zeigen und nicht das Besondere, die äußere Haltung, nicht die innere Befindlichkeit. Die Personen in Stifters Roman sind keine Individuen im modernen Sinn, ihre Empfindungen und Gefühle werden nicht näher bezeichnet, ihre Psychologie spielt keine Rolle. Es sind Vertreter ihres Standes, es sind Menschen, die im Auftrag handeln: im Auftrag eines göttlichen Heilsplanes, der sich als historischer Prozess realisiert. Mag auch dieser Heilsplan in der Wirrsal irdischen Handelns und Gegeneinanderhandelns nicht immer klar erkennbar sein, so besteht doch kein Zweifel daran, dass es ihn gibt.

Der Unterschied zwischen den zahlreichen Akteuren dieser Geschichte besteht folglich vor allem in ihrer unterschiedlichen Interpretation dieses Heilsplans und in ihrer unterschiedlichen Geneigtheit, ihm zu folgen. Denn natürlich gibt es im Verlauf der Geschichte, die Stifter erzählt, Niedertracht und Bosheit, Tapferkeit und Mut. Aber dies sind objektive Tugenden oder Untugenden, die jemand besitzt, wie er ein schwarzes oder braunes Pferd besitzt. Sie sagen nichts über seinen persönlichen Charakter. Sie gehen nicht auf eine subjektive Befindlichkeit zurück, die psychologisch erklärt werden müsste. Sie äußern sich in Handlungen, die vom Verlauf der Ereignisse ganz klar in richtige und falsche Handlungen geschieden werden.

Als der Erbfolgekrieg beendet ist, als Witiko sich anschickt, eine Burg zu bauen und Bertha zu heiraten, besucht er seine Mutter Wentila. Man lässt die vergangenen Ereignisse Revue passieren, und Wentila sagt:

„Aus den Nachrichten, die Witiko gesendet hat, glauben wir, daß Witiko so ist, wie er gewesen ist, und er wird auch in der Zukunft so sein.“

Obwohl der Roman die Entwicklung seines Helden schildert, ist er doch kein Entwicklungsroman. Denn Witiko folgt dem Gesetz, unter dem er angetreten ist, und verwirklicht es. Er bleibt sich treu, und das heißt zugleich, er verändert sich nicht. „Werde, der du bist“, hat Nietzsche gesagt, der den „Nachsommer“ bekanntlich für ein großes Werk hielt.

Erinnern Sie sich bitte an die große Wahlversammlung in Prag, wo Witiko nach langer Debatte als Zuhörer zugelassen wird. Die Auftritte der einzelnen Redner sind immer gleich, und immer berufen sie sich auf jenes Gesetz, das ihrem Herkommen und der Geschichte ihres Stammes ablesbar ist. Wenn ich vorhin sagte, die Erzählperspektive Stifters erinnere an die einer Filmkamera, so muss ich das genauer fassen: Sie erinnert an die geradezu filmisch fortlaufenden Wandbilder mittelalterlicher Kirchen, auf denen die biblische Geschichte erzählt wird. Man kann das zum Beispiel im Dom von San Gimignano sehen. Sie nehmen vorweg, was Jahrhunderte später die Comics getan haben, nämlich die zeitliche Abfolge in einzelne Standbilder zu zerlegen und die Erkennbarkeit der Personen durch typische, immer wiederkehrende Merkmale abzusichern. Genau das tut Stifter im „Witiko“.

Der Kunsthistoriker Werner Hofmann, ein Österreicher übrigens, hat in seinem Buch „Die Moderne im Rückspiegel“ gezeigt, wie die moderne Kunst den Gedanken der Zentralperspektive aufgibt und sich wieder jener multiperspektivischen Betrachtung zuwendet, wie wir sie aus der mittelalterlichen Kunst kennen. Hofmann unterscheidet zwischen monofokaler und polyfokaler Darstellung. Das monofokale Bild, so schreibt er, „vermittelt eindeutige empirische Zusammenhänge, wie sie im dreidimensionalen Erfahrungsraum zwischen Menschen und Dingen, zwischen Körpern und Räumen sich einstellen können.“ Das polyfokale Bild hingegen „entwirft Sinnzusammenhänge, die sich nicht primär dem Augenschein, das heißt unmittelbaren Wahrnehmungsdaten entnehmen lassen.“ Die Polyfokalität, so Werner Hofmann, tendiere zu komplexen, übergreifenden Gebilden beziehungsweise Aggregaten, zu denen das Mehrfeldbild zähle, währen die Monofokalität sich vorzugsweise im Einfeldbild ausspreche.

Wir können diese Beobachtung leicht auf die Literatur übertragen und auf Stifters „Witiko“ anwenden. Dann erkennen wir, dass es sich zum Beispiel bei der zitierten Reiterszene um ein Mehrfeldbild handelt: Stifter zeigt uns mehrere Tableaus, die nebeneinander stehen, aber einen Sinnzusammenhang bilden. Diese Tableaus kann man, um den Begriff Hofmanns zu übernehmen, Aggregate nennen, denn in ihnen herrscht ein Ruhezustand, der dem eines Standbildes gleicht: Jede Bewegung ist für den Augenblick festgehalten. Erst die Gesamtheit der Aggregate ergibt eine Bewegung.

Die Auflösung der Zentralperspektive bedeutet aber zugleich, dass die Zuständigkeit des Subjekts reduziert ist. Es verliert seine Allmacht des Wahrnehmens, Urteilens, Empfindens. Es unterliegt einem höheren Gesetz. Deshalb kann es keine Entwicklung in einem modernen Sinne geben, und deshalb legt Stifter größten Wert auf das Typische und Beispielhafte. Es zeigt sich in der Wiederholung, in der Bestätigung dessen was ist und immer so gewesen sein wird. Als Witiko Bertha zum dritten Mal begegnet und den Bund der Ehe mit ihr schließt, heißt es:

„»Du hast an dem schönen großen Steine neben dem Waldsaume vor zwei Jahren zu mir gesagt, Bertha«, antwortete Witiko: »Baue dir ein Haus, Witiko, und wenn dann noch keine Makel an dir ist, so folge ich dir, und harre bei dir bis zum Tode. Nun baue ich mir ein Haus, und bin gekommen, dich zu fragen, ob eine Makel an mir ist?«
»Es ist keine Makel an dir, Witiko«, antwortete Bertha.
»So wirst du mir in das Haus folgen?« fragte Witiko.
»Ich werde dir in das Haus folgen«, entgegnete Bertha.
»Und wirst dort harren bis zu dem Tode?« fragte Witiko.
»Ich werde harren bis zu dem Tode«, antwortete Bertha.
»So ist gesprochen, was zuerst gesprochen werden sollte«, sagte Witiko. »Bertha, Bertha, sei mir tausendmal gegrüßt.«
»Sei tausend und tausend Mal gegrüßt, Witiko«, antwortete Bertha.“

Sie sehen, wie wichtig für dieses Ritual die Wiederholung ist: Es bestätigt sich das, was von Anfang an der Fall gewesen ist. Und danach gehen die beiden an jene Stelle, an der sie sich zum ersten Mal gesehen haben, sie gehen auf die Waldlichtung und wiederholen die Szene von damals:

„Da sie bei den Steinen angekommen waren, sagte Witiko: »Bertha, setze dich nieder.«
»Ich bin auf diesem gesessen«, sagte Bertha.
»So setze dich wieder auf ihn«, sprach Witiko.
Sie tat es.
»Und ich bin neben dir auf diesem gesessen«, sagte Witiko, »er ist niederer, und ich setze mich wieder auf ihn.«
Er tat es.
»Siehst du, Bertha«, sagte er, »unsere Angesichter sind nun wieder in gleicher Höhe, wie damals, da ich dich angeblickt hatte, und da du mich angeblickt hattest.«
»Bist du größer geworden, Witiko?« fragte Bertha.
»Es muß ein wenig sein«, antwortete Witiko, »da ich dir hier wieder gleich bin, und da du gesagt hast, daß dir dein Röcklein kürzer geworden ist. Mein Lederkleid dehnt sich.«
»Und so wie damals ragt dein Schwert in die niedreren Steine«, sagte Bertha, »und in den nämlichen Gewändern sitzen wir hier wie vor sechs Jahren.«
»Nur die Bäume, die jenseits der hellen Wiese stehen, an deren Rande wir sitzen«, sprach Witiko, »glänzen nun im Sonnenscheine, da sie damals im Schatten waren, und die Blätter der Ahorne über uns sind dunkel, die damals geschimmert hatten.«“

Wichtig ist die letzte Bemerkung. Der hauptsächliche Unterschied zwischen Damals und Heute ist der Wechsel der Jahreszeiten: Damals war es Herbst, jetzt herrscht der Sommer. Das heißt, die verflossene Zeit wird in Kategorien der Naturzeit und nicht der historischen Zeit gemessen.

Ich breche jetzt die nähere Analyse des „Witiko“ ab und versuche ein Resümee. Eingangs habe ich behauptet, Stifter sei ein moderner Autor. Zu den Merkmalen der Moderne gehört der Zweifel an der Möglichkeit des Erzählens. Die Vorstellung, ein allwissender Autor – die Wissenschaft nennt ihn den auktorialen Erzähler – verfüge über die Macht, aus eigenem Geschmack und eigener Vollkommenheit eine ganze Welt neu zu entwerfen und sie gleichrangig neben jene Welt zu stellen, in der wir leben, dieser hoheitliche Anspruch des realistischen Romans ist im 20. Jahrhundert verloren gegangen. Ein programmatisches Dokument dafür ist der Ihnen allen bekannte „Lord-Chandos-Brief“ des jungen Hugo von Hofmannsthal. Er formuliert den Zweifel an der Tragfähigkeit der Sprache, den Zweifel an der Konsistenz des Subjekts.

Stifter nun ist kein Mann des theoretischen Interesses, auch hat er vermutlich die genannten Zweifel nicht bewusst erfahren oder sie nicht zugelassen. Aber die Erzählstrategien des „Witiko“ wirken gerade so, als hätte Stifter diese Zweifel überspielt, indem er scheinbar den Rückzug ins Archaische antrat, in Wahrheit aber eine Literatur des fiktiv Dokumentarischen schreibt. Der Erzähler des „Witiko“ tritt auf als umständlicher, um Genauigkeit bemühter Chronist, der Einfluss auf den Fortgang der Ereignisse weder nehmen kann noch will. Er deutet sie nicht, er schmückt sie nicht aus. Er tut so, als referiere er etwas, was an und für sich dokumentiert ist, unabhängig von seinem Erzählen. Und deswegen enthält er sich jeglicher Ausschmückung – von wenigen, dafür um so wirksameren Szenen abgesehen. Sie werden auf diesen annähernd tausend Seiten keine einzige Metapher, keinen Wie-Vergleich finden. Es gibt auch keine kostbaren Formulierungen, gesuchten Wendungen. Der so genannte treffenden Ausdruck, den uns die Deutschlehrer und die Wörterbücher empfehlen, wird nicht gesucht, im Gegenteil: Der Chronist entscheidet sich im Zweifel für die einfache, nahe liegende Wendung. Und dadurch bekommt die Sprache des Romans eine ungeheure Intensität, eine selbstevidente Kraft. Die abgenützten Wörter wirken plötzlich frisch und wie neu. Die sprachliche Askese wirkt wohltuend und befreiend. Sie befreit von der maulfertigen Opulenz, von der ausgefuchsten Kunstfertigkeit, mit der uns heute viele Texte, bis hinein in die Medien, auf lästige Weise beglücken; und sie tut wohl, weil sie die Eskalation der Reize aufhebt, das Sensorium beruhigt wie ein langer Gang durch den Wald. Man kann bei Stifter die einfache und kräftige Bedeutung der Wörter wiederfinden.

Vielleicht darf ich einen etwas trivialen Vergleich heranziehen: Es dient ja eine immer mehr verfeinerte Kochkunst nicht immer der Steigerung des Wohlgeschmacks. Besonders in den so genannten Edelrestaurants überlagert die willkürliche Kostbarkeit der Zutaten und der Zubereitung nicht selten die ursprüngliche Eigenart der Speisen derart, dass man sich nach einer simplen Kartoffel sehnt. Das scheint mir auch das Merkmal einer mit allen Wassern literarischer Kenntnis gewaschenen Schreibmode, wie man sie zuweilen in den avancierten Magazinen findet. Und dann kann es passieren, dass einem der Satz „Er war schönen braunen Angesichtes und schwarz von Haar und Augen“ plötzlich als Wohltat erscheint.

Ein nicht geringer Reiz des „Witiko“ besteht darin, dass der gewissermaßen nicht existente oder jedenfalls unsichtbare Erzähler an wenigen, dafür wirkungsvollen Stellen dann doch sichtbar wird. Dann zeigt er ein lächelndes Gesicht. Der Vorwurf, Stifter sei vollkommen humorlos gewesen trifft ja nicht zu. Zwar war ihm die Ironie fremd, aber „Der Waldsteig“ zum Beispiel besitzt eine schöne, humorvolle Leichtigkeit, und Humor zeigt auch die folgende Szene:

„»Euer Mihelbach fließt recht schön an deiner Hütte vorüber«, sagte der Reiter.
»Ja«, erwiderte der Mann, »zuweilen aber nicht oft auch in dieselbe hinein.«“

Ich gebe zu, das ist nicht geradezu brüllend komisch, aber es zeigt jenen feinen menschenfreundlichen Humor, der auch in der Schilderung einer anderen Figur deutlich wird, bei Tom Johannes, dem Fiedler. Diese Figur wiederum wirkt wie eine der burlesken Nebengestalten, wie man sie auf mittelalterlichen Erzählbildern finden kann.

Das wahrhaft Irritierende am „Witiko“ aber ist die Tatsache, dass es sich um einen historischen Roman handelt, der das Wesen des Historischen leugnet. Denn der historische Roman ist ja an die Zentralperspektive gebunden. Er muss an die Kompetenz des Subjekts glauben, sowohl an die des Erzählers wie an die der erzählten Figuren. Wenn Sie sich an einen Landsmann Stifters erinnern, an den ein dreiviertel Jahrhundert später geborenen Stefan Zweig, dann sehen Sie den Unterschied. Sie sehen, wie archaisch und zugleich modern der „Witiko“ ist. Stefan Zweig dagegen verfährt in seinen Romanen und Erzählungen auf hoch spekulative Weise psychologisch. Er versucht, das Innere der historischen Gestalten zu ergründen, er versucht, Marie Antoinette oder Joseph Fouché zu verstehen, ihre Antriebskräfte bloßzulegen und die Umstände ihres Handelns und Scheiterns zu begreifen und zu schildern. Genau das, wenn auch weniger gekonnt, tun ja auch die zahllosen historischen Romane, die jedes Jahr auf den Büchermarkt drängen. Und genau das tut Stifter eben nicht. Wenn man sich vor Augen hält, dass der historische Roman in der Hauptsache ein Produkt des 19. Jahrhunderts ist, dann begreift man, wie fremd Stifter in seiner Zeit und für seine Zeit gewesen ist. Die Kontroverse mit Friedrich Hebbel ist nur eines von vielen Zeugnissen dafür.

Der historische Roman ist zweitens auf einen bestimmten Begriff von Zeit angewiesen. Er kann sich die Figur des Zeitpfeiles zu eigen machen, wonach Ursachen Wirkungen erzeugen, die dann unweigerlich auf ein vorläufig letztes Ergebnis zulaufen. Das ist der häufigste Fall. Seltener ist der kreisförmige oder zyklische Zeitbegriff, der einem angeblich erkannten Gesetz zufolge die Ereignisse zum Anfang zurückbiegt. Der „Witiko“ folgt dieser zweiten Figur, vor allem im dritten Band, wo sich die historische Sendung Witikos erfüllt – und damit eine alte Weissagung.

Der dritte Band aber, und damit verrate ich kein Geheimnis, ist der schwächste Teil des „Witiko“. Nicht allein deshalb, weil Stifters Kräfte zu diesem Zeitpunkt nachgelassen hatten, sondern vor allem, weil er den immanenten Widerspruch des Romans enthüllt. In dem Augenblick nämlich, in dem die Ereignisse an Tempo gewinnen und ins realhistorische Fahrwasser eintreten, müssen auch die handelnden Personen an Kontur und Individualität gewinnen, das heißt, um noch einmal mit Werner Hofmann zu sprechen, die Erzählweise wird unweigerlich monofokal.

Dafür aber ist Stifters Sprache nicht gemacht. Sie widersetzt sich ja einer vorwärts eilenden Bewegung, sie liebt das Statuarische, das Verweilende. Das wird schon im „Nachsommer“ sichtbar. Dort ist zunächst der Mangel an stark wirkenden Verben auffällig. Wenn ein Gewitter beschrieben werden soll, sagt Stifter: „An dem Himmel, dessen Dämmerung heute viel früher gekommen war, hatte sich eine Veränderung eingefunden.“ Die Form des Satzes dementiert seinen Inhalt. Etwas tropft herab – das wäre schon zuviel der Bewegung. Stattdessen: „Es ist kein Herabtropfen vorhanden.“ Mir kam ein Gedanke – das wäre schon zu rasch und zu direkt gesagt. Stattdessen: „Ein eigentümlicher Gedanke kam mir in das Haupt.“

Dann gibt es die merkwürdige Redundanz der Mitteilungen. Stifter versucht nicht im geringsten, das Gleichmaß der Wiederkehr abwechslungsreich zu gestalten. Im Gegenteil, er betont es bis zum Äußersten. Der Rhythmus der Gepflogenheiten, die ritualisierten Besuche, Gespräche, Spaziergänge – all das wird bis ins Detail immer von neuem wiederholt. „Der Tag verging ungefähr wie der vorige, und so verflossen nach und nach mehrere“, heißt es einmal, und einige Seiten später lesen wir: „Nach dieser Unterbrechung gingen die Tage auf dem Rosenhause dahin, wie sie seit der Ankunft der Frauen dahingegangen waren“; und wenig später findet sich der typische Satz: „Die Gespräche waren wie gewöhnlich“, und dann heißt es: „Man wiederholte vielleicht oft gesagte Worte, man zeigte manches, das man schon oft gesehen hatte, und machte sich auf Dinge aufmerksam, die man ohnehin kannte.“

Von Handlung in gewöhnlichem Sinn kann bei diesem fast achthundert Seiten starken Roman ohnehin keine Rede sein. Seine merkwürdige Kunst besteht darin, alles, was sich zu einem Ereignis oder einer Handlung entwickeln könnte, in eine ereignis- und handlungslose Ruhe münden zu lassen. Leitmotivisch kehren die Jahreszeiten wieder, der Winter, den Heinrich Drendorf in der Stadt verbringt, das Frühjahr, wo er hinaus in die Berge zieht, der Sommer, der ihn pünktlich zur Zeit der Rosenblüte auf den Asperhof bringt, wo er den alten Risach trifft und später die geliebte Natalie. Stifter geht es keineswegs darum, etwas Neues oder Aufregendes mitzuteilen. Das immer Gleiche betont er penetrant, er gibt sich große Mühe, gerade das, was auf der Hand liegt, immer wieder mit genau denselben Worten zu erzählen. Das ist so auffällig, dass es zweifellos Methode hat, Produkt eines sehr präzisen Kunstwillens ist. Bis in die kleinste Zelle der Sprache hinein geht das Bewegungsverbot, und dadurch gewinnt die Landschaft des Romans eine kristalline Struktur. Das Leben ist erstarrt. Das Rad der Zeit, dessen Lauf niemand zu stoppen vermag – hier stottert und ruckt es und scheint auf einmal stillzustehen. Und daraus resultiert die ungeheure Spannung zwischen der Oberfläche und dem, was darunterliegt, die Spannung zwischen der Ruhe, die scheinbar herrscht, und der Unruhe, die natürlich da ist und an wenigen Stellen heftig und tragisch zum Vorschein kommt.

Da ist einerseits die Lebensgeschichte des alten Risach, seine unglückliche Liebe, die Versuchung des Selbstmords. Da ist andererseits die nie direkt angesprochene, immer aber spürbare politische Realität der Monarchie, die ja selber ein Muster der Bewegungslosigkeit war und der vom Erdbeben der achtundvierziger Revolution ärgste Gefahr drohte. Der Stillstand, den Stifter literarisch formulierte, war politisch. Die März-Revolution, auf die er ursprünglich seine Hoffnungen gesetzt, von der er eine Lockerung des politischen Drucks und der Zensur erwartet hatte, enttäuschte ihn tief. Weniger, weil sie als Revolution scheiterte, sondern weil er sah, dass bedrohliche politische Energien freigesetzt wurden, die in Gefahr standen, Österreich aus den Angeln zu heben. Aus allem folgt die soziale Handlungshemmung, die Wolf Lepenies in seinem Buch „Melancholie und Gesellschaft“ beschrieben hat; es folgt, weil jede Bewegung falsch ist, die Bewegungslosigkeit; es folgt, weil kein realer Handlungsspielraum mehr existiert, die zeitlupenhafte Verlangsamung und die sprachliche Vernichtung von Handlung; es folgt, weil es keine Zukunft gibt, der Versuch, die Gegenwart als Gegenwart der Vergangenheit unendlich zu machen.

Und ganz ähnlich verfährt Stifter im „Witiko“. Das Prinzip der Redundanz und Wiederholung hat das Ziel, die herkömmliche Zeit, die gesellschaftliche Zeit, die historische Zeit stillzustellen. Statt dessen herrscht ein Zeitbegriff, der sich aus der Natur ableitet. Stifter kann ihn dort am wirkungsvollsten entfalten, wo der äußere Gang der Ereignisse zur Ruhe kommt und die Entfaltung dessen beschrieben werden kann, was von allem Anfang an in einem höheren Sinn vorgesehen war – so etwa, wie sich die Autoren des Neuen Testaments an den zentralen Stellen immer wieder auf die Propheten berufen. Oder so, wie die aufblühende Rose nur das enthüllt, was in ihrem Keim schon angelegt war.

Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte ihre Aufmerksamkeit nicht länger strapazieren und komme zum Schluss – und zitiere eine der merkwürdigsten Passagen aus dem „Witiko“. Nach seiner ersten Begegnung mit Bertha verabschiedet sich Witiko, und es heißt:

„Dann wendete sich Witiko zu Bertha, und sagte: »Lebet wohl, Bertha, und bleibet heiter und fröhlich.«
»Ihr auch, Witiko«, sagte das Mädchen, »und reitet mit Glück.«
»Vielleicht höre ich Euch doch wieder einmal singen, wenn ich wieder einmal komme«, sagte Witiko.
»Kann sein, wenn Ihr denkt, und singt wie der Wald«, entgegnete sie.
»Ich habe gejauchzt«, sagte er, »singen kann ich nicht aber denken wie der Wald.«“

Denken wie der Wald – das ist einer der zentralen Gedanken Stifters. Die Natur als unser Lehrmeister, als ästhetisches Vorbild, so wie es das „Sanfte Gesetz“ formuliert. Aber das ist nur die harmlose Fassung eines tiefer sitzenden Problems. Denn die Natur ist bei Stifter keineswegs nur tröstlich – denken Sie nur an die unheimliche Gewalt, die der Schnee in der Erzählung „Bergkristall“ gewinnt, ein Motiv, das noch einmal in Stifters letztem Prosastück „Aus dem bairischen Walde“ auftaucht. Und schon in seiner allerersten Erzählung, im „Condor“, wird die Fahrt im Luftschiff zu einer fundamentalen Begegnung mit der Unheimlichkeit und Unbegreiflichkeit der Natur. Gemessen daran ist das Rosenspalier des alten Risach nur ein lokaler Zähmungsversuch.

Denken wie der Wald heißt in meinen Augen etwas anderes. Es bedeutet, sich einer lästigen oder bedrückenden Subjektivität zu entschlagen. Es bedeutet, aus der Wirrsal des menschlichen Daseins in die Wirrsal der Natur zu fliehen. Denn die Wirrsal der Menschen ist heillos, die der Natur hingegen nicht. Jedenfalls versucht Stifter, in der Natur eine höhere Ordnung zu erkennen, eine Ordnung, die nicht gefährdet ist durch Niedertracht und Zügellosigkeit, nicht bedroht durch den ewigen Konflikt zwischen Pflicht und Neigung. In der Gleichgültigkeit der Natur besteht ihr wahrer Trost, in ihrem unangefochtenen, unanfechtbaren Fürsichsein.

Es gibt in der Erzählung „Der Waldgänger“ eine merkwürdige Passage. Noch bevor die Hauptfigur wirklich eingeführt ist, erscheint ein andere Figur, noch bevor das Subjekt der Handlung, eben der Waldgänger, sich der zu erzählenden Geschichte bemächtigt, ergreift ein anderes Subjekt die Macht. Es ist die Natur. Hier erscheint sie in der Gestalt eines Baches, der vollkommen anthropomorph beschrieben wird, als ein schlüssig und bedacht Handelnder:

„Ganz oben, wo das Thal mit noch geringerer Tiefe anfängt, begann auch ein winziges Wasserfädlein, neben dem Wanderer abwärts zu gehen. Es ging in dem Rinnsale neben dem Wege unhörbar und nur glizzernd vorwärts, bis es durch die Menge des durch die Höhen sickernden Wassers gestärkt vor ihm plaudernd und rauschend einherhüpfte, als wollte es ihm den Weg durch die Thalmündung hinaus zeigen, und bis es endlich durch die ungheure Wucht des in die Tiefe gedrückten Wassers genährt, und von manchem aus dem Bauche des Berges hervor springenden Brünnlein begrüßt, und von manchem schwarzen Steine aufgehalten schäumte und tobte, und ihn ermunterte zu folgen.“

Und im Fortgang dieser Passage ist auf einal von einem „sie“ die Rede, von einem Plural, von zwei Kreaturen, die gemeinsam den Waldhang hinabgehen und dabei manche Hindernisse überwinden müssen. Diese zwei Kreaturen sind der Wanderer und eben der Bach. Die Umkehrung finden wir in der Geschichte „Der Hochwald“, wo die drei Geschwister in der Einöde den politischen Grund ihres Exils (sie werden dort hingebracht, weil das väterliche Schloss vom Dreißigjährigen Krieg bedroht ist) gewissermaßen vergessen, weil sie Teil der Natur werden, Teil des mit größter Inbrunst beschrieben Hochwaldes. Auch der Autor vergisst die nicht sehr tragfähige Konstruktion seiner Geschichte, er vergisst ganz wörtlich den jüngeren Bruder der beiden Mädchen, und das Ende der Erzählung wirkt rasch und etwas lieblos zusammengezurrt. Das macht auch nichts, denn das eigentlich Subjekt der Geschichte ist der Hochwald.

Die Menschen werden naturförmig, und die Natur wird menschenförmig. Damit geht einher die Aufkündigung des contrat social, die Abkehr vom Gesellschaftlichen. In der Binnenerzählung des „Nachsommers“ erfahren wir von der nicht unbedeutenden politischen Vergangenheit des alten Risach. Auch der Rosenhof ist ein Exil, so wie der Hochwald eines ist oder die Insel im See, wo der Hagestolz seine letzten Tage fristet. Diese Exilstationen sind selten nur idyllisch. Meist eignet ihnen zugleich etwas Unheimliches. Der Mensch verliert seine Individualität, die Menschenzeit verliert ihre bedrohliche Macht. Hier herrscht nur noch Gegenwart, in die zuweilen die dunklen Schatten der Vergangenheit hineinragen, die Schatten des verfehlten, nicht gelebten Lebens.

Die fürchterliche Gewalt der Vergänglichkeit, die Stifter in seiner Vorrede zur „Mappe meines Urgroßvaters“ so eindrucksvoll beschrieben hat – in der Natur reduziert sie sich auf den Kreislauf und die Wiederkehr der Jahreszeiten. Das ist in Wahrheit kein Trost, und Stifter behauptet das auch nicht. Was die Natur ihm und seinen Lesern aber beschert, ist nicht gering zu achten: Es ist das Sedativ der Verlangsamung, die meditative Kraft der Entschleunigung. Denken wie der Wald. Und wer dann fragt: Kann der Wald denken? muss sich die Frage gefallen lassen: Kann es der Mensch?

Mit Naturromantik hat Stifters Konzept offensichtlich nichts zu tun. Insofern beruht die Wertschätzung Stifters durch Eichendorff möglicherweise auf einem Missverständnis. Auch mit Realismus hat es nichts zu tun. Es ist etwas ganz Eigenes, höchst Befremdliches und Großartiges. Es weist zurück in die Tiefe einer nicht näher definierten Vorzeit, und es weist voraus auf die Konvulsionen der Moderne.

Aber wenn ich „Konzept“ sage, unterstelle ich eine bewusste Absicht. Meine Vermutung geht eher dahin, dass Stifter nicht wusste, was er tat. Das verbindet ihn übrigens mit den meisten großen Schriftstellern. Er dachte konservativ, aber er war kein philosophischer Kopf. Etwas, von dem er nicht wusste, was es war, trieb ihn dazu an, sich diesem nicht Gewussten schreibend zu nähern. Er wollte zusammenhalten, was ihm wichtig und wertvoll schien. Aber je mehr er das versuchte, je strenger er mit sich selber und seinem Stoff verfuhr, desto stärker wurden die zentrifugalen Kräfte.

Der „Witiko“ ist in meinen Augen der letzte und stärkste Beweis dafür. Er stellt den Versuch dar, Geschichte zur Natur zu machen. Die innere Logik des Buches besteht darin, Naturgeschichte und Menschengeschichte in eins zu setzen, den Fluch der Vergänglichkeit durch die verweilende Wiederholung zu entkräften. Und sich zugleich in dieser Wiederholung der Haltekraft des Gegenwärtigen zu versichern. Und das ewig Gegenwärtige ist die Natur.

Aber Stifter war, zu seinem und unserem Glück, alles andere als ein Ideologe. Deswegen haben jene späteren Ideologen, die gesellschaftliche Prozesse naturförmig verstehen und dirigieren wollten, mit Stifter nichts anfangen können. Sie hatten einen instrumentellen Begriff von Natur. Stifter aber hatte in Wahrheit überhaupt keinen Begriff von ihr. Er verstand durch unablässige Beobachtung mehr von ihr als jeder andere. Aber er hatte keinen Begriff von ihr im Sinne einer Theorie. Er wollte denken wie der Wald, aber er hat nie herausgefunden, wie der Wald denkt.

Auf dieser Basis einen historischen Roman schreiben zu wollen, das kann nicht gelingen. Im Grunde verkörpert der „Witiko“, lange vor Francis Fukuyama, das Ende der Geschichte. Er verkörpert es – er verkündet es nicht. Stifter verkündet nur selten. Mein Resümee also lautet, dass der „Witiko“ gescheitert ist. Aber welch ein Scheitern! Ein so eindrucksvolles, grandioses Scheitern möchte ich vielen Autoren wünschen.


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