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Ulrich Greiner
Das Buch der Träume
Botho Strauß wandert in seiner Sammlung „Mikado“ durch die nächtliche Welt der Verwandlungen

Wahrscheinlich hat jeder Mensch in jeder Nacht Träume. Beim Blick in den Spiegel jedoch verfliegen sie zumeist wie der Schaum einer Welle. Von Ernst Jünger heißt es, er habe sich am frühen Morgen wecken lassen – in jener Phase des flachen Schlafs, da er die tiefsten Träume hatte –, um sie sofort niederzuschreiben. In der Tat sind manche Traumnotizen seiner Tagebücher von beklemmender Deutlichkeit und Symbolkraft, wobei natürlich niemand wissen kann, ob und wie sehr Jünger diese Mitschriften literarisiert hat.
Im Werk von Botho Strauß hat der Traum, wenngleich selten in unmittelbar erzählter Form, schon immer eine große Rolle gespielt. Er infiltriert den Text, bis er selber zum Traum wird, und das heißt: zum Rätsel. Dem üblichen Verfahren, mit Hilfe der Erzählung so lange Licht in den Traum zu bringen, bis das Rätsel gelöst scheint, misstraut Botho Strauß und geht den umgekehrten Weg. Das macht seine Prosa vieldeutig und faszinierend. Sie stellt mehr Fragen als sie Antworten gibt.
Im letzten Stück der neuen Sammlung Mikado sieht sich der Erzähler an den Fuß einer hohen Mauer versetzt. Sie staut das »Wasser, das von den eisbedeckten Gipfeln des menschlichen Geistes herabstürzte und im künstlichen Becken sich löste zu kristallklarer und undurchdringlicher Poesie.« Beseelt von seinem Erkenntnisdurst klettert der Mann die Mauer empor, und Zug um Zug nähert er sich der Wahrheit. Aber ähnlich wie Schillers Jüngling zu Sais richtet sie ihn zu Grunde. Oben angelangt wird er vom berstenden Damm ins Tal gespült. Der Widerspruch liegt auf der Hand: Die Geschichte ist ein Traum, der die Wahrheit als unerreichbar zeigt, selber jedoch eine Wahrheit ausspricht.
Heutzutage hat die Literatur mit solchen Allegorien ihre Probleme. Man schreibt so was nicht mehr. Aber die Gattung des Sinngedichts und der lehrhaften Erzählung hat eine große, fast vergessene Tradition. Einzig Johann Peter Hebels Kalendergeschichten aus dem Rheinländischen Hausfreund (ab 1808) sind noch im Gedächtnis und werden noch gelesen, was damit zu tun hat, dass Hebel die Erbaulichkeit oft ins Tragikomische auflöst.
Strauß, dessen nur wenige Seiten umfassende und ebenso rätsel- wie sinnhafte Prosastücke von den Kalendergeschichten inspiriert sind, folgt ihm auch da, wo Hebel mehr die Groteske als die Nutzanwendung anzielt. In dem Text Die Vorbotin träumt ein Mann, seine Frau habe ihm einen Seitensprung eingestanden. Er hat die Botschaft schon fast vergessen, als er eines Tages einen konkreten Verdacht verspürt und sie fragt, ob zwischen ihr und einem gewissen Luis etwas vorgefallen sei. Und er hört sie schon, genau wie im Traum, gereizt antworten: »Ja, mein Gott! Es ist eben passiert. Na und?« Aber sie sagt das gar nicht, sondern: »Ich würde dich bestimmt nicht mit jemanden betrügen, bei dem du die geringste Vorahnung hättest, dass er der Glückliche sei. Und das war doch bei Luis der Fall, oder?«
Ist das nun ein Wahrtraum? Das Dementi ist schlimmer, als das Eingeständnis es wäre. Dahinter verbirgt sich die Frage: Ist die Frau, die im Traum als Vorbotin erschien, identisch mit seiner wirklichen Frau? Aber was heißt schon »identisch«. Die Erzählung Mikado fängt so an: »Zu einem Fabrikanten, dessen Gattin ihm während eines Messebesuchs entführt worden war, kehrte nach Zahlung eines hohen Lösegelds eine Frau zurück, die er nicht kannte und die ihm nicht entführt worden war. Als die Beamten sie ihm erleichtert und stolz nach Hause brachten, stutzte er und erklärte: Es ist Ihnen ein Fehler unterlaufen. Dies ist nicht meine Frau. Die ihm Zu-, jedoch nicht Zurückgeführte stand indessen hübsch und ungezwungen vor ihm, wachsam und eben ganz neu.«
Der Mann ist vollends verwirrt, als ihn die Frau an ein Urlaubserlebnis erinnert, das kein Fremder kennen kann. »Aufhören! rief der Mann ungehalten. Schluss mit dem Falschspiel! Du kannst das nicht wissen. Nicht du!« Er trifft sich mit einem Freund und hofft, mit ihm reden zu können. Aber der Freund hört gar nicht zu, ist nur mit sich selbst beschäftigt. Er scheint sich völlig verändert zu haben. »Es muss doch wohl an mir liegen«, sagt sich der Mann, es bleibt ihm keine Wahl, er muss hinfort mit dieser Frau, mit diesem Rätsel leben. Man kann, so sehen wir, nie sicher sein, wer der andere ist; nicht einmal, wer man selber ist.
»Da gab es den Bäckermeister Alwin«, so beginnt die Geschichte Rückkehr, »der eines Morgens nicht mehr in seine Backstube kam, seine Frau Myriam verließ und nach Mexiko auswanderte.« Er wird dort reich und kehrt nach vielen Jahren zurück. »Die Frau saß bei einem Glas Pfirsichlikör an ihrem Tisch, an dem sie immer gesessen hatte.« Der Mann verspricht ihr eine großzügige Unterstützung. »Doch sie schüttelte den Kopf und bat ihn, sie wieder mit ihm allein zu lassen.«
Das ist Variation von Hebels berühmter Erzählung Unverhofftes Wiedersehen. Sie spielt mit der Frage der Identität. Bei Hebel ist der schöne, im Bergwerk verschüttete, fünfzig Jahre später ausgegrabene Jüngling derselbe von damals. Das Vitriolwasser, in dem er lag, hat ihn konserviert, während seine Verlobte nunmehr eine alte Frau ist. Wenn die Frau des Bäckermeisters zu ihm sagt, er möge sie »mit ihm« allein lassen, so meint sie den jungen Mann von einst. Den aber gibt es nur im Traum der Erinnerung.
Der Traum ist der Ort der Verwandlungen. Nirgends sonst überblenden sich die Bilder mit solch selbstverständlicher Leichtigkeit. Wen aber der bezeichnende Zufall trifft, der erlebt Metamorphosen auch im Alltag – so wie jene junge Frau, der sich überraschend ein unbekannter Mann nähert und sagt: »Ich will versuchen, Sie nie wiederzusehen!« Er küsst sie, drückt ihr ein Bündel Briefe in die Hand und verschwindet. Die Frau liest die an eine andere gerichteten Briefe »mit kindlich-grausamem Vergnügen«. Am Ende heißt es: »In der höchsten Erregung der Lossagung hatte der Unglückliche sie verwechselt und zum Abschied die Falsche geküsst.«
Das große Buch der Verwandlungen sind Ovids Metamorphosen. Ihr Geheimnis besteht darin, dass die Verwandlung dem Verwandelten zwar eine widrige Gestalt verleiht, die ihm aber keineswegs unangemessen ist, sondern eine besondere, eine verborgene Seite seines Wesens offenbart. Diesen Gedanken wendet Strauß ins Moderne und unterminiert die Vorstellung eines autonomen, in sich geschlossenen Subjekts. Wie etwa in der Geschichte des Richters, der eines verspäteten Abfluges wegen in der Wartehalle sitzt und die zurückliegende Tagung rekapituliert. Dabei erinnert er sich an die hübsche junge Frau, mit der er einige Worte gewechselt hat. Im Geiste geht er zurück in die Stadt und wandert auf einer Straße dahin, bis er hinter sich »das leise Fauchen einer schnellen Fahrradfahrt« hört und, sich wendend, die schöne Frau erblickt. Sie hält an und fragt ihn sehr direkt, ob sein Interesse an ihr vom gestrigen Abend bereits wieder erloschen sei.
Der Richter, erbaut von dieser Offerte, neigt sich ihr zu: »Der Kuss allerdings, der ihm dann zustieß, war der merkwürdigste, den er je mit einer Frau getauscht hatte. Er begann nicht mit einer zarten Berührung der Lippen, sondern ihr Mund drückte sich wie eine Atemmaske fest auf den seinen und ihre ausgestreckte Zunge klöppelte in seiner Mundhöhle schnell hin und her, wie der Hinterleib einer Biene, die ihre Botschaft tanzt. Aber was für eine Botschaft war es denn, die sie ihm mitteilen wollte? Dem Richter wurde nur soviel gewiss, als dass der Kuss kalt ausgeführt wurde, mehr einem genetischen Programm entsprechend als einer spontanen Zuneigung. Er löste seine Lippen von ihren und sagte einen, wie ihm war, fremdartigen Satz aus einem ihm fremden Sprachsystem, das ihn als Subjekt nur benutzte, doch nicht das seine war.«
Das Sprechen in einer fremden Sprache, der kaum merkliche Übergang von der Fantasie in die Realität, der scheinbar erfüllte Wunsch als Wurzel neuer Irritation – all dies kennen wir wohl selber aus unseren Träumen, neigen aber dazu, diese Träume für unser Allerpersönlichstes zu halten. Was Strauß aber zeigen will (und es gelingt ihm grandios), ist die desillusionierende Tatsache, dass wir uns träumend in einem quasi genetischen Programm bewegen. Oder, wie es in einer anderer Geschichte heißt: »Jedes Verhalten besitzt einen Stammbaum, jedes Gefühl einen ungezähmten Vorfahren.«
So sind diese Kalendergeschichten ungeheuer reich an subtilen, überraschenden Einsichten, sie sind ein Lehrbuch der Gefühle, der Täuschungen und der Verwandlungen, geschrieben in einer knappen und anschaulichen Sprache. Botho Strauß bewegt sich mit diesem erstaunlichen Buch im Horizont jener erzählerischen Exploration, die wir aus seinem Werk kennen. Hier hat er sie in eine neue, eine ebenso tiefsinnige wie unterhaltsame Form gebracht. Es handelt sich um Erbauungsliteratur im ursprünglichsten Sinn: Wir lernen etwas über uns selber. Es beginnt damit, dass wir uns erst einmal nicht mehr verstehen. Dann aber blicken wir wie in einen Spiegel.
Sieht man auf die geläufigen Bücher unserer Tage, auf diese Abbildungstexte, Verständigungstexte, Bewältigungstexte, dann erkennt man, ein wie außergewöhnlicher Schriftsteller Botho Strauß ist. Sein Buch zu lesen, heißt: wieder zu entdecken, worum es bei Literatur zuvörderst geht.

Botho Strauß: Mikado. Hanser Verlag, München 2006



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