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Ulrich Greiner

Der Mönch am Meer

Haben wir uns von Botho Strauß oder hat er sich von uns entfernt? In seinem neuen Buch "Vom Aufenthalt" erzählt er vom Altern und von wachsender Vereinsamung.

Seit Mitte der siebziger Jahre ist Botho Strauß die geheime Autorität der intellektuellen Nachkriegsgeneration. Mit dem scharfen Blick seiner historisch versierten Intelligenz zerlegte er die Gemütlichkeiten, in denen sich das neue Bürgertum eingerichtet hatte, er zeigte den Maschinenraum der Leidenschaften, der das scheinbar aufgeklärte, um ideologische Korrektheit bemühte Bewusstsein der westdeutschen Gesellschaft in Wahrheit antrieb. Seine Theaterstücke wie Die Hypochonder (1972) oder Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle (1975) machten ihn in Kürze berühmt. Seine weithin gelesene Sammlung von Erzählstücken und Kurzessays Paare, Passanten (1981) war der helle, provozierende Gegenentwurf zum einverständigen Milieu eines moralistischen Spießertums, das in der späteren Debatte um den Essay Anschwellender Bocksgesang (1993) ein letztes Mal recht zu behalten gedachte.

Das alles ist Vergangenheit. Die ideologischen Fronten der alten BRD sind längst verwischt, fast vergessen, und die Empörung, die der Bocksgesang seinerzeit auslöste (manche wollten darin den Programmtext eines bedrohlich aufsteigenden Rechtskonservatismus entdecken), ist heute, in dieser postideologischen Phase entspannter Vorteilssammler, kaum noch verständlich. Das deutsche Theater schließlich, in dem Botho Strauß – er ist Jahrgang 1944 – seine Herkunft und Heimat erblicken konnte, hat sich von ihm abgewendet. In einem Gespräch mit der ZEIT im Jahr 2000 sagte er: »Das Theater ist gegenwärtig ein privatpsychopathisches Unternehmen, das maßgeblich von Illiteraten bestimmt wird, die überhaupt gar nichts lesen, nicht einmal das Stück, das sie gerade inszenieren.«

Unterdessen hat sich die Position des Dichters und Denkers Strauß allmählich bis hin zu einer schmerzlichen Vereinsamung radikalisiert. Man spürt sie in der neuen Sammlung von Maximen und Reflexionen Vom Aufenthalt . Sie sind weithin monologisch, der Autor wendet sich an sich selbst. Einmal schreibt er: »Wozu noch im Ton des Mitteilsamen sprechen, da ohnehin niemand mehr Zutritt begehrt?«

Immer schon, sogar auf dem Höhepunkt seines Ruhms, war Strauß ein Außenseiter. In dem erwähnten Gespräch antwortete er auf die Frage: »Fühlen Sie sich an den Rand gedrängt?« mit der Gegenfrage: »Wo anders soll man leben?« In der Tat: Der Kritiker unserer Sprech- und Lebensweise kann ja nur dann treffend beobachten, wenn er sein Teleskop aus der Ferne auf uns richtet. Wird aber die Entfernung zu groß, so verhallen seine Mitteilungen im Rauschen des Zwischenraums.

Das, in Kürze, ist das unauflösbare Dilemma, in dem Botho Strauß sich befindet. Niemand weiß das besser als er selbst. Deshalb beginnt sein neues Buch mit der Geschichte eines Reisenden, der »nach vielen Jahren in der Fremde« in die Heimat zurückkehren möchte, aber kurz davor, »da sein Land nach einem Putsch über Nacht alle Grenzen schloss«, den Zug verlassen muss und zu einem längeren Aufenthalt auf dem Bahnhof der Grenzstadt gezwungen wird. Da sitzt er also und gewinnt den Zustand »reiner Tatenlosigkeit. Die Beschäftigten werden nun zur fremden Rasse, die man wie ein Ethnologe untersucht. Man wird zum Feind der Ereignisse, wird Arbeiter und Sprecher der Weite.«

Das ist der Aufenthalt, die Zwischenzeit. Wir sind nur Gast auf Erden. Das Leben des Menschen erscheint ihm wie der Sturz eines Asteroiden: »Du selbst, das ist nicht mehr als solch ein Lichthieb durch die Finsternis. Ein grelles erblicktes Vorbei.« Und erneut beginnt ein radikales Nachdenken über Zeit und Vergänglichkeit, gerade so, als ob Strauß dem emphatischen Beginn seines Romans Der junge Mann (1984) hinterhersinnen müsste, der damals mit den Worten begann: »Zeit Zeit Zeit.« Nun erfasst ihn die Einsicht, dass nichts das Vergehen der Tage aufhält – mit der Einschränkung freilich: »Von ihnen zu erzählen, statt sie zu zählen, verklärt ihr Vergehen und lässt sie darin neu erstrahlen.« Und er zitiert Mörikes Gedicht: »Es singen die Wasser im Schlafe noch fort / vom Tage / vom heute gewesenen Tage.«

Unabweisbar jedoch schiebt sich die Erfahrung des Alterns vor diesen Trost. Das von T. S. Eliot geborgte Diktum »Old men ought to be explorers – Alte Männer müssen Kundschafter sein« geistert wie eine heroische Parole durch das Buch, wie eine Selbstermunterung, die aber auf weiten Strecken nichts fruchtet. Die Erfahrung absoluter Einsamkeit dominiert. Er geht übers Feld: »Die Ähre nickt, ich grüß zurück.« Er wandert durch die Uckermark, wo er seit Jahren wohnt, und erinnert sich an seinen Sohn, dem er in seinem Buch Die Fehler des Kopisten (1997) ein unvergängliches Denkmal gesetzt hat und der nun, älter geworden, seiner Wege gegangen ist: »Mein Kind wird diese Tage selig erinnern, das heißt: zu jenen Tagen werden sie ihm dereinst. Dazu wird mir die Zeit nicht reichen. Er, der hier so viele Jahre lang vor mir herlief. Vergiss es nicht, mein Junge, du gut Vorangehender!«

Dem Alternden rückt die Kindheit in den Blick. Einmal bemerkt er eine kleine Figur auf der Fensterbank am Ende des Flurs und erinnert sich daran, dass sie im Elternhaus an einer ähnlichen Stelle stand: »Kinderstube und letzte Klause schließen aneinander, verständigen sich mit einem kurzen Geflüster und sind dann eins.« Scheinbar vergessenes Leid meldet sich aus dem Dunkel der Vergangenheit: »Ein Schluchzen erst jetzt, das aus der Tiefe der Jugend, aus der versunkenen Not einer schweren Stunde aufstieg. Etwas, das man damals kaum begriff und das nun nach so langer Zeit zu ganzer Unbegreiflichkeit reifte.«

In solchen Passagen gewinnt das Buch eine bewegende Kraft, und man folgt dem Autor auf seiner Suche nach einer Gewissheit. Tastende theologische Reflexionen tauchen auf – etwa die berührende Nacherzählung der Passion Jesu oder die Verbeugung vor Augustinus, der sagte, das Schöpfungswort sei nicht im Nacheinander, »das dem Gesprochenen ein Ende setzt«, gesprochen worden, sondern »zugleich und immerwährend – simul et sempiterne«. Und wieder, wie schon in seinem Buch Das Partikular (2000), geht Strauß dem Gedanken des Gesetzes nach: »Nomos: einmal das, was nicht zur Debatte steht, finden. Einmal das Gesetz, von dem man nur abfallen kann, das sich nicht an jede Veränderung anpassen, nicht in Zweifel oder Streit ziehen lässt. Nomos, mein Herr, lies du mich einmal! Lies, Gesetz, mich vor.«
Und wieder, wie in den früheren Büchern, finden wir Erzählversuche und Prosafragmente, rätselhafte und auch leuchtende, wie etwa jenes von der Frau, die nach einem Streit mit ihrem Mann aus dem Haus läuft, unterwegs einem anderen begegnet, den sie irrtümlich für den eigenen hält und sich stellvertretend mit ihm versöhnt. Zugleich aber lässt sich nicht übersehen, dass jene Reizbarkeit, der wir die scharfsichtig brillanten Diagnosen von Strauß verdanken, nachgelassen hat. Nicht dass er versöhnlicher geworden wäre. Über die Blogospähre sagt er: »Das All ist erfüllt von jedermanns erbrochenem Alltag, das Logbuch einer weltweiten Mitteilungsinkontinenz.« Über die Frauen: »Die Zunahme an Disgrazie und der Totalausfall an hetärischer Intelligenz macht jede Frau zum armen Hascherl, gleich welche soziale Stellung sie einnimmt. Endlich ist es ihr gelungen, das Objekt der Begierde nicht mehr zu sein.«

Aber letztlich sind das nur Wiederholungen jener Befunde, die man aus früheren Büchern kennt, sie lesen sich wie das Echo eines fast schon verrauchten Zorns. Dominant ist das Gefühl, gänzlich verlassen zu sein, »wie der Botschafter eines von allen vergessenen Lands, der sich darüber wundert, dass ihn niemand mehr zu Empfängen lädt«. Verwunderlich ist das nicht, denn Strauß schlägt Einladungen, welcher Art auch immer, seit Jahrzehnten aus. Er meidet die Medien, verweigert öffentliche Auftritte, und Beiträge zu aktuellen Themen gibt es von ihm so gut wie nie.

Die selbst gewählte Isolation entfaltet eine tückische Dialektik: Sie ist Bedingung des kühnen Gedankens, und zugleich entzieht sie ihm den Boden des Gegenübers. Botho Strauß ist sich dessen bewusst: »Mitunter bin ich der Fuß, der im Stiefel wühlt wie ein Tier, das sich befreien möchte aus einer Gefangenschaft, die ihm wie angegossen passt.« Melancholie paart sich mit Stolz: »Zu keinem trägst du was. Für dich allein schwirrt der Kopf, der Bienenkorb zwischen deinen Schultern, cista mystica, darin ein Volk von geistigen Insekten ein- und ausfliegt, sammelt und baut, zu keinem anderen Zeck, als sich selbst zu erhalten und zu vermehren. Da nun niemand von außen sich des köstlichen Lagers bedient, werden sie eines Tages den Bau für immer verlassen.« In solchen Sätzen schwingt auch Ironie mit, aber es ist eine melancholische, entsagende Ironie, die sich mit dem Alleinsein einrichtet und von Intervention verabschiedet: »Sprache sollte man verdunkeln wie einst die Häuser unter Luftangriff.«

Dieses alles in allem sehr traurige, sehr dunkle Buch wird nicht das letzte von Botho Strauß bleiben, aber es zeigt ihn weiter von uns entfernt denn je. Seine Stimme klingt wie verweht, er gleicht dem Mönch am Meer, jenem geheimnisvollen Mann auf Caspar David Friedrichs Gemälde (1810), der auf der vorgerückten Position eines öden Strandes steht. Er wendet uns den Rücken zu und schaut hinaus in die Tiefe des Himmels und der Wolken. Falls er etwas sähe, was wir nicht sehen: Er könnte es uns nicht mitteilen.

Die Frage, wer sich von wem entfernt hat, Botho Strauß sich von uns oder wir uns von ihm, ist schwer zu entscheiden, in jedem Fall ist das Ergebnis ein Grund zur Klage. Denn Botho Strauß steht für eine an die Romantik anknüpfende Tradition. Sie sieht in der Literatur ein Mittel poetischer Durchdringung und Erkenntnis der Welt, sie begreift Geschichte nicht als kausale Abfolge oder zielgerichtetes Fortschreiten, sondern als Gleichzeitigkeit alles je Gedachten. In geistigen Dingen gibt es kein Veralten, nur ein Vergessen. Und das Erzählen besteht im Sinne dieser Tradition nicht in der mimetischen Abbildung des Realen, sondern in dessen Verzauberung, in einem Gegenbild, das die Sprache beim Wort nimmt und ihrem Mitteilungscharakter nicht blind oder naiv vertraut.

In dieser Hinsicht ist Botho Strauß seinem Altersgenossen Peter Handke ganz ähnlich, und beider Karriere gleicht sich darin, dass sie in jungen Jahren zu Ruhm kamen, schon früh in der Mitte der literarischen Bewegung standen und sich immer mehr daraus entfernten. Einst waren die Bücher von Handke oder Strauß Ereignisse der Saison und meist auch Bestseller. Das ist vorbei.

Wirft man einen Blick auf die Älteren, auf die Generation von Walser, Grass, Lenz, Enzensberger (um lediglich die noch Lebenden zu nennen), so sieht man, wie die Gründerfiguren der Nachkriegsliteratur ein gewaltiges Feld bestellt und besetzt haben. Mit ihrem erzählerischen Werk prägten sie die Selbstwahrnehmung der Gesellschaft, mit ihren Interventionen wirkten sie mit am politischen Prozess.
Die Frage, warum ihre Nachfolger, allen voran Handke und Strauß, ihnen darin nicht nachgefolgt sind, bleibt unbeantwortet. Mag sein, dass ihr beharrender, entschleunigender Blick in der rasenden Moderne keinen Ort mehr hat; mag sein, dass ihr Hochmut, der letztlich nur darin besteht, sich nicht gemein zu machen, uns bequem gewordene Leser abschreckt. Sie weigern sich, »Lesefutterknechte« (Handke) zu sein, und verlangen von uns, sie auf ihren nicht selten steinigen Pfaden zu begleiten. Die überwiegende Menge dessen aber, was gegenwärtig an deutscher Literatur gelobt und gelesen wird, folgt dem triadischen Glaubensbekenntnis: Bekömmlichkeit, Zugänglichkeit, Wiedererkennbarkeit. Das muss noch kein Fehler sein, aber dass Literatur sich darauf nicht beschränkt, sondern den Blick öffnen kann für das nie Gesehene, nie Gedachte, so wie Kleist über den Mönch am Meer bemerkte, es sei, wenn man das Bild betrachte, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären, das immerhin könnte man bei Botho Strauß erfahren.

Botho Strauß: "Vom Aufenthalt". Hanser Verlag, München 2009



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