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Ulrich Greiner

Hörst du den Schlaf rauschen?

In seinem neuen Buch „Der Fortführer“ verknüpft Botho Strauß das Jetzt und das Einst, die Realität und den Traum

„Zeit Zeit Zeit.“ So beginnt „Der junge Mann“ von Botho Strauß. Und dann heißt es: „Mit der Zeit kommen die Menschen immer noch am wenigsten zurecht.“ Ja, die Zeit! Im Alltag begegnet sie uns als die, die wir nicht haben, oder als die, die wir nicht mehr haben – weil sie vergangen, verloren ist.

Was also tun? Schon im „Jungen Mann“, dem vor nunmehr 34 Jahren erschienenen Roman, taucht der Gedanke auf, wir hätten „andere Uhren“ dringend nötig: „Rückkopplungswerke, welche uns befreien von dem alten sturen Vorwärts-Zeiger-Sinn. Wir brauchen Schaltkreise, die zwischen dem Einst und Jetzt geschlossen sind, wir brauchen die lebendige Eintracht von Tag und Traum, von adlergleichem Sachverstand und gefügigem Schlafwandel.“

Das Schreiben und Denken des Dramatikers und Erzählers Botho Strauß ist von genau diesem Drang beseelt: die Verbindung zwischen dem Einst und dem Jetzt nicht abreißen zu lassen, sie in stetig neuem Anlauf zu vergegenwärtigen. Er weiß: Wir Heutigen sind nie nur von heute, sondern immer auch von gestern.

Sein neues Buch, eine faszinierende Komposition aus Mini-Dramen und Traumstücken, aus Aphorismen, Maximen und Reflexionen, heißt „Der Fortführer“. Gegen Ende erklärt Strauß den Titel: „Man ist Fort-Führer – oder es gibt einen gar nicht. Der Dichter führt vorangegangene Dichter fort. Der Dichter führt aber auch Leser fort, entfernt sie aus ihren Umständen, Belangen und Geschäften. Macht ist Vermächtnis.“

Das Vermächtnis: damit ist nicht allein gemeint, was Faust fordert: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, / erwirb es, um es zu besitzen.“ Es ist nicht nur das kulturelle Erbe, das man sich aneignet oder auch nicht. Das Vermächtnis kann eine Last sein, eine verstörende Erinnerung: „Frühmorgens beim Blick in den Spiegel sagte er 'Ach du bist es, Mutter!' Der Übernächtigte verschwand in seiner Ahnin Ähnlichkeit.“

Vermutlich ist das kein Buch für junge Leser, obwohl auch jugendliche Tage von der Gewissheit des Todes überschattet sein können. Vor allem aber im Alter kehren, wenn man die Strecke überblickt, die Bilder des Anfangs wieder: „Derselbe bin ich, den die Mutter am Schulmorgen aus tiefem Schlaf weckte, nun der unruhig Schlafende, der durch sich selbst geweckt wird schon mitten in der Nacht und der zurück in den Schlaf nur findet, indem er denkt: Ich bin doch derselbe noch von Kopf bis Fuß, gekrümmt im Bett, den seine Mutter einst weckte am Schulmorgen … Hörst du den Schlaf rauschen in der Schlucht? Das hast du gelebt, was da rauscht.“

Kinder, wie die Zeit vergeht!, würde Erich Kästner sagen. Bei guter Laune kann man darüber staunen. Doch wenn die Perspektive enger wird, trifft einen das Voraussehbare wie ein Schock: „Espenlaub am ganzen Körper, Blätter dicht um dicht: Immer heftiger ist der späten Tage Zittern im Wind zu spüren. (…) Zu tief erschrocken, als daß einem noch träumte. Zu tief erschrocken, als daß man noch etwas in Ruhe begriffe. Doch auch das sture Stehen und Stehenbleiben wie die Uhr – man harrt im Schneetreiben vieltausendjähriger Reste, man spürt die letzte Bö, den letzten Windstoß der Vertreibung oder menschlicher Vertriebenheit seit Anbeginn.“

Nein, das ist kein durchweg amüsantes Buch. Es handelt von den letzten Dingen, es berührt jeden Leser, der unversehens an sie denkt. Von Gott ist nur mittelbar die Rede. Als Motto ist ein Zitat des mittelalterlichen Theologen Meister Eckhart vorangestellt. In der Übersetzung von Gustav Landauer lautet es: „Nehme ich ein Stück von der Zeit, so ist es weder der Tag heute noch der Tag gestern. Nehme ich aber ein Nu, das begreift alle Zeit in sich.“

Was wir „Jetzt“ nennen, ist der willkürliche Punkt auf einer Geraden, die sich menschlichem Messen verdankt. Das Nu jedoch, vom dem Eckhart spricht, ist der Augenblick der Zeitlosigkeit, die dem Schöpfergott vorbehalten ist. Im glückseligen Moment können wir diesen Augenblick erhaschen. Ein Gedicht von Stefan George beschreibt es. Von einer Bergwanderung ist da die Rede: „Entrückter goldschein machte bäum und häuser / Zum sitz der Seligen … zeitloses nu / Wo landschaft geistig wird und traum zu wesen. / Schauder umfloss uns … nu des grössten glückes.“

Botho Strauß nimmt dieses Gedicht als Beispiel dafür, dass man der „mühsamen Gangart“ des Schreibens „in ein Jenseits allen mitteilsamen Tönens“ entkommen kann – eben in das zeitlose Nu. Es gelingt ihm in diesem erhellenden, erstaunlichen Buch aufs Schönste. Dann liest er die Zeichen der Natur, erkennt im Aufflug eines Vogelschwarms oder im Blätterrauschen eines Baumes heitere Sinnbilder.

Und er zeichnet Skizzen von Geschichten, deren vollständiges Bild sich der Leser ausmalen kann, wie etwa die eines Bräutigams, den die Braut plötzlich verlässt, so dass er mit der geschmückten Kutsche allein losfährt und – recht zufrieden – sich selbst heiratet. Oder die von dem Mann, der nur in einem fahrenden Bett schlafen kann, der in einem aufgelassenen Bergwerk aus den Gleisen einen Rundkurs baut und sich mit einer Lore in den Schlaf fahren lässt. Das wirkt wie die Umkehrung jenes Märchens, wo der Held eine Mutprobe ablegen und in einem rasenden Bett nächtigen muss. Und dann gibt es komische, bizarre Miniszenen: „Ist das Ihr Reisekoffer? – Nicht unbedingt. Eher ein Zimmerkoffer. Ein ausgesprochener Stubenhocker. – Aber er reist mit ihnen? – Ungern. Man muß ihn zur Tür schubsen.“ Oder: „Seine Frau ließ sich gegen Abend so verniedlichen, daß sie in ihrem Schuh übernachten konnte.“

Das Buch erfordert eine Leselangsamkeit und Leseaufmerksamkeit, wie man sie Gedichtbänden entgegenbringt. Es lässt sich nicht in einem Rutsch lesen, es lädt zum Verweilen und Nachdenken ein. Herausfordernd und bahnbrechend ist es dort, wo Botho Strauß den Zeitpfeil umkehrt, wo er das Verhältnis von Ursache und Wirkung in Frage stellt: „Die Anziehung zwischen zweien muß ihrem Dasein vorausgegangen sein.“ Ja, wenn die Liebe eines Himmelsmacht ist, dann ist das so. Auch die folgende Frage irritiert auf schöne Weise: „Auf welchen Werken alter Kunst sind wir, Verletzte von heute, lange vor unserem Erscheinen bereits aufgetaucht? In welchen Szenen großer Meister früh schon vorausgesehen?“

Das Gedankenspiel ist mehr als ein Spiel. Es gründet auf der Beobachtung, dass die Begriffe Gegenwart und Vergangenheit Hilfsmittel sind, die eine tiefere Erkenntnis verhindern: „Weshalb sollte man annehmen, der Transport von kulturellen und geschichtlichen Gütern sei auf dem Strom der Zeit immer nur in einer Richtung, zur Mündung, unterwegs? Vielmehr bewegen wir uns stromaufwärts (schon um niemals zu münden in das flüsseauflösende Meer!). Bereits der Empfang solcher Güter macht uns zu den eifrigsten Konstrukteuren ihrer Herkunft. Wir tragen von der Gegenwart zurück in die vergangenen Vorgänge ihre Bedeutung. Die Späteren machen die Früheren. Ebenso transportiert jede persönliche Erinnerung Gegenwart in die Vergangenheit.“

Die zeitkritische Intervention, die Botho Strauß einen prekären Ruhm eingetragen hat, spielt nur im letzten Kapitel eine Rolle. Dort wendet er sich gegen das flache Kommunikationsdeutsch, gegen die erwünschte Zeitgeistnähe der Literatur und gegen die schlaue Netzintelligenz. Am liebsten möchte er Kulturkritik durch „das rohe Verfluchen“ ersetzen: „Es stellt sich nicht die Frage des Fluchwürdigen, sondern allein die nach des Fluchenden Kraft und Wirkung.“

Prekär ist der Interventionsruhm von Botho Strauß, weil er dadurch zum Randständigen geworden ist. Die mediale Öffentlichkeit benötigt den Außenseiter als Objekt, um ihre korrekte Gesinnung unter Beweis stellen und das Abweichende markieren zu können. Zugleich erspart ihr dieses Reaktionsschema, sich auf die ästhetische und gedankliche Subtilität von Botho Strauß wirklich einzulassen.

Er weiß das, und es ist ihm keineswegs egal: „Unverzagt sprach ich mein Lebtag zu lauter Abgewandten. Man kann aber nicht, ohne sich vor seinem Schicksal lächerlich zu machen, hartnäckig und ohne Widerhall in anderer Leute unwendbaren Rücken reden. Man schweigt also besser. Das Verwerfliche daran ist nur: Man hofft insgeheim, daß gerade dieses Schweigen mehr auffällt als die Worte, die man machte …“

Botho Strauß gibt es nicht auf, weiterhin in „anderer Leute unwendbare Rücken“ zu reden. Das ist ein Glück für alle wagemutigen Leser, die nicht bestätigt sehen müssen, was sie ohnehin denken. Solche Leser gibt es. Sie wissen, dass dieser Schriftsteller wahrhaft ein Solitär ist, der unser mittleres Leben eben deshalb so scharf in den Blick nehmen kann, weil er dessen Teilnehmer kaum noch ist. Wer seine Bücher liest, wird sehen, dass seine prognostischen Fähigkeiten unvergleichlich sind. Er hat nicht mehr so viele Enthusiasten wie ehedem, als er noch in allen Theatern gespielt wurde und in aller Munde war. In geistigen Dingen jedoch kommt es auf die Quantität nicht an.



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