Der folgende Beitrag ist die eine Hälfte einer Pro-und-Contra Debatte über Wilhelm Genazinos Roman "Mittelmäßiges Heimweh". Die Position des Pro vertrat Eberhard Falcke. Die Kontroverse wurde mit der folgenden Inhaltsangabe eingegeleitet:
Mittelmäßiges Heimweh heißt der neue Roman von Wilhelm Genazino (Hanser Verlag, München 2006). Der Ich-Erzähler ist ein 43 Jahre alter Mann, der in einem pharmazeutischen Betrieb tätig ist und im Lauf der Geschichte zum Finanzdirektor aufsteigt. Er besucht an Wochenenden seine ein paar Zugstunden entfernt lebende Frau und die gemeinsame sechsjährige Tochter. Eines Tages eröffnet ihm die Frau, dass sie sich mit einem anderen Mann zusammengetan hat. Der Erzähler ist davon nicht überrascht, weil die Beziehung ohnedies ermattet war, und doch macht ihm die Trennung zu schaffen. Er tröstet sich mit einer zufälligen Frauenbekanntschaft. Am Anfang sitzt der Erzähler in einer Kneipe und schaut der Übertragung eines Fußballspiels zu. »Plötzlich sehe ich unter einem der vorderen Tische ein Ohr von mir liegen. Es muss mir im Gebrüll unbemerkt abgefallen sein.« Später wird der Erzähler noch den rechten kleinen Fußzeh verlieren. Er übersteht all dies mit stoischem Humor. Genazino, geboren 1943 in Mannheim, lebt in Frankfurt am Main.
Ulrich Greiner Lebensphilosophie für Bausparer
Nie werde ich begreifen, was an Wilhelm Genazinos Romanen so großartig und so bedeutend wäre, dass sie höchster literarischer Weihen wert sein sollen. 2004 erhielt er sogar den Büchner-Preis. Weit entfernt davon, ihm die Auszeichnung zu missgönnen, frage ich mich, was Kritiker und Leser von Literatur im idealen Fall erwarten. Die humorvoll nachsichtige Verdopplung jener banalen Alltäglichkeit, die uns mittelmäßig betuchte Bewohner Mitteleuropas umgibt, sie kann doch nicht alles sein. Der hoch entwickelte Sinn fürs Peinliche und Komische, er ist aller Ehren wert, aber doch nicht abendfüllend. Und diese mittelalten Herren in ihren Zweizimmerwohnungen mit gelegentlichem Damenbesuch, sie sind wirklich nicht so interessant, dass wir ihnen buchaus, buchein wiederbegegnen wollten. Wir kennen diese pausenlos sich selbst befragenden Gestalten seit den Abschaffel-Romanen, die Genazino vor dreißig Jahren bekannt gemacht haben und deren gleichnamiger Held sich in nichts von seinen Nachfolgern unterscheidet. Allesamt sind sie Flaneure der unauffälligsten Art, die nicht ohne Sentimentalität ihr ziemlich ereignisloses Leben absolvieren und den Leser mit allerlei Beobachtungen und Weisheiten versorgen, die manchmal klug sind und immer furchtbar harmlos.
Schon in seinem Roman Die Kassiererinnen (1998) sagt der Erzähler von sich: »Es freute mich, inmitten von bedeutungslosen Augenblicken zu leben, die rückstandslos von mir durcheilt wurden.« Solche Genügsamkeit wollen wir ihm weder verübeln noch mit ihm teilen. Schon gar nicht, wenn sie die Erotik betrifft. Genazinos Helden haben eine merkwürdige Vorliebe für die Fellatio, die mit einer Sachlichkeit geschildert wird, an der gemessen das Wort Geschlechtsverkehr geradezu romantisch klingt. Die Frau, mit der sich der Erzähler nach dem Kollaps seiner Ehe einlässt, wird so abstoßend beschrieben, dass man ihn für einen Masochisten halten muss. Bei der ersten Begegnung sagt er sich: »Ich rechne sie zu den Frauen, die zwei große Pickel auf dem Rücken haben.«
Ist das komisch? Genazino wird ja immer für seinen Humor gelobt. Er sei der Dichter des komisch Peinlichen und des peinlich Komischen. Nun ist es leider eine Tatsache, dass nichts die Menschen mehr voneinander trennt als der Lachanlass. Ich weiß nicht, ob das abgefallene Ohr ein solcher Anlass sein soll. Für den Erzähler naturgemäß nicht: »Mühsam mache ich mir klar, dass ich seit ein paar Minuten in einer Tragödie lebe. Während der letzten Jahre habe ich immer mal wieder in Tragödien gelebt. Insofern ist das tragische Lebensgefühl für mich nichts Neues. Aber diesmal scheint es sich um eine bösartige Tragödie zu handeln.«
Diese »bösartige Tragödie« (was wäre denn eine gutartige Tragödie?) scheint allerdings das Leben des Erzählers kaum zu tangieren. Wenig später kehrt er nach Hause zurück und hört mit voyeuristischer Lust Beischlafgeräusche aus der Nachbarwohnung: »Das Stöhnen der Frau geht jetzt in ein eigenartiges Rufen über. Wenn ich der Mann der Frau wäre, würde ich mich fragen, was das Rufen bedeutet. Ich bin nicht der Mann der Frau und frage mich trotzdem, was das Rufen bedeutet.« Ich gestehe, dass ich derlei nicht sehr komisch finde, eher trist. Der folgende Satz allerdings gefällt mir, weil er mein Gefühl beim Lesen gut beschreibt: »Nirgendwo ist das Fallgeräusch leerer Sätze so deutlich hörbar wie in einem Großraumbüro am Nachmittag.«
Nein, Genazinos Witze sind schlecht, und sie wiederholen sich. In einem früheren Roman liest der Erzähler die Zeitungszeile »Der erste Enkel ist da« falsch und versteht: »Der erste Ekel ist da«. In diesem Roman missversteht er die Aufschrift »Vollkornbrot« als »Volkszornbrot« und das Kanzleischild »Vogt & Partner Rechtsanwälte« als »Votze & Partner Fickanwälte«. Da lacht der Laie, und der Kenner kichert sich eins.
Schriftsteller dürfen alles sein, sogar infantil. Nur sollten sie nicht langweilen. Die Bedürftigkeitsprosa Genazinos ist von öder Gleichförmigkeit, seine Erbärmlichkeitsorgien erschöpfen sich rasch. In diesem Buch müssen abfallende Körperteile her, um bizarren Schwung ins Einerlei zu bringen. Die Fähigkeit zu genauer Beobachtung alltäglicher Szenen, der Sinn für Situationskomik und die Neigung, aus dem Beiläufigsten die condition humaine zu deuten – all dies zeichnet Genazino zweifellos aus. Das taugt zu netten Glossen, und in der Tat lesen sich die meisten seiner Romane wie eine fortgesetzte Glosse, die sich um ein bescheidenes Handlungsgerüst rankt.
Einmal besorgt sich der Erzähler ein Vogelbestimmungsbuch und freut sich über sprechende Namen wie Raubwürger, Trauerschnäpper und Gelbspötter. Als er sich über ein verliebtes Paar mokiert, bemerkt er, dass sein Gesicht gelb geworden ist. Später macht er ein Picknick und lässt sich am Waldrand nieder: »Auf die Ausbreitung der Zeitung verzichte ich. Über einen Mann, der hier eine alte Zeitung ausbreitet, würde ich selber lachen müssen, obwohl ich nicht weiß warum. Das Leben ist: seine Ungenauigkeit.«
Das Leben ist: seine Ungenauigkeit. Genazino liebt solche Sentenzen. Man darf nicht allzu scharf über sie nachdenken, sonst erkennt man ihre Dürftigkeit. Was Genazino liefert, ist Lebensphilosophie für Bausparer. Da herrscht das kleine Risiko bei langer Laufzeit, mit dem garantierten Festzins des gesunden Menschenverstands.