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Der folgende Beitrag ist die eine Hälfte einer Pro-und-Contra Debatte über den Roman "Die Fälschung der Welt" von William Gaddis. Die Position des Pro vertrat Andreas Nentwich. Die Kontroverse wurde mit folgender Vorbemerkung eingeleitet:

DAS BUCH: Ein amerikanischer Faust erzählt die Geschichte des abgebrochenen Theologen, verhinderten Künstlers und genialen Fälschers Wyatt, des kriminellen Kunsthändlers Recktall Brown, seines Komplizen und Widerparts Basil Valentine, des unbegabten Schriftstellers Otto sowie einer Reihe weiterer Mitglieder der New Yorker Schickeria. Die Zeit ist etwa die von 1919 bis 1950, der Ort Spanien, Italien, Südamerika und hauptsächlich New York. Thema ist die Suche nach Wahrheit in einer Welt, die Fälschung ist und von der Fälschung lebt. DER AUTOR: William Gaddis, geboren 1922 in Manhattan, gestorben 1998 auf Long Island, war mit diesem ersten, 1955 erschienenen Buch The Recognitions lange ein Geheimtip. Er veröffentlichte 1975 seinen zweiten Roman JR, 1985 Carpenter's Gothic und 1994 A Frolic of His Own - Romane, die erst jüngst auf deutsch erschienen und Furore machten.


Ulrich Greiner

Blendwerk, Bildungshuberei

Jeder literarischen Wertung geht eine andere voraus: Neigung, Geschmack, Sympathie. Solche Vor-Urteile sind nicht bloß unvermeidlich, sie sind legitim, weil sie das begründete Urteil erst ermöglichen. So sage ich also gleich, daß mir der Autor dieses Romans unsympathisch ist (nicht, wohlgmerkt, der Mensch William Gaddis, dem ich nie begegnet bin). Der Autor dieses Romans, Baumeister eines babylonischen Doms, macht den Leser zum Opfer einer gigantischen Bescheidwisserei. Wie der Kritiker der SZ beifällig bemerkte, ist der Roman "gespickt mit Figuren und Zitaten aus Mythologie, Geheimlehren, Kirchenvätern, Dichtern, aus mittelalterlicher und neuerer Theologie und Seelenkunde bis hin zu Carl Gustav Jung". Auch mag es ja sein, "daß dieses so umfang- und inhaltsreiche wie sprachlich dichte Erstlingswerk die ganze abendländische Religionsgeschichte verhandelt", wie die Kritikerin der NZZ begeistert schrieb. Aber ich ziehe es vor, wenn ein Autor manches für sich behält und nicht partout alles, was er zusammengelesen hat, ausbreitet; wenn er nicht alles, was er im Kopf hat, aufs Papier stülpt. Ich halte das für indiskret.

Zwar kann Gaddis nichts dafür, daß gleichzeitig mit seinem 1250 Seiten umfassenden Roman ein 300seitiger Romanführer erschienen ist, aber mißtrauisch macht einen das schon. Lieber lese ich Romane mit unbeschränkter Zulassung, die nur meine Seele wollen und nicht mein Abiturszeugnis auch noch. Natürlich gibt es Leser, die sich gern in die Absonderlichkeiten eines Dunkelmeisters vertiefen, pendelnd zwischen der Encyclopaedia Britannica und dem Lexikon des Aberglaubens. Ich zähle mich nicht dazu.

Wenn ich Gaddis lese, sehe ich den Typus des querulatorischen, verschwörungstheoretisch erregten Autodidakten vor mir, der es einer unwissenden Welt endlich mal richtig zeigen will. Nun lasse ich mich gern auch von einem Roman belehren, wenn er denn nur bescheiden und ergriffen vom Elend der Menschen sein Bestes versucht. Selten habe ich einen Roman gelesen, der so wichtigtuerisch, klugscheißerisch daherkommt. Daß er ohne Poesie ist, mag verzeihlich sein; daß er vollkommen ohne Humor ist, nenne ich unverzeihlich.

Und wofür der Aufwand? Daß die Menschenwelt eine Fälschung ist, daß wir alle ein Opfer unserer Gefallsucht sind und daß kaum etwas und kaum jemand das ist, was er oder es scheint - das hat in gebotener Kürze Robert Gernhardt so gefaßt: "Es gibt kein wahres Leben im valschen." Und auch er war nicht der erste, der das begriff.

Schauen wir auf den Text. Beeindruckend ist der Reichtum der Formen, und natürlich wäre es absurd zu behaupten, Gaddis könne nicht schreiben. Der dritte Teil zum Beispiel (immerhin Seite 950) beginnt in einer südamerikanischen Hafenstadt, wohin der unglückselige Otto mit seinem Falschgeld geflüchtet ist, und er schildert die morbide Szenerie so entspannt und plastisch, als könnte jetzt eine starke Räuberpistole starten. Dann die kunsttheoretischen Diskurse zwischen dem Maler Wyatt und seinem Interpreten Basil - auch hier gibt es Höhepunkte sinistrer, zugleich erhellender Spannung. Und das groteske Partygeschwafel, dessen literarische Kunstform Gaddis später in seinem Roman Letzte Instanz bis zum Exzeß entwickelt hat: Schon hier ist es nicht ohne Reiz und vor allem nicht ohne Wahrheit.

Nur, das geht über Hunderte von Seiten, tödlich erschöpfend. Gaddis kann einfach den Rand nicht halten. Und er vergnügt sich pausenlos an flauen Witzen wie: "Mein Mann ist immer noch in Paris. Schreibt, er hätte gerade einen von diesen entzückenden Renaults gekauft." - "Ach, tatsächlich? Ein Original?" Oder (50 Seiten später, immer noch dieselbe Party): "Also, wenn es auf der Welt irgendeinen Ort gibt, wo ich gerne leben würde, dann Siena. Der einzige Nachteil ist, daß mein Therapeut hier in New York sitzt." - "Klar ist Sappho ein Begriff. War der nicht auch schwul?" Da lacht sogar der Herr Kaplan. Das dummdreiste Gedröhne soll gegen die Gäste sprechen, aber am Ende spricht es gegen den Autor, daß er kein Ende findet, sich daran gütlich zu tun. Die Banalitätsorgie gleicht er dann wieder aus, wenn er an anderer Stelle Fichte und Spinoza, Albertus Magnus und Cicero und Theophrastus und andere abendländische Größen auf wenigen Seiten aufmarschieren läßt. Alles Blendwerk, Bildungshuberei.

Ich lasse mir nicht einreden, Gaddis sei ein sprachmächtiger Erzähler. Nehmen wir die Schilderung der Künstlerszene in einem Pariser Straßenrestaurant (und Gaddis muß, wie der Schüler von der ersten Bank, ungefragt zum besten geben, früher habe Paris Lutetia geheißen). "Über diese wimmelnde Haupttribüne voll junger vielversprechender Talente wachten teilnahmslose Kellner mit jener vereisten Nachsicht, welche jene, die sich darunter vereint sahen, ebendarum bewunderten, ähnlich wie sie Unhöflichkeit als Selbstachtung, Unverschämtheit als innere Würde und die nackte Gier als Broterwerb ansahen; die ebenso geschmacks- wie qualitätsfreie Garderobe der männlichen Gästeschaft wurde zur Lässigkeit schöngeredet, und die weitaus selteneren Posen der Haute Couture von jenseits der Seine galten, je nach Dauer des Aufenthalts, entweder als unnachahmlich oder, schlichter, als schick. Da rissen sie die Augen und Ohren auf, und es schwollen ihnen, deren naive Skrupel noch stärker waren als ihr transatlantischer Akzent, zumindest die Köpfe vom Spektakel einer Kultur mit Weltniveau."

Das ist nicht einmal besonders schlecht formuliert, nein, ein bißchen zu gut. Jedes Substantiv hat sein ganz besonderes Adjektiv, und man merkt das Bemühen, die geläufige Szenerie absolut originell abzubilden. Es kennzeichnet den literarischen Möchtegern, den ehrgeizigen Emporkömmling, daß er die scheinbar kostbare Wendung der einfachen vorzieht. Wenn es darum geht, Glatteis in der Großstadt zu schildern, schreibt er: "Jede Straßenecke bot auf einmal Gelegenheit für Kurzweil aller Art, besonders wenn sich gut gekleidete Herrschaften in jene unvermittelt krasse Schieflage versetzt sahen, die üblicherweise einer Schädelfraktur vorausgeht." Oder: "Den leeren Gesichtern zufolge nahm keiner der Fahrgäste Anstoß am fortgesetzten Bombardement ihrer phantastischen Innenwelten durch die Entfaltung banaler Fliehkräfte." (Es geht hier um eine Fahrt mit der Subway.)

Ich habe mir Dutzende solcher Krämpfe angestrichen. Sie erinnern an das pfauenhafte Gehabe des ewig verhinderten, ewig verkannten zweitklassigen Autors, den jeder Verlag kennt. Am meisten hat mich die Darstellung der Personen enttäuscht. Alle sind sie irgendwie doof oder dämonisch. Wenn es um die Massen in New York geht, dann ist die Rede von Knöpfen, die aus einer Schublade kullern oder von "acht Millionen Falsifikaten". Kein Autor muß die Menschen lieben. Aber er muß seine Figuren so plastisch zeichnen, daß sie uns nahekommen, und nahe kommen sie uns nur, wenn der Autor sie wenigstens ein bißchen liebt. Gaddis aber liebt sie wie ein Konstrukteur, der selbstzufrieden die funktionierende Mechanik seiner Erfindungen betrachtet.

Die Personen und ihre Darsteller sind ja nichts als Sendboten seiner Weltanschauung. Die aber ist keine Anschauung, sondern bloß eine Entlarvungsmanie. Alles will Gaddis durchschauen, enthüllen, sezieren. Aber spannend ist ein Autor doch nur, wenn er sich im Prozeß des Schreibens auf die Spur einer Wahrheit begibt, die er noch nicht kennt. Bei Gaddis hat man immer das Gefühl: Er, der großmächtige Demiurg, weiß alles schon vorher, immer schon hat er einen Plan, der so fein ausgetüftelt ist, daß sich alles mit allem in Beziehung setzt, zum Ruhme seines Schöpfers.

Nehmen wir als letztes Beispiel Mr. Pivner, ein alt gewordener Versicherungsangestellter, dessen öder Alltag in öden Stunden vor dem häuslichen Radio endet. Die satirische Bravour, mit der Gaddis ein von Werbesprüchen und Zeitungsmeldungen verwirrtes Gehirn schildert, ist beeindruckend. Aber vom armen Mr. Pivner bleibt kaum mehr übrig als ein kapitalismus- und medienkritisches Demonstrationsobjekt. Verglichen mit Melvilles grandiosem Bartleby ist dieser Mann eine flache Figur, und den Vergleich müßte man gar nicht ziehen, wenn ihn nicht die Gaddis-Enthusiasten immerzu zögen - als käme Die Fälschung der Welt auch nur entfernt an Moby-Dick heran.

Erbärmlich, so scheint mir, darf ein Roman die Menschen nicht machen, nur erbarmenswürdig. Bei Gaddis sind sie allzuoft erbärmlich. Er ist nicht wirklich an ihnen interessiert. Man sieht sie gar nicht, weil Gaddis nur den triumphalen Blick des Diagnostikers für sie übrig hat. Er leidet nicht mit ihnen, sondern nutzt die Schilderung ihres Leides zur Instrumentierung seines Basso continuo: alles falsch von Anfang an. Das macht auch seine Ironie schal. Sie kommt nicht von innen, aus der empfundenen Dialektik des Daseins, sondern von außen, als literarische Technik.

Bleibt die Frage, was Kritiker an Gaddis fasziniert. Zuerst natürlich der schiere Umfang, die gewaltige Ambition des Werks. Dann seine Schwierigkeit, ja Unverständlichkeit. Schließlich die hochmütige, himmelstürzende Gebärde. Der Deutungsbedarf, den der Roman ausstrahlt, lockt den Kritiker an die Seite des Autors und macht ihn der Aura elitärer Größe teilhaftig. Die Mischung aus Entlarvungsversprechen und Geheimniskrämerei ist die ideale Kombination für den Kritiker. Sie macht ihn zum Teilhaber, in Wahrheit zum dienstfertigen Komplizen einer literarischen Kraftmeierei, sie in der Tat beachtlich ist. Unmusische Leser werden Geschmack daran finden.

Erschienen in der ZEIT am 21.1.1999


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