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Ulrich Greiner

Das Zeitalter der Fische

Der Roman "Spieltrieb" von Juli Zeh

In Ödön von Horváths Roman Jugend ohne Gott (1937) gibt es einen Mörder, den Schüler T, über den ein Mitschüler sagt: „Immer möcht er alles genau wissen, wie es wirklich ist, und er hat mir mal gesagt, er möcht es gern sehen, wie einer stirbt.“ An anderer Stelle unterhält sich der Lehrer (er unterrichtet Geschichte) mit einem Kollegen über diese neue, ihnen fremd gewordene Generation, und der andere bemerkt: „Sie lesen alles. Aber sie lesen nur, um spötteln zu können. Sie leben in einem Paradies der Dummheit, und ihr Ideal ist der Hohn. Es kommen kalte Zeiten, das Zeitalter der Fische.“

Juli Zehs neuer Roman Spieltrieb ist ein Schülerroman, und die beiden Hauptfiguren, Ada und ihr Freund Alev, sind Fische. Mit dem kalten Auge des Verhaltensforschers beobachten sie, wie der von ihnen erpresste Sportlehrer Smutek in der Falle zappelt. Aber während Horváths Figuren befallen sind vom Aussatz des Bösen und der Gottlosigkeit (er schrieb seinen Roman als Menetekel gegen den Nationalsozialismus), sind Ada und Alev über solche moralischen Fragen längst hinaus.

Einmal diskutieren sie mit ihrem Geschichtslehrer. Der schon etwas ältere Mann trägt den Spitznamen Höfi. Anders als Horváths gutgläubiger Pädagoge ist er ein ironischer Pessimist. Er nennt die beiden „furchtbar altmodisch: Nihilisten“. Alev entgegnet: „Schlimmer. Die Nihilisten glaubten immerhin, dass es etwas gebe, an das sie nicht glauben konnten.“ Und Ada sagt von sich selber: „Wahrscheinlich bin ich ohne Glauben auf die Welt gekommen, wie andere Leute ohne Arme oder Augenlicht geboren werden.“

Kurz darauf stürzt sich Höfi vom obersten Stockwerk hinab auf den Schulhof, Ada vor die Füße. „Sie klappte den Mund zu, den sie zum Schreien geöffnet und dann vergessen hatte… Was würdest du empfinden, hatte Alev gefragt, wenn hier vor dir eine Leiche läge? – Ekel und Faszination. Ada empfand nichts dergleichen. Sie fühlte tiefe Verbundenheit, nie zuvor war sie einem Menschen so nahe gewesen.“ Alev kommt hinzu: „Er war blass geworden, hob mehrmals hilflos die Arme und legte sie schließlich um Ada, als ob er sie beruhigen wollte, dabei hielt er sich an ihr fest.“ Später, als sie nach Hause fahren, heißt es: „Es war nicht nötig, ein Wort darüber zu verlieren, dass Alevs Plan nicht nur trotzdem, sondern jetzt erst recht durchgeführt werden würde. Höfi war der einzige Mensch gewesen, den keiner von ihnen hatte verlieren wollen.“

Der Plan: Ada (sie ist 15) überfällt den Sportlehrer im Umkleideraum der Turnhalle, presst sich mit ihrem nackten Leib gegen den seinen, und Smutek kann nicht widerstehen, stürzt mit ihr auf die Matte, während Alev aus dem Hinterhalt die Kopulation der beiden fotografiert. Er versteckt die Bilder auf der Internet-Seite des Privatgymnasiums und schickt dem Lehrer per E-mail das Schlüsselwort. In einer Zeit verschärfter Missbrauchsdebatte ist dies der finale Vorwurf. Jetzt haben sie den Mann in der Hand.

Juli Zehs Buch steht in der Tradition deutscher Schülertragödien, wie wir sie aus Wedekinds Drama Frühlings Erwachen oder Hesses Roman Unterm Rad kennen, aber sie stellt diese Tradition auf den Kopf: Die Bestien sind jetzt die Schüler. Diese Bestien sind nicht böse, sie sind nur, da niemand sie zähmt, von einer wilden, pubertären Kraft erfüllt, gepaart mit einer geradezu sportiven Bedenkenlosigkeit. Sie wollen spielen, das ist alles. Für eine Tragödie langt das nicht.

Es ist erstaunlich, es ist bewundernswert, wie die gerade mal dreißig Jahre alte Schriftstellerin auf sämtlichen Pferden einer durchtrainierten Sprache und eines hochgebildeten Scharfsinns ihre Geschichte über 500 Seiten durchs Ziel jagt, eine Geschichte, wie sie ungemütlicher und irrer nicht sein kann. Für eine Komödie – Dürrenmatt zufolge die schlimmstmögliche Wendung – langt das allemal.

„Ada war ein junges Mädchen und nicht schön.“ So beginnt die Erzählung. Wir erleben hier das Drama des hochbegabten Kindes, das früh erwachsen werden muss, weil die Erwachsenen ewig Kinder bleiben. Die Familienverhältnisse sind gut situiert und zeitgemäß zerrüttet. Die alleinerziehende Mutter, verlassen von ihrem „Brigadegeneral“ (wie der Stiefvater stets genannt wird), sitzt mit verheulter Wimperntusche im Wohnzimmer, während sich Ada in der Toilette einschließt, um ungestört zu rauchen und Balzac zu lesen oder Kant, Nietzsche, Musil. Auf Schulkameraden blickt sie verächtlich hinab, auf die „samt- und seidenweichen Mädchen, deren Geburt durch langsam anschwellende Musik begleitet worden war wie das hochfahrende Windowsbetriebssystem von seiner Begrüßungsouvertüre. Sie kamen als Miniaturprinzessinnen zur Welt, erreichten bereits in der Unterstufe das erste fohlenhafte Stadium der Vollendung und wuchsen gleichmäßig in die Frau hinein, die sie einmal werden sollten.“

In Alev findet die Außenseiterin Ada ihren Gespielen. Als er eines Tages neu in die Klasse kommt und gebeten wird, sich vorzustellen, sagt er: „Alev, hinten mit V wie Vanitas. Alev El Qamar, Halb-Ägypter, Viertel-Franzose, aufgewachsen in Deutschland, Österreich, Irak, den Vereinigten Staaten und Bosnien-Herzegowina, derzeit wohnhaft in einer Godesberger Pension. Achtzehn Jahre, zehn Schulen, kein Rausschmiss, zweimal sitzen geblieben. Hobbys: Nachdenken, Atheismus, leichte Drogen.“ Das ist Adas Mann. Sie liebt ihn nicht, jedenfalls nicht auf schülerhaft pubertäre Weise, zumal Sex mit Alev insofern ein Problem darstellt, als er behauptet, impotent zu sein und es womöglich auch ist. Nein, sie macht sich keine falschen Vorstellungen: „Zu deutlich sah sie, welcher Natur Alevs Interesse an ihr war. Es war das Interesse eines ehrgeizigen Schachspielers an einem gut positionierten Springer. Nicht sein Herzblut hatte sie gekostet, sondern den Geschmack von Kampf und Sieg.“

Nun kann das Spiel um die Macht beginnen. Immer geschickter werfen sie einander die Bälle zu, beherrschen die Diskussionen in der Klasse, setzen die Standards und Wertmaßstäbe und bringen schließlich den Klassenlehrer Smutek in ihre Gewalt. Der ist ein polnischer Immigrant, ein Athlet und Menschenfreund, allergisch gegen Pessimismus und Zynismus und insofern das rechte Opfer für die erpresserische Erziehungsmaßnahme, die Ada und Alev an ihm vollstrecken. Er wird gezwungen, wöchentlich zum festgesetzten Termin den genannten Vorgang auf der Matte zu wiederholen, während Alev fotografiert. Smutek soll lernen, dass Ideale und Gefühle nichts wert sind. Ab einem gewissen Punkt aber folgt das Spiel seinem eigenen Gesetz. Dem wöchentlichen Verkehr folgt unversehens die Zuneigung, vielleicht gar Liebe der beiden Kontrahenten, und eines Tages zieht Smutek seinen Kopf aus der Schlinge und schlägt Alev zusammen.

Wir wollen das kuriose Finale nicht näher ausbreiten, auch nicht die zahlreichen Nebenfiguren und Episoden, weder die ereignisreiche Klassenfahrt noch die groteske Entjungferung Adas und erst recht nicht die aparte juristische Konstruktion, mit der die Strafrichterin den Freispruch Smuteks begründet. Juli Zeh schildert das bunte Personal ihres Romans in einer drastischen und plastischen Sprache, die das Unglaubwürdige glaubwürdig macht. Geschult an Musil treibt sie ein selbstreflexives ironisches Spiel, das in scharfem Tempo und auf hoher Frequenz bis an die Risikogrenze abläuft.

„Ada zog den Blick aus seinem Gesicht wie ein Messer aus einem Stück Butter, legte den Kopf in den Nacken und hielt nach ziehenden Wolken Ausschau. Es gab keine ziehenden Wolken. Der Hochsommer lag im Sterben, der Himmel war blass wie von einer Kreislaufstörung, ein ungesunder Wind rieselte in kleinen Stößen durch das Gebüsch am Straßenrand.“ Solche Sätze, vermutlich nicht jedermanns Geschmack, ragen heraus aus der braven Deutschleistungsprosa, die man in allen Verlagsprogrammen findet.

Wir müssen gar nicht an die Katastrophe von Erfurt denken (was Ada leider an einer Stelle tut) um zu verstehen, dass dies der Roman einer neuen, noch unbegriffenen Generation ist. Sie weiß alles und glaubt an nichts. Verglichen mit ihr war die einst von Schelsky so genannte „skeptische Generation“ geradezu gutgläubig.

Juli Zehs Spieltrieb ist ein Schülerroman, den alle Schüler und Lehrer lesen sollten. Er enthält aber keine Gebrauchsanweisung für Klassenkonferenzen, sondern zeichnet mit Witz und Verstand ein helles Bild unseres dunklen Zeitalters. Wir kennen es ja kaum, weil wir darin leben. Mit Romanen wie diesem lernen wir es besser kennen.

Juli Zeh: Spieltrieb. Roman. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2004



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