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Eckhard Nordhofen

Die Leiber der Heiligen und der heilige Leib

Bizarr und atavistisch erscheint dem forciert zeitgenössischen Zeitgenossen der Reliquienkult. Je weiter die Entfernung ist, aus der der kritische Blick auf die Kultpraxis der christlichen, insbesondere der katholischen Tradition fällt, desto seltsamer und abgründiger erscheint die Vorstellung, von den Knochen verstorbener Christen, von deren Partikeln oder von anderen Souvenirs aus ihrem Leben, könne eine spirituelle, gleichsam magische Kraft ausgehen, deren Zauberwirkung geeignet sei, Krankheiten zu heilen, Viehseuchen zu bannen und anderem Unglück entgegenzuwirken. Inzwischen gibt es ein eigenes literarisches Genre, das sich meist recht unterhaltsam und satirisch dem Panorama von Betrügereien, Diebstählen und Streitigkeiten um die heiligen Knochen widmet .

Seit es Reliquienverehrung gibt, kennt man auch gefälschte Reliquien oder die zuweilen sogar gewerbsmäßige Herstellung von Reliquien zweifelhafter Herkunft. Skelette aus römischen Katakomben, die reichlich zur Verfügung standen, sind kurzerhand zu Überresten von Märtyrern früher Christenverfolgungen erklärt und im 17. und 18. Jahrhundert in vielen Kirchen Süddeutschlands, verziert mit kostbaren oder doch Kostbarkeit vortäuschenden Klosterarbeiten zu Schaustücken im Unterbau barocker Altarmensen gemacht worden. Über den hohlen Augenhöhlen des Totenschädels sitzt eine Flitterkrone, das Skelett ist bekleidet mit prachtvollem Brokat und feinem Seidengespinst. War es das, was die antiklerikalen Aufklärer im „siècle des lumieres“ mit dem Priesterbetrug meinten? Und wären sie zufrieden gewesen, wenn es sich um die echten Gebeine echter Märtyrer gehandelt hätte? Würde es für eine schwache Legitimation der Reliquienverehrung nicht ausreichen - so wendet der Pastoralstratege ein - wenn sie immerhin doch den eindrucksvollen Anlass für eine Betrachtung von Leben und Tod geboten hätten?

Die Inszenierung des Memento mori nutzt die äußersten Pole eines Gegensatzes von Pracht und Verfall, die Sterblichkeit des Menschen, und die Taten der Zeit zusammen mit ihrer Überwindung ins Bewusstsein zu rücken. Ist nicht die Zeit das Kernthema aller Religion, besonders aber der christlichen? Das Knochenhaupt ist schon bekleidet mit der Herrlichkeit des Paradieses…

Natürlich hat gerade der gläubige Christ und ernste Eiferer einen heiligen Zorn auf den Missbrauch und den Betrug, der vor den letzten und heiligen Dingen nicht zurückschreckt. Das vielleicht schönste literarische Denkmal für eine jener Säuberungsaktionen, in denen echte von unechten Reliquien geschieden werden, liefert uns Fürst Giuseppe Tomasi di Lampedusa im Schlusskapitel seines „Leoparden“. Concetta, die neben der Titelfigur wichtigste tragische Heldin des Romans, war in ihren vorgerückten Jahren zu einer eifrigen Sammlerin heiliger Knochen geworden. Ihr Wunsch, möglichst viele von diesen gnadenbringenden Stücken zu besitzen, hatte die Lieferfähigkeit des Reliquienmarktes sprunghaft und auf wundersame Weise erhöht. Erhebliche Mittel waren für den Erwerb geflossen. War es am Ende zwar Betrug, so war es doch ein sizilianisch frommer Betrug und diente dem guten und heiligmäßigen Zweck, die einschlägigen Andachtsübungen zu steigern und ihnen gleichsam ein materielles Substrat zu verschaffen. Tomasi untersucht nicht sehr tief die Motive, die im Kopf der Reliquienfälscher und ihrer Zulieferer vorgegangen sein mochten. Wer die sizilianische Mentalität einigermaßen kennt, muss aber keineswegs davon ausgehen, dass diese notwendig ungläubig oder gottlos waren. Bezeichnenderweise ist es der fremde, aus Norditalien stammende Kardinal und sein humorlos blasser Adlatus, der inquisitorisch und gefühlskalt die stattliche Sammlung einer kirchenamtlichen Prüfung unterwirft und zum größeren Teil der Vernichtung überantwortet. „'Ich bin froh, Ihnen sagen zu können, dass ich fünf Reliquien gefunden habe, die vollkommen echt sind und wert, Gegenstand frommer Verehrung zu sein. Die anderen sind hier', und er weist auf den Korb… ‚Ich vergaß, Ihnen zu sagen, dass die Rahmen geordnet auf dem Tisch der Kapelle liegen; einige sind wirklich schön.'. Er verabschiedete sich: ‚Meine Damen, ich empfehle mich Ihnen.' Aber Caterina verzichtete darauf, ihm die Hand zu küssen. ‚Und was sollen wir mit dem tun, was in dem Korbe ist?' ‚Völlig was Sie wollen, meine Damen; es aufheben oder in den Kehricht werfen; es hat keinen Wert'.“

Norditalien liegt bekanntlich den Klimazonen gefährlich nahe, in denen Skepsis und Protestantismus gedeihen. Einerseits. Andererseits ist die kirchenamtliche Prüfung wiederum eine durchaus römische Angelegenheit. Papst Urban VIII. erließ 1634 ein Breve „Coelestis Hierusalem“, in dem er für die Heiligenverehrung und die Gewinnung von Reliquien einen eigenen Prozess vorschrieb. Der gängigen Fälschungspraxis entspricht die kirchenamtliche Evaluation. Zu einer echten Reliquie gehört deren Beglaubigung, die sogenannte Authentik. Doch nicht nur in Sizilien können keineswegs alle mit Brief und Siegel versehenen Reliquien als echt in dem Sinne gelten, dass sie wirklich sind, was sie zu sein behaupten, nämlich die nachweislich echten Überreste einer nachweislich heiligen Person.

Aber was heißt hier Frömmigkeit? Wenn gelten soll: Dieses Stück Materie ist gleichsam mit spiritueller Energie aufgeladen, und von dieser Energie geht eine Art heilswirksamer Strahlkraft aus, dann sollte dieser feinstoffliche Transfer auf dem Grenzgrat von Geist und Materie einmal näher inspiziert werden. Diese Inspektion hat Karl-Heinz Kohl in seiner Untersuchung über die heiligen Dinge vorgelegt (Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003). Er führt den Fetischismus der westafrikanischen indigenen Kulturen auf den Einfluss katholischer Missionare zurück, die mit ihrem Reliquienkult und ihrer eucharistischen Praxis das Paradigma des Fetischismus überhaupt erst aufgespannt hätten. Man muss diese kühne These nicht teilen, um die Grundfiguration der Übertragung, die Kohl hier herausarbeitet, zu erkennen. In der Ethnologie hat sich dafür die metaphorische Vokabel „Aufladung“ eingespielt. Die elektrische Kraft, wie sie in einer aufgeladenen Batterie, unsichtbar aber doch tatsächlich und empirisch nachweisbar wirkt, bietet sich als Metapher ebenso an, wie der metaphorische Umgang mit Strahlen. Da wirkt etwas auf unsichtbare Weise so, wie man es vom elektrischen Strom messbar und daher empirisch kennt. Wenn aus der Metapher eine keineswegs nur fiktive, sondern real gedachte Handwerkerei mit dem Unsichtbaren wird, ist die Grenze zur Magie überschritten.

In der esoterischen Schmuddelecke religiöser Praktiken ist der Umgang mit wirksamen Strahlen nicht unbekannt. Aus der chthonischen Tiefe kommen Erdstrahlen, gegen die man sich durch Vorsichtsmaßnahmen schützen muss. Wer in südeuropäischen Altstädten durch die Gassen geht, wird immer wieder einmal mit Wasser gefüllte Plastikflaschen finden, die dem Eintritt böser Geister und Kräfte Widerstand leisten sollen. Diese apotropäischen Plastikflaschen stehen in der Tradition der Fratzen und Wasserspeier, die wir an der Außenhaut mittelalterlicher Kirchen und Kathedralen antreffen.

Unübersehbar gibt es, quer durch alle Kulturen, so etwas wie einen Wechselgesang zwischen Innen und Außen, zwischen Subjekt und Natur. Im menschlichen Bewusstsein ist diese Antiphon offenbar angelegt, wir spiegeln uns in der Natur hören „tausend Stimmen aus dem Gesträuch“, wie Goethe in seinem „Mailied“. Das geht hin und her zwischen Wolken und Menschen, die in den Gebilden aus Luft und Wasser Gestalten und Figuren erkennen. Dass in diesen Wechselgesängen Botschaften gehört werden und sich besondere Partnerschaften herausbilden, gehört in der Religionsgeschichte zur Genese von Feen, Nymphen und Gottheiten, in denen sich Geistiges bis hin zur Personalisierung konfiguriert. Die spirituelle Aufladung von Dingen und Sachen gehört in diesen Zusammenhang. Sie bildet gleichsam eine Vorstufe zur Personalisierung. Dass jene Materie, die übrig bleibt, wenn ein Mensch gestorben ist, mit einer speziellen personalen Qualität imprägniert ist, liegt außerordentlich nahe. Es gibt keine Kultur, in der der Leib des toten Menschen nicht jene Aufmerksamkeit erführe, aus der wir schließen können, dass es sich um etwas Besonderes handelt. Selbst die Sorgfalt, mit der der zeitgenössische Agnostiker vorgeht, wenn er seine Asche auf hoher See im Nichts verwehen lässt, ist nicht mit Gleichgültigkeit zu verwechseln. Wo aber Knochen und andere menschliche Überreste übrig bleiben, nimmt die Antiphon zwischen Menschen und Dingen, der allgemeine große Wechselgesang eine besondere Tonart an. Es sind Reliquien, im wörtlichen Sinn das, „was übrig bleibt“ vom Menschen, der einmal eine Einheit von Geist und Materie, von Seele und Leib war.

Natürlich gehen gerade von menschlichen Überresten und Knochen Kräfte aus, die keineswegs nur gut sein müssen. Kaum ein Süditaliener „jenseits von Eboli“ wird an einem Friedhof vorbei gehen, ohne mit den nach unten weisenden Fingern seiner Hand den Toten die Hörner zu zeigen. Es war ein kleines Skandälchen, als der italienische Staatspräsident beim Staatsbesuch in Paris am Grabmal des unbekannten Soldaten sich vor den unberechenbaren Kräften der namenlosen Leiche durch jene blitzschnelle verstohlene Geste schützte. Ein Paparazzo drückte auf den Auslöser, und das Bild in den Gazetten brachte ganz Norditalien zum Schmunzeln.

Die Ethnologie und vergleichende Religionswissenschaft kennt quer durch die Kulturen Praktiken des Totenkults, die genau darauf abzielen, dass die Toten auch wirklich tot und begraben bleiben und nicht als Wiedergänger oder Zombies ihr unheilvolles Wesen treiben. Das Vernichtungswerk des Todes steht unter dem Verdacht, nicht endgültig zu sein. Die aufgeklärte und aufklärende Theologie bekämpft solche abergläubischen Vorstellungen. Ihr Entrüstungspotential ist auch durch die Erkenntnis gespeist, dass solche Formen eines magischen Aberglaubens eine unangenehme Familienähnlichkeit mit dem christlichen Auferstehungsglauben haben.

Wie steht es denn mit der „Auferstehung des Fleisches“, die doch zum wenig verhandelten Kern der christlichen Vorstellung vom verherrlichten Leib der Erlösten gehört? Darüber liest man nicht allzu viel. Aber dieser Glaubensartikel des Credo hält Leib und Seele zusammen. Die Seele, die der Chirurg Virchow bei soundsovielen Sektionen von Leichen behauptet, nicht gefunden zu haben, ist zunächst einmal das Andere des Leibes. In der Rede von der Seele kondensiert sich das Selbstbild des Menschen, dass er mehr ist, als dieses hinfällige und mit tödlicher Sicherheit sterbliche Gerät aus Fleisch und Bein. Seine Arbeit an der Endlichkeit scheint im christlichen Auferstehungsglauben ihr steilstes Ergebnis zu haben. Da gibt es ein Etwas, das überdauert, während der Leib verwest und zum Staub zurückkehrt. An dieses Ende seiner leiblichen Materie wird der Christ an jedem Aschermittwoch erinnert: „Mensch gedenke dass du Staub bist und zum Staub zurückkehrst.“ Staub und Erde - das ist die Materie, aus der Adam gemacht ist. Und doch hat er Anteil am göttlichen Geist. Es ist der Atem Gottes, der nach der Genesis dem irdischen Adam sein Leben gibt.

Der Philosoph Hans Blumenberg lässt die Lebenszeit und die große Weltzeit des Menschen „alle Zeit der Welt“ dramatisch aufeinander prallen. Lebenszeit, das ist die vergleichsweise winzige Spanne des eigenen Lebens „unser Leben währet 70 Jahre, wenn's hoch kommt 80 Jahre“. Die Weltzeit dagegen reicht vom Urknall bis zum Wärmetod der Welt. Sie ist zwischen Alpha und Omega in einen gigantischen Zeitrahmen gespannt. Beide Zeiten, Lebenszeit und Weltzeit, sind im Bewusstsein des Menschen unvermeidliche Größen. Der Körper hat ein Verfallsdatum. Wir kennen es nicht, aber dass es existiert, müssen wir zur Kenntnis nehmen. Dieses Wissen können wir bei allen Anstrengungen, es zu verdrängen, nicht aus unserer Realität verbannen. In demselben Bewusstsein ist das Maß von Alpha und Omega, Ursprung und Ende der Weltzeit, bei aller Unbestimmtheit der genauen Termine, dennoch für den menschlichen Geist ein factum brutum, eine hässliche Tatsache. Hässlich deshalb, weil sie so unendlich und das eigene Leben so endlich ist. Das Wissen um die Inkongruenz von Lebenszeit und Weltzeit macht nach Blumenberg die condition humaine aus. Nun muss er sich entscheiden: Glück oder Unglück. Die Pracht und das Elend der Zeitalter, das große Panorama, wie es der rückwärtige Blick in die Epochen der Geschichte eröffnet, und der prognostische Blick nach vorne in die spekulativ oder datengefütterte Zukunft, das Wissen darum, dass der Weltlauf ungerührt weiter geht, auch wenn ich morgen in die Grube fahre, kann eine, ja die elementare Kränkung des Selbstbewusstseins sein. Wieso kann mein unglücklicher Geist Alpha und Omega, die historische und zukünftige Welt mit ihrem Reichtum und ihrem Elend erfassen, und gleichzeitig trägt mein Leib des Stigma seiner Endlichkeit: In hundert Jahren sind wir alle tot.

Blumenberg führt einen Musterkoffer von Anstrengungen vor, Kompensationen mit denen der Ungläubige, d. h. derjenige, der davon ausgeht, dass mit seinem physischen Tod auch wirklich „alles aus“ ist, Hilfskonstruktionen bastelt. Wie viel Energie geht nicht in das Bestreben, dass die Spur von seinen Erdentagen nicht in Äonen untergeht. Goethe hat im zweiten Teil des Faust die Selbsttäuschungskraft dessen, der „immer strebend sich bemüht“, mit wünschenswerter Deutlichkeit inszeniert: Faust lässt graben. Von den Geräuschen der Spaten glaubt er, dass sie anzeigen, wie ein Deich aufgeworfen und neues Land gewonnen wird, während es in Wahrheit doch die Lemuren sind, die dem Alten sein Grab schaufeln. Faust ist blind, doch seine Fantasie zielt auf die Installation eines ersatzweisen Fortlebens in der Spur seiner Erdentage. Wer wollte nicht schon alles in die Geschichte eingehen?

Das schrecklichste Beispiel dokumentiert Blumenberg mit dem Nachweis, den er aus Sebastian Haffners Analyse der Hitlerschen Tischgespräche gewinnt. Er kann zeigen, dass Hitlers Entschluss, den großen Krieg anzufangen, aus dem Wissen um seine immer knapper werdende Lebenszeit sein Motiv gewinnt. Der holistische Griff nach der Weltherrschaft brauchte den Krieg als Beschleunigungsmaschinerie, um in den vergleichsweise wenigen Jahren, die Hitler im Alter von 56 noch vor sich sah, jenes Wahnziel zu erreichen. Erst als Weltherrscher wäre als der „größte Führer aller Zeiten“ der Weltzeit gegenüber gleichsam koextensional gewesen.

Natürlich sind die kleinen Fluchtversuche aus dem Gefängnis der eigenen Lebenszeit ansonsten keineswegs verbrecherisch, sondern zutiefst menschlich. All die Testamente, die mit dem Blick auf die Zeit, „wenn ich einmal nicht mehr da bin“, abgefasst werden, all die liebevollen Vorsorgen für die eigenen Leute, die Bestellung des eigenen Hauses, die kleinen und großen Denkmäler und Lebenswerke - all das muss keineswegs schon ein Indiz für den Glauben sein, dass mit dem Tod das absolute Ende gekommen ist. Wer an die „Auferstehung des Fleisches“ glaubt, kann durchaus die Sorge für die Zukunft über das eigene Grab hinaus verlängern. Guillaume le Marechal, ein Großer im englischen Königreich des Mittelalters, inszeniert seinen langen Abschied in großem Maßstab. Er kann sich dabei in eingeführten Ritualen und in einer ständisch gegliederte Gesellschaft bewegen, die nach Ordnungen gegliedert und gestaffelt, feierlichen Abschied nimmt, bis am Ende in einer rührenden Szene sich sogar die Ehefrau von ihm trennt. Schließlich zieht er das Ordenskleid eines Mönchs an um zu sterben, von allen irdischen Gütern entblößt. Diese Zelebration schildert in einer anrührenden und aufschlussreichen Schrift Georges Duby der große Mediävist.

Die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland will, wenn denn schon gestorben sein muss, davon möglichst wenig merken. Der Standardwunsch: am liebsten plötzlich. Es ist das Sterben, vor dem sie sich fürchtet, nicht der Tod, an den sie lieber nicht denkt. Das war einmal anders. Jahrhunderte lang hat die Christenheit um eine gute Sterbestunde gebetet. „Jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen“, so heißt es in dem Gebet, das dem Ave Maria antwortet. Wer einmal erlebt hat, wie nüchtern und gelassen ein gläubiger Christ einen langen Abschied nimmt, wie er seiner Frau und seinen Kindern Lebwohl sagt, ihnen Ratschläge gibt, nachdem er die Einzelheiten seines Begräbnisses schon festgelegt hat, kann darin ein großartiges Glaubenszeugnis erkennen. Das Memento mori, jenes „Mitten in dem Leben sind wir vom Tod umfangen“ hatte seinen festen Platz im Alltag der Frömmigkeitsübungen. Hier haben die Reliquien ihren „Sitz im Leben“. Auf barocken Grabmälern erscheinen veritable Sensenmänner mit dem Stundenglas, wird zumindest ein Totenschädel gezeigt. Die weichgespülte Verdrängungspietät unserer Tage lässt derlei Geschmacklosigkeiten lieber weg. Und wir entrüsten uns über den Pomp funebre, wenn wir als Touristen die Kapuzinergruft in Palermo besichtigen, in der die sizilianische Dramaturgie des Todes ausgetrocknete Leichname in kostbaren Kleidern und Ornaten, nach Stand und Würde geordnet, präsentiert: Je prächtiger der Schrecken des Todes, desto herrlicher die Auferstehung. Die prunkvolle Mitra eines Bischof ist leicht verrutscht und die Haare gebleicht, die lederne Haut hängt wie in Bastfetzen nach unten, das Gerippe in vollem Ornat wird in aufrechter Haltung an die Wand geschnallt. Memento mori - man kann es auch übertreiben.

Der Glaube, der sich auf Christus als den ersten der Entschlafenen und Auferstanden beruft, hat sich entschieden, dass seine ganze Existenz nicht von einer Klammer umspannt wird, vor der Hans Blumenbergs Vorzeichen des Unglücks steht. Der Mensch ist nicht geschaffen, um von der Inkongruenz von Lebenszeit und Weltzeit final gekränkt zu werden. Der Tod hat nicht das letzte Wort. Der Christ vertraut vielmehr darauf, dass die Entgrenzung seines Geistes, seine Imagination von Alpha und Omega, und das Versprechen, das sie enthält, ein positives Vorzeichen ist. Diese Vorherbestimmung zum Glück und nicht zum Unglück muss nicht gekoppelt sein mit materialistischen Beweisen der Unsterblichkeit. Solche Beweise von der Materie oder der ihr zugeordneten empirischen Wissenschaft zu fordern, liefe auf einen Kategorienfehler hinaus. Für den biblischen Gottesglauben ist Gott kein Ding in der Welt, sondern ihr Schöpfer. Er ist der Hintergrund und damit die Fülle des Seins. Damit ist alle Materie spirituell aufgeladen. Der Prolog des Johannesevangeliums, das wirk- und wortmächtigste Kondensat des christlichen Glaubens, die Präambel seiner Gründung, ist nicht zufällig eine Verdeutlichung des Schöpfungsliedes von Genesis I. „Im Anfang war das Wort“, so lautet der erste Vers. Diese Formulierung „En arché“ ist identisch mit dem Anfang des ersten Buches der Bibel. „En arché“ hieß es schon in der autorisierten hellenistischen Übersetzung des Buches Genesis, der Septuaginta. Die ganze Intonation des Johannesprologs ist ein Echo auf den Schöpfungsbericht der sieben Tage, in dem es wiederkehrend heißt: „und Gott sprach“ - „und es ward.“ En arché, im Anfang war das Wort das Medium der Schöpfung. Im Johannesprolog läuft aber alles auf den Vers 14 hinaus, jenes berühmte „und das Wort ist Fleisch geworden“: Dies ist der entscheidende Medienwechsel.

Eine Medientheorie der Religionsgeschichte, die noch aussteht, hätte hier ihren Höhepunkt. Sie müsste mit jener besonderen Begabung aller Menschen anfangen, den oben erwähnten Wechselgesang mit der Außenwelt anzustimmen. Diese Antiphon kennt jeder, der die Dinge zu sich sprechen lässt. Ohne sie gäbe es keine Poesie. „Schläft ein Lied in allen Dingen“, formuliert unübertrefflich Joseph von Eichendorff. Natürlich kann diese Spiegelung und Projektion des Menschengeistes und ihr schwächerer Realitätsgehalt, als fiktiv durchschaut werden. Wir selbst sind es doch, die die Sonne lachen, und den Himmel weinen lassen, wenn wir von der Sonne zum Lachen und vom Regen zum Weinen gebracht werden. Diese Neigung zu einem Wechselgesang zwischen Innen und Außen, zwischen Ich und Natur kann gesteigert werden. Wo eine Stimme ist, die zu mir spricht, ist da nicht auch eine Person? In einer gewiss problematischen Imitation des Schöpfergottes erschafft die menschliche Imaginationskraft sich ein Personal, mit dem sie dann Geschäfte machen kann. Eine Wechselwirtschaft von Opfer und Tausch kann in Gang kommen. Die Übergänge und Metamorphosen sind interessant. Narziss wird zur Blume und Daphne zum Lorbeerbaum. In Ovids großem Gedicht und in den anderen Mythen der alten Welt, ist plötzlich „alles voll von Göttern.“ Auch die Götter sind personifizierte Naturkräfte, Verlängerungen menschlicher Bedürfnisse und Wünsche, die zu Personen konfiguriert werden. Und immer hören wir den Einspruch der Aufklärung. Während der Erlkönig nach dem Knaben greift spricht die Stimme des Vaters und der Vernunft: „Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.“

Diese Entzauberung der Natur und die konsequente Entzauberung der selbst gemachten Kultbilder, die aus ihr und menschlichen Bedürfnissen gewonnen sind, ist ein Kernmotiv in der Gründungsphase des biblischen Monotheismus. Was selbst gemacht ist, also den durchschaubaren Bedürfnissen und Wünschen der Menschen und ihrer Fähigkeit entspringt, fiktive Existenzen auszubilden, das kann kein Gott sein. Daher schildert das Buch Exodus in kleinen Schritten den Herstellungsprozess des goldenen Kalbes, ebenso wie der Prophet Jesaja im 44. Kapitel die unterschiedlichen Herstellungstechniken von Götterbildern in allen Details beschreibt, um sie als selbstgemacht zu erweisen und der Lächerlichkeit Preis zu geben. Für eine zukünftige Medientheorie der Religion ist die kritische Verabschiedung des Kultbildes in der biblischen Aufklärung deshalb so wichtig, weil sie die Voraussetzung für den ersten großen Medienwechsel bildet, den sie einleitet. Dieser Wechsel macht die Schrift zum neuen Ort der Gottespräsenz. Im Buch Exodus ist dieses Drama wie ein Kampf beschrieben: Kultbild versus Schrift. Während am Fuß des Berges die in den Götzendienst rückfälligen Kinder Israels das goldene Kalb aus ihren eigenen Schmuckstücken herstellen, empfängt Mose die Schrift, die göttliche Weisung (Tora), die der Finger Gottes in steinerne Tafeln geschrieben hat. Zwar zerschmettert Mose im Zorn diese Kostbarkeit, aber wie ein ikonoklastischer Herkules zermalmt und pulverisiert er überbietend auch das selbst gemachte Bild, und die Israeliten müssen das Kalb in Pulverform sich wieder einverleiben. Mose schüttet den Staub ins Wasser und gibt es den Kindern Israels zu trinken. Diese Inversion der Götzenproduktion ist als eine Art Lehr-Performance zu deuten, mit der Mose klarstellt, woher dieser falsche Gott gekommen ist, nämlich aus den Menschen selbst.

Wenn Gott kein Produkt menschlicher Produktion sein darf, kann er in der Menschenwelt nur dadurch präsent werden, dass er sich selbst offenbart. Er lässt sich auch von einem zornigen Mann Mose nicht an seiner Offenbarung hindern. Er setzt seine neue Art der Präsenz in der Schrift durch. Mose schreibt die Tora ein zweites Mal nach Diktat. Die Schrift bleibt Sieger im Mediendrama. Sie ist zunächst das Königsmedium des Monotheismus, denn sie hat die bemerkenswerte Fähigkeit, etwas im Bewusstsein festzuhalten, das gleichzeitig abwesend ist. Im Gottesnamen, den vier Buchstaben JHWH, dem „Ich bin der ‚Ich bin da'“ zeigt die Schrift was sie kann. Das Tetragramm ruft die Präsenz eines vollständig anderen Gottes auf, der gleichwohl nicht zuhanden ist und sich entzieht, weil er kein Ding in der Welt ist. Aber in einer Medientheorie des Monotheismus muss registriert werden, dass im Judentum und in ähnlicher Weise später im Islam und seinem Koran die Schrift das Leitmedium bleibt. Ihre Überlegenheit gegenüber dem Kultbild steht außer Frage. Ein gut gemachtes und gut inszeniertes Kultbild lädt immer dazu ein, es mit dem zu verwechseln, was es doch nur bedeutet. Während die Buchstaben der Schrift diese Verwechselung ausschießen.

Vielleicht spielt in der Entstehungsgeschichte des Monotheismus sogar der Übergang von der Bilder- zur abstrakten Buchstabenschrift die entscheidende Rolle. Aber bei aller Überlegenheit - dieses Medium hat auch gravierende Nachteile. Dass es steinerne Tafeln sind, auf die der Finger Gottes seine Weisung geschrieben hatte, insinuiert ihre Gültigkeit für alle Zeiten. Diese Petrifizierung des göttlichen Willens scheint unproblematisch, so lange es sich etwa um das 10-Gebot handelt. Die Vorstellung, dass die Menschen für alle Zeiten nicht morden, stehlen und lügen sollen, hat eine durchaus hohe Plausibilität. Nach jüdischer Vorstellung hat Gott aber dem Mose 365 Gebote und Verbote diktiert. Die spätere Ausdifferenzierung der Weisung bis in die Einzelheiten der Lebensform rechnet aber im Grunde nicht mit gesellschaftlichen Veränderungen, die nicht erst das Signum der Moderne sind. Je präziser die Weisung, umso höher das Risiko, dass der göttliche Wille im Gestrüpp der Kontingenzen verfehlt wird. Müssen unter allen Bedingungen ehebrecherische Frauen gesteinigt werden? Was ist mit den Männern? Der jüdische Ausweg, einer endlosen Kommentierung auch der Kommentare der „Tanz des Wortes vor der halb geöffneten und halb geschlossenen Bundeslade des Wortes“ (George Steiner) ist eindrucksvoll und ohne Ende. Welch ein Scharfsinn und welche Intelligenz erfordern unter den jüdischen Schriftgelehrten die jeweilige Interpretation und Anwendung auf die konkrete Lebenssituation!

Rabbi und Rabbuni Jesus geht einen grundsätzlich anderen Weg, indem er die Schrift als Ort der Gottespräsenz entthront. Die berühmte Formel von Joh. 1,14 „Und das Wort ist Fleisch geworden“ bringt den zweiten Medienwechsel auf den Punkt. Der Mensch selbst, zuerst Jesus, ist der Ort der Gottespräsenz, das endgültige Medium. Der Prolog besiegelt diesen Medienwechsel, der im Evangelium, das auf ihn folgt, aber auch in den anderen, den synoptischen Evangelien, vor- und nacherzählt wird. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Praxis und die Lehre Jesu seine Überbietung der Schrift. Einerseits ist Jesus nicht angetreten, seine jüdische Tradition zu zertrümmern. Vom Gesetz und Propheten, so heißt es in der Bergpredigt, soll kein Jota weggenommen werden, aber „wenn eure Gerechtigkeit nicht größer ist, als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, dann werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ (Mt 5,20) Gott wohnt nicht im Text, „Der Buchstabe tötet. Der Geist macht lebendig.“ (2 Kor. 3,6), so wird es später Paulus formulieren.

Im achten Kapitel des Johannesevangeliums findet sich eine deutliche Demonstration des Medienwechsels vom Wort zum Fleisch. Man entdeckt sie freilich nur bei genauem Lesen. Hier geht es tatsächlich um Leben und Tod. Die Schriftgelehrten sind die Agenten eines intellektuell einfachen und daher auch eindeutigen Umgangs mit der Schrift. Sie gehen davon aus, dass der Wille Gottes gleichsam nachgelesen werden kann: „Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen.“ (Joh. 8.5) Gemeint ist die Frau, die sie in Flagranti beim Ehebruch erwischt haben. „Nun was sagst du?“ Das ist die Aufforderung, in einen möglicherweise scharfsinnigen Disput über die richtige Auslegung der Schrift einzutreten, wobei klar ist, dass die Eindeutigkeit des Befehls zur Steinigung keinen wirklichen Spielraum lässt. Jesus verweigert den Disput und inszeniert den Medienwechsel, formal durchaus dem Mose vergleichbar, als Lehr-Performance. Er „bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde.“ Einige Kirchenväter haben darüber spekuliert, was Jesus wohl geschrieben haben könnte. Wenn es auf den Inhalt des Geschriebenen angekommen wäre, dann hätte der Evangelist es uns freilich wissen lassen. So bleibt es dabei, dass Jesus schreibt - es ist übrigens die einzige Stelle im Neuen Testament, die uns Jesus als „Schriftsteller“ vorstellt. Ihre Pointe besteht darin, dass wir den Inhalt nicht erfahren.

Die Reaktionen von Chrisostomus, Origines und dem Kirchenvater Hieronymus, die über den möglichen Inhalt spekulieren, sind nicht völlig abwegig. Der Autor unserer Perikope hat durchaus die Absicht, die Neugier auf eine eigenhändige Schrift des Gottessohnes zu wecken. Er weckt sie aber, um sie gerade nicht zu befriedigen. Diese Vorenthaltung des Inhalts lenkt die Aufmerksamkeit um. Offenbar kommt es nicht darauf an, was er schreibt, sondern dass er schreibt.

Die Aufmerksamkeit der Ausleger hat sich immer auf den wunderbaren Satz konzentriert, mit dem Jesus aus der Zwickmühle entkommt, in die ihn die Schriftgelehrten getrieben hatten: „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“ Dieser Satz hat den schreibenden Jesus überstrahlt. Beinahe wäre die entscheidend wichtige Lehr-Performance Jesu dadurch übersehen worden. Zu ihr gehört, dass Jesus nach diesem gesprochenen Satz sich wiederum bückt und weiter mit dem Finger auf die Erde schreibt. Der schreibende Finger Jesu rahmt den rhetorischen Höhepunkt ein.

Das zentrale Anliegen des Johannesevangeliums ist es, die Göttlichkeit des Menschen Jesus als Mysterium der Offenbarung zu behaupten. Anders gesagt, den Menschensohn, das Menschenfleisch als Ort der Gottespräsenz auszuweisen. Wenn Jesus als das fleischgewordene Wort mit dem Finger auf die Erde schreibt, so werden die aufmerksamen Kenner der hebräischen Bibel, für die Johannes schreibt, sich an den schreibenden Finger Gottes vom Berg Sinai erinnern. Nun schreibt der Finger Gottes ein zweites Mal: Die Lehr-Performance Jesu ist eine überbietende Gegenschrift zu dem, was in der Tora nachgelesen werden kann. Die Überbietung besteht darin, dass der Versuch, den Willen Gottes im Buchstaben anzutreffen, systematisch vereitelt wird.

Die Bestrafung des Ehebruchs hatte die Norm der ehelichen Treue eingeschärft. Jesus denkt nicht daran, diese Norm anzugreifen, denn er belehrt am Ende die Sünderin: „Geh und sündige von jetzt an nicht mehr.“ Er aber demonstriert die Schwäche des Gottesmediums Schrift, das offenbar nicht geeignet ist, in jeder Situation den ursprünglichen Willen Gottes zu transportieren. So wird das Menschenfleisch selbst zum Gottesmedium.

Nun aber entsteht die Frage, die alle nachgeborenen Christen stellen müssen. Wenn der Mensch Jesus gestorben und auferstanden ist, auf welche Weise soll es mit der Gottespräsenz, die er doch verkörperte, weitergehen? Schon unser Johannesprolog überträgt das Inkarnationsgeschehen von Jesus dem ersten, an dem die Gottespräsenz im Fleisch sichtbar geworden ist, auf alle, die ihn aufnehmen wollen: „Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden.“ Allen, die wie Jesus „aus Gott geboren sind“ (Joh 1, 12 f). Die Inkarnation bildet das Grundmodell einer unauflöslichen Verbindung von Geist und Materie. Es steht gegen alle manichäischen, gnostischen oder sonst wie dualistischen Modelle einer Trennung von Geist und Fleisch.

Der Philosoph Platon wurde von einem Platonismus missverstanden, der aus seiner Philosophie eine Zwei-Welten-Theorie machte. In ihr hatten Wahrheit, Schönheit und Güte in den reinen Ideen ihren Ort, während die Materie diese Reinheit nur trüben und kontaminieren konnte. Wortspiele wie „soma - sema“: „Der Körper ist das Grab der Seele“ stehen für die leib- und materiefeindlichen Tendenzen, die auch im Christentum immer wieder aufflackerten, wie das Beispiel der Katharer lehrt, welche die absolute leibfeindliche Sündenlosigkeit buchstäblich gesellschaftsfähig machen wollten. Die Gefahr des frommen Tugendterrors war auch dem Genf des Reformators Calvin nicht fremd. In der Tat unterscheidet alle Christen, die sich gleich Jesus zum Ort Gottes zu machen bestrebt sind, ihre Sündhaftigkeit von Christus. Der Geist mag zwar immer willig gewesen sein, aber das Fleisch war schwach, wie es bei Markus heißt (14,38). So liegt die Gefahr nahe, dass der Tod des Christen als eine Befreiung vom bösen Fleisch gedeutet werden konnte. „Die Seele schwingt sich in die Höh' - der Leib liegt auf dem Kanapee“, so heißt es in einer Volksballade aus dem 18. Jahrhundert. Der Glaubensartikel von der Auferstehung des Fleisches wendet sich gegen solche dualistischen Vorstellungen. Der Mensch als ganzer ist gemeint und nicht nur seine spirituelle Hälfte, der Restbestand eines um den Leib gekürzten Dualismus.

Es liegt auf der Hand, dass in einer Moderne, in der der Himmel nicht eine Lokalität über den Wolken sein kann, der christliche Glaube darauf verzichten muss, sich die Auferstehung des Fleisches als eine irgendwie geartete Restitution seiner Physis imaginativ auszupinseln. Luca Signorelli hat dies in einer Seitenkapelle des Domes zu Orvieto noch auf künstlerisch durchaus eindrucksvolle Weise getan. Da winden sich Knochenmänner und -frauen, aus dem Boden und werden, je höher sie steigen, mit immer mehr Muskelmasse versehen. Die Theologie schon des 20. Jahrhunderts mahnt zur Bescheidenheit. Die Auferstehung des ganzen Menschen kann geglaubt werden, auch ohne die Neugier nach dem Wie und Wo zu befriedigen.

Die Hauptfrage war, wie kann das Christusgeschehen, das die Möglichkeit der Präsenz Gottes im Menschen vorgebildet hat, über die Episode der 33 Lebensjahre Jesu hinaus sich fortsetzen? Er selbst hat am Abend vor seiner Hinrichtung seine jüdische Tradition und den Medienwechsel von der Schrift zum Fleisch durch die Konstitution eines neuen und zugleich alten Mediums installiert. Die Rede ist vom Zeichen des ungesäuerten Brotes und des Weines. Das alte Israel wird wiederum in einer Lehrperformance am Abend vor der Hinrichtung von zwölf ausgewählten Jüngern repräsentiert. Ihre Zahl verbürgt die Kontinuität der zwölf Stämme.

Schon in der normalen Erinnerung, mit der wir uns vergangene Erlebnisse „vergegenwärtigen“, wird, ohne dass wir den empirisch unhintergehbaren Zeitstrahl im Ernst verlassen könnten, eine Realität, die sonst vergangen und vergessen wäre, neu aufgerufen und damit erzeugt. Diese Erinnerung kann dadurch, dass sich die Erinnernden an einen vergangenen Zeitpunkt zurückversetzen, szenisch und schauspielerisch verstärkt werden. Genau dies geschieht in dem Ritual, in dem das jüdische Volk bis heute das für seine Geschichte maßgebliche Ereignis, die Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten, in der Feier des Seder-Abends am Passahfest begeht.

Diese Erinnerungsverstärkung, mit der Israel das Denken außerhalb der Zeitkategorie gleichsam eingeübt hat, wird von Jesus benutzt, um die Möglichkeit seiner dauerhaften Präsenz vorzuführen und zu begründen. Das ungesäuerte Brot und der blutrote Wein, Zeichen, die zur Erinnerung an die Exodus-Ereignisse bei einem „Vorübergang des Herrn“ von den Kindern Israels rituell konsumiert werden, erhalten eine zweite Semantik. Die Zeichen werden von Jesus mit einer neuen Bedeutung aufgeladen, die von der überlieferten Botschaft vom Exodus als dem Aufbruch in die Freiheit Gebrauch macht. Wenn er vom Brot der Befreiung sagt: „Das ist mein Leib“, wird für die Zwölf und über die Evangelien für die Kirche all das aufgerufen, was Jesus gelehrt und durch seine befreiende Praxis vorgezeigt hat.

Über die Jahrhunderte haben die Kinder Israels in der Feier des Pessachmahles das ungesäuerte Brot der Wüstenwanderung dazu benutzt, den Vorübergang des Herrn gegenwärtig zu setzen. Im ungesäuerten Brot des Seder-Abends und im roten Wein, der das Blut des geopferten Lammes repräsentiert, den Zeichen, in denen der schreckliche und gleichermaßen befreiende Vorübergang Gottes in einer passageren Präsenz erlebbar wurde, konnte die befreiende Tat Gottes, welche die Kinder Israels aus dem Sklavenhaus Ägypten führte, sichtbar werden. Das ungesäuerte Brot war das Brot der Befreiung. Nun trägt Jesus sich selbst und seine Präsenz in dieses Brot ein. Das alljährliche Ostermahl des alten Israel übt die Grundfigur ein, die es erlaubt, den zeitlichen Abstand zwischen den historischen Ereignissen in Ägypten und dem Heute des jährlichen Pessach-Mahls auf Null zu stellen und ein großes Präsens auszurufen. Die Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägyptens wird als Befreiung aus dem Käfig der Zeit inszeniert, deren Regiment symbolisch außer Kraft gesetzt wird.

Zwar ist seitdem viel von Ewigkeit die Rede gewesen, aber vorstellen kann sich die Abwesenheit von Zeit niemand, denkbar ist sie durchaus. Die Zeit kann experimentell „weggedacht“ werden. Für den Erkenntnistheoretiker Kant ist die Zeit eine Koordinate der Realität, die alle unsere Vorstellungen muss begleiten können. Sie ist für ihn „a priori“, d.h. „immer schon“. Diese „reine Anschauungsform“ gehört zur Ausstattung unseres Erkenntnisapparats, zu der Brille, durch die wir sehen müssen, wenn wir überhaupt etwas sehen wollen. Kants Philosophie weckt aber ein Bewusstsein von dieser Brille, die wir nicht absetzen können und öffnet damit den Blick dafür, dass es eine Realität gibt, die unabhängig von unserer Erkenntnis existiert. Nur diese Unterscheidung hat es Albert Einstein ermöglicht, auch die physikalische Realität aus dem engen Käfig unserer Vorstellbarkeiten zu befreien. Einfach gesagt: Die Realität ist größer, als das, was wir uns anschaulich vorstellen können. In dieser Hinsicht ist Einsteins Theorie mit dem Johannesprolog vergleichbar.

Wenn Johannes am Anfang seines Prologs vom „Anfang“ spricht, so ist der Anfang von allem gemeint, also auch der Anfang der Zeit. Keine menschliche Vorstellung kann hinter diesen Anfang zurück. Das Schöpfungskonzept der Bibel aber macht Gott als Schöpfer zum Hintergrund aller Realität, auch zum Herrn der Zeit. So ist im eucharistischen ungesäuerten Brot und im Wein, den Zeichen, die in jeder Messe die Abendmahlszene in die Gegenwart rufen, das fleischgewordene Wort Gottes gegenwärtig. Indem sich die christliche Gemeinschaft die eucharistischen Zeichen in der Kommunion einverleibt und den Leib Christi verinnerlicht, setzt sich das Inkarnationsgeschehen fort. Ihr seid der Tempel des heiligen Geistes , so hatte es Paulus im ersten Korintherbrief formuliert. Er propagiert die Präsenz Gottes im Menschenfleisch. Hier erscheint das Urbild einer diesmal nicht selbst gemachten Aufladung des menschlichen Leibes mit spiritueller Energie, eine Reformulierung jener Szene, in der Gott dem Adam seinen Geist einhaucht. In der nüchternen Praxis des christlichen Alltags erwächst aus dieser Energie die Kraft, den Willen Gottes zu tun.

Die Arbeit an der Gottespräsenz im Fleisch muss allerdings mit dessen konstitutioneller Schwäche rechnen. Sie tritt nicht nur in seiner Sterblichkeit final zu Tage, sondern auch in aller Verfehlung des göttlichen Willens, die mit der Gravitation zum Bösen und dem mysterium iniquitatis seine tiefste Wurzel haben mag. So göttlich sind wir Menschen nun auch wieder nicht.

Die Präfation, das große Hochgebet der Osternacht formuliert den ungeheuerlichen Gedanken der felix culpa. Die „glückliche Schuld“ ist freilich keine Verniedlichung des Bösen, sondern dient zur Steigerung des Jubels über die Auferstehung. So wird die Fortsetzung der Inkarnation in der eucharistischen Praxis in ihrer Nähe zur menschlichen Leiblichkeit erkennbar. So wird die Eucharistie, die Präsenz Jesu im ungesäuerten Brot wirksam. Sie wird in der Wandlung der Messe aufgerufen, die der in der apostolischen Sukzession geweihte Priester in figura Christi vollzieht. In diesem Sakrament verschmelzen Zeichen und Bezeichnetes, Geist und Materie. So wird die Eucharistie zum Urbild aller Verbindung von Fleisch und Geist. In dieser eucharistischen Fortschreibung der Inkarnation wird eine Antwort auf die Frage gegeben, wie denn der Auferstandene in seiner Gemeinde weiterlebt und anwesend bleibt. Dieses „Bleiben“ hat vor allem der Evangelist Johannes zu einem Leitmotiv seines Evangeliums gewählt: 6,56 „Wer mein Fleisch ist und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich bleibe in ihm.“ Oder 15,4 „Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch“. Und 15,5 „Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht.“ In der Kommunion, in der der Christ den Leib Christi mit seinem eigenen Leib verbindet, wird dieser Leib geheiligt.

Die konsekrierte Hostie wurde den Gläubigen bis zur Liturgiereform nach dem II. Vatikanischen Konzil mit den Worten gereicht: „Corpus Domini nostri Jesu Christi custodiat animam tuam in vitam aeternam“. „Der Leib unseres Herrn Jesus Christus geleite deine Seele zum ewigen Leben“. Auch wenn diese Formel inzwischen nicht mehr regelmäßig gesprochen wird, so wird doch die Kommunion in der gleichen Weise als Gemeinschaft mit dem ewigen Gott und damit als Eintritt in das ewige Leben gedeutet. So versteht es sich von selbst, dass dieser geheiligte Leib eines jeden Christen auch nach dem Tod in Ehren gehalten wird. Auch wer nicht im Geruch der Heiligkeit stirbt, hat Anspruch auf ein christliches Begräbnis.

Nicht immer wird auf alle Maßnahmen verzichtet, die den Leib vor der völligen Vernichtung bewahren. Beispiele von Einbalsamierungen sind aber eine seltene Ausnahme. In der Regel wird die Verwesung mit Blick auf die erhoffte Auferstehung akzeptiert. Dennoch hat sich im Mittelalter der Brauch herausgebildet, den Totenkult in zwei Phasen zu zerlegen. Dies mag auch den beengten Platzverhältnissen der mittelalterlichen Friedhöfe, die in ummauerten Städten nicht unbegrenzt expandieren konnten, geschuldet sein. Nach der Verwesung der Weichteile wurden die Gebeine ausgegraben und in Beinhäusern wohlgeordnet aufbewahrt. Hier konnten sie in guter Ordnung bis zum jüngsten Tag verbleiben. Das berühmteste Beinhaus im Bistum Limburg ist wohl in Kiedrich im Rheingau zu finden, aber auch die Michaelskapellen in Limburg und Dietkirchen sind gute Beispiele. In Oppenheim am Rhein hat sich nicht nur die Architektur, sondern auch ihr knöcherner Inhalt erhalten. Von hier zur Verehrung der Gebeine jener besonderen Menschen, die durch ihr vorbildliches christliches Leben besondere Verehrung verdienen, ist nur ein kleiner Schritt.

Der Gedanke der Inkarnation konstituiert das Christentum. Die Vorstellung, dass in Jesus, dem ersten der Entschlafenen und Auferstandenen, sich der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs in der Weise offenbart, dass er gleichsam vorführt, wie göttlicher Geist im Menschenfleisch Gestalt annehmen kann, gibt dem Leib, dem „Tempel des heiligen Geistes“, seine einzigartige sakramentale Bedeutung. Ohne ihn ins Zentrum der Betrachtung zu rücken, kann überhaupt nicht verstanden werden, was ein christliches Sakrament ist. Der von göttlichem Geist durchwirkte Leib des Menschen und zwar aller Menschen, die gleich Jesus Kinder Gottes sind, (vgl. Joh 1,12) ist eine Vorstellung, die das noch einmal in äußerster Verdichtung vorgibt, was in Genesis 2,7 gemeint war, wenn dem aus Erde gemachten Adam der göttliche Atem eingehaucht wird. Der Religionsphänomenologe kann diese Theologie als vielleicht stärkste Fassung seiner Aufladungstheorie bezeichnen. In dieser religionswissenschaftlichen Betrachtung ergibt sich kaum die Notwendigkeit, diese spezielle Aufladung der Körperreliquien von allen anderen zu unterscheiden. Aus theologischer und christlicher Sicht ist sie aber außerordentlich wichtig. Wir schlagen daher eine begriffliche Klärung vor, welche die inkarnatorischen Körperreliquien von religiösen Souvenirs unterscheidet.

Diese werden im Allgemeinen auch als Reliquien bezeichnet, daran wird man nichts ändern können, trotzdem ist diese Differenz wichtig. Immerhin unterscheidet Karl-Heinz Kohl im Anschluss an Arnold Angenendt unterschiedliche Kategorien von Reliquien. Da gibt es z. B. die so genannten Berührungsreliquien oder Brandea. Leichname der Heiligen wurden mit einem Tuch in Berührung gebracht und dieses dann als sekundäre Reliquie verehrt. Auch alles, was in der engeren Umgebung eines heiligen Grabs gelegen hatte, wurde von den Pilgern als religiöses Souvenir mit nach Hause genommen. Kohl gibt den Reliquien, die von Jesus Christus selbst abgeleitet werden, einen Spitzenplatz in einer „Hierarchie der Reliquien“ und bezeichnet sie mit Recht als die fragwürdigsten. Nichts wird ausgelassen, was nicht durch die leibliche Auffahrt zum Himmel im Prinzip außer Reichweite geraten war: Das Blut Christi, das er bei seiner Geißelung vergossen hatte, alle hinterlassenen Körperteile, Milchzähne, Haare, Nägel. Im Zentrum der sarkastischen Satire von Peyrefitte steht denn auch der Kult des „Sacrum praeputium“. Religiöse Souvenirs die mit Christi Leidensgeschichte im Zusammenhang stehen, die so genannten „Arma Christi“ spielen im Mittelalter und bis in die neuzeitliche dramatische Vergegenwärtigung der Passion eine wichtige Rolle. Die Dornenkrone, die Nägel, die (heilige) Lanze, die Geißel und die Geißelsäule, der mit Essig getränkte Schwamm, die Tunika Christi, der heilige Rock, der in Trier verehrt wird, das Schweißtuch und das Grabtuch Christi.

Im Jahre 326 unternahm die Kaiserin Helena, die Mutter Konstantins des Großen eine Pilgerfahrt ins heilige Land, deren Hauptzweck die Gewinnung von Souvenirs war. Sie fand das Kreuz Christi und manches andere. Auf diese Expedition werden zahlreiche Kreuzpartikel zurückgeführt. Eine besonders ehrwürdige ist im Diözesanmuseum Limburg, in der so genannten „Staurothek“ aufbewahrt. Diese am byzantinischen Kaiserhof gefertigte Kreuzeslade hat eine komplizierte Vorgeschichte. Die Auffindung des heiligen Kreuzes hat für die christliche Frömmigkeit nach wie vor eine hohe Bedeutung. Ihr ist das Kreuzfest am 14. September gewidmet, das im Bistum Limburg im Mittelpunkt einer ganzen „Kreuzwoche“ steht, die von Bischof Wilhelm Kempf zu Ehren der Staurothek begründet worden ist. Die Botschaft dieses Erinnerungsgesprächs lautet: Das Christentum ist mehr als nur eine Lehre. Es ist eine Bewegung mit einem realen Gründungsgeschehen, dem Christusereignis und das Kreuz hat es wirklich gegeben.

Der im Frankfurter Städel aufbewahrte Kreuzesaltar von Adam Elsheimer feiert eine weitere Episode aus der Geschichte des heiligen Kreuzes und gibt dieser Tradition in Frankfurt noch einmal ein besonderes Gewicht. Die Kreuzeslade, das vielleicht bedeutendste Kunstwerk aus der byzantinischen Hofwerkstatt wird in Limburg in einer Weise aufbewahrt, die der Würde des Objekts angemessen ist. Immer wieder kommt es vor, dass orthodoxe Christen vor dieser besonderen Ikone ihre Andacht verrichten, die mit kostbaren Zellenschmelz-Emailbildern filigran mit Perlen und Cabochon-Edelsteinen verziert ist. Dennoch fällt die Staurothek nach unserer Überlegung nicht in die Kategorie der inkarnatorischen Reliquien. Sie ist das vielleicht kostbarste, aber es ist ein Souvenir. Für eine Religion, in der das Gedenken und das Gedächtnis eine so zentrale Rolle spielt wie in der christlichen, bedeutet das keine Abqualifizierung. Die Staurothek enthält neben der Vertiefung, in die das Holz vom heiligen Kreuz eingelassen ist, kleine Kassetten, die beschriftet sind mit „Die Windeln des Christuskindes“ „Der Schleier der Jungfrau Maria“ etc. Souvenirs, Souvenirs…

In der Reliquie wird etwas denkbar Unscheinbares - ein Knochen, ein Überrest – so prachtvoll wie nur möglich inszeniert. Auch die Hostie ist im Vergleich zu dem goldenen Strahlenkranz und dem prunkendem Schmuck der Edelsteine, etwas Unscheinbares. Eine weiße Scheibe, eine Oblate, die in der Regel bildlos ist, macht für sich genommen nichts her. Die Dialektik zwischen diesem weißen Nichts und der Fülle des Seins, das es für die Augen des Geistes repräsentiert, könnte größer nicht sein. In der Mediengeschichte des Monotheismus sind die Zeichen der Vorenthaltung des bewussten Entzugs mit aufgehoben.

Anders als die Ikone, die für die Ostkirche die Präsenz Christi quasi-sakramental im Bild sucht, ist die Präsenz des inkarnierten Logos in der Eucharistiefrömmigkeit des Westens weitaus abstrakter. Wir werden darauf aufmerksam, dass es nur die lateinische Kirche war, die als Konsequenz des Konzils von Frankfurt 794 diese Form der eucharistischen Präsenz herausgebildet hat. Die Etablierung des Fronleichnamsfestes (Fron-Leichnam = Herrenleib) gibt es in der Orthodoxie nicht. Das in der orthodoxen Messe gewandelte eucharistische Brot wird vollständig verzehrt und entfaltet keine dauerhafte Präsenz. Die Kirchenräume des Ostens sind durch Ikonostasen und Bilder geheiligt, nicht durch die Gegenwart des Sakraments, wie sie in den katholischen Kirchen durch Sakramentshäuser und Tabernakel, gegeben ist und durch das „Ewige Licht“, der roten Ampel, angezeigt wird. Vor diesen Aufbewahrungsorten des geheiligten Brotes beugen die Gläubigen die Knie. Während in den Konzilien von Nicaea 786 und Frankfurt 794 um die sorgfältige Unterscheidung von Latreia und Proskynesis gestritten wird, um die Frage, ob die Bilder nur verehrt oder angebetet werden, ist die Präsenz Christi in der gewandelten Hostie unmissverständlich ein Gegenstand der Anbetung. Eigene Andachtsformen wurden entwickelt, für welche die Monstranzen benötigt wurden. In vielen Gemeinden gibt es nach wie vor die Tradition des „Ewigen Gebets“. An diesem Tag wird das konsekrierte Brot in der Monstranz auf dem Altar ausgesetzt. Was sonst im Tabernakel verborgen ist, wird gezeigt.

Was aber sieht der Gläubige? Er sieht die Unsichtbarkeit Gottes, dessen Gegenwart gleichwohl ausgerufen wird. Somit wird die Verborgenheit des göttlichen Mysteriums im Wechsel von Zeigen und Verhüllen deutlich. Der barocke Typus eines Drehtabernakels schafft die Möglichkeit, die verschiedenen Formen der Präsenz dramatisch vorzuführen. Während der eucharistischen Andacht verschwindet das kleine Kruzifix, das in der Altarnische für gewöhnlich zu sehen ist. Zum Vorschein kommt dann die strahlende Monstranz mit der weißen Hostie im Mittelpunkt.

„Wahrheit tief verborgen, betend nah ich dir“, so beginnt der einschlägige Hymnus des heiligen Thomas, den er der Eucharistie gewidmet hat. In der Enthüllung des Verborgenen, tritt uns die singuläre Semantik des biblischen Gottes in einer performativen Gestalt entgegen. Gott offenbart sich, indem er sich entzieht. Die Monstranz, die das konsekrierte Brot, den Leib Christi zeigt, entspricht dem Gottesnamen, dem „Ich bin der ich bin da“, wie ihn die Stimme aus dem brennenden Dornbusch offenbart hat. So wie dieser Name das pure X der Anwesenheit zum Ausdruck bringt, ohne etwas darüber hinaus Bestimmtes zu benennen, so ist das, was durch die Monstranz gezeigt wird, etwas zutiefst Unsichtbares. Dass diese Form der Präsenz ihre inkarnatorische Performanz gewinnt, wenn das Brot in der Kommunion auch gegessen wird, hängt mit dem Kerngedanken der Inkarnation zusammen. Das eigentliche Gottesmedium ist der Mensch. Dieses Konzept lässt die Vorstellung von einer Präsenz Gottes in Buchstaben hinter sich.

Zu einer Mediengeschichte des Monotheismus gehört auch das Thema einer Gottespräsenz im Wort und in der Schrift. Auf den Quelltext des Inkarnationsglaubens, Joh. 1-14, ist schon mehrfach hingewiesen worden: „Das Wort ist Fleisch geworden“. Dieser große Medienwechsel bedeutet auch einen Abschied von der Hoffnung, den Willen Gottes durch scharfsinnige und fleißige Interpretation der Tora zu ermitteln. Auf H. A. Wolfson geht wohl die Parallelbildung zum Begriff der Inkarnation zurück, die er gefunden hat, um die Qualität des Koran herauszustellen. „Inlibration“, oder „Illibration“. Der Glaube an eine Gottespräsenz in einem besonderen Text, der sich dem direkten Diktat Gottes bzw. des Erzengels Gabriel verdankt, ist in ähnlicher Form die Praxis des orthodoxen Judentums bis heute. Es gibt also zwei bedeutende monotheistische Traditionen, die den Medienwechsel von einer Gottespräsenz im Buchstaben zu einer Gottespräsenz im Menschen nicht mitvollzogen haben.

In der Tat ist der Glaube an eine göttlichen Schrift, die gleichsam zum Ort Gottes wird, dem Glauben an die Inkarnation verwandt, auch wenn es viele gewichtige Unterschiede gibt. Die Vorstellung davon, was überhaupt Offenbarung ist, ändert sich, wenn von Gott, dem Schöpfer des Seins, eine unmittelbare Anweisung, wie zu leben und zu handeln sei, erwartet wird. Die 365 Einzelgebote im alten Israel werden vom orthodoxen Judentum aus purer Frömmigkeit befolgt, nicht weil sie nützlich oder nachvollziehbar wären, dennoch ist das Pensum der Anpassung an die Bedürfnisse der sich wandelnden Lebensverhältnisse immer gewaltig.

Auch wenn die Tora interpretiert wurde, auch wenn es eine mündliche Tora und eine Mischna gibt, die versuchten, die Lebensförmigkeit der göttlichen Weisung herzustellen, ist der Grundgedanke immer derselbe: Die Anwesenheit Gottes im Buchstaben. Der Inlibrationsglaube des Islam schreibt im Koran eine Lebensform des 7. Jahrhunderts auf der arabischen Halbinsel fest. Auch hier gibt es über die Jahrhunderte hin viele gelehrte Versuche, den zeitbedingten Text Jahrhundert lebensförmig und auf des jeweilige Heute anwendbar zu machen. Die Differenz zwischen einem präexistenten „ungeschaffenen“ und dem realen Koran ist der vielleicht intelligenteste Ausweg aus der Fixierung. Die islamische Welt tut sich aber dennoch sehr schwer damit, den heiligen und daher unantastbaren Text in derselben Weise zu historisieren und in eine Religionsgeschichte einzuordnen, wie es im Christentum geschehen ist. Auch in den respektablen Bemühungen der so genannten „Schule von Ankara“, die immerhin die Hermeneutik von Hans Gadamer rezipiert hat steht die prinzipielle Heiligkeit und Göttlichkeit des Textes wie ein Vorzeichen vor der Klammer .

Bischof Franz Kamphaus hat die historisch-kritische Exegese als das Säurebad bezeichnet, welches das Wesen des Christentums in essenzieller und gereinigter Form zum Vorschein brachte. Diese Modernisierungsleistung ist für Christen vor allem deshalb möglich, weil der Bibeltext nicht dieselbe Qualität besitzt, wie in den anderen monotheistischen Religionen. Zwar ist die Urkunde der vier Evangelien, der Apostelgeschichte, der Briefe und der Apokalypse nach Abschluss der Kanonbildung in den ersten Jahrhunderten immer auch als ehrwürdiger Text betrachtet worden, aber die Heiligkeit des Textes ist eine sekundäre. Es ist nicht der Text, der ursprünglich heilig ist, sondern der, von dem er berichtet, nämlich Jesus, der inkarnierte Logos. In diesem Sinne wird auch weiterhin sinnvoll von der Heiligen Schrift die Rede sein. Freilich findet sich vor allem in evangelikalen, fundamentalistischen Kreisen ein Textverständnis, das dem der orthodoxen Juden und Muslime nahekommt.

So ist die Inkarnation eine zentrale Voraussetzung für die Modernisierungsfähigkeit des Christentums. Der Christ, der im Vater Unser betet: „Dein Wille geschehe“, versucht in der Nachfolge Christi jeden Tag neu zu ermitteln, was im einzelnen Gottes Wille sei. Er kommt kaum auf die Idee, ihn nachlesen zu wollen. Die Person Jesu, seine Geschichten und Lehren, vor allem aber sein Beispiel reizen ihn an, gleich ihm Gottes Nähe zu suchen und daraus die Alltagspraxis zu entwickeln. Die Kontingenz eines Lebens vor 2000 Jahren im alten Orient ist durchaus übersetzbar in den Alltag der Moderne.

 

 

 


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