Home - Christenheit - Über den Begriff der Sünde


 

Ulrich Greiner

Überall Schuld, nirgends ein Gott

Was der Begriff „Sünde“ im Ernstfall bedeutet und was er uns lehren kann

Nichts liegt uns ferner als die Sünde, nichts liegt uns näher. Auch wer sich glücklich schätzen darf, nicht zum Opfer eines Verbrechens geworden zu sein, auch wer sich sicher sein darf, keines begangen zu haben, der kann doch, wenn er die Augen nicht verschließt, das Ausmaß alltäglicher Untat leicht ermessen. Er ahnt, dass die Zahl der von Menschenhand Gemordeten allemal die Zahl derer übertrifft, die durch Naturkatastrophen oder Unglücksfälle umgekommenen sind. Und er sieht: Je mehr sich die Menschen durch die Mittel von Wissenschaft und Technik gegen das Unheil zu wappnen verstehen, umso mehr nutzen sie dieselben Mittel, um einander umzubringen. Der Urmensch schleuderte seinen Stein gegen das wilde Tier oder den feindlichen Nachbarn. Der moderne Mensch, den Tiere kaum noch bedrohen, nutzt die Feuerwaffe, um Schulklassen niederzumähen oder ganze Völker auszurotten.

Der Begriff der Sünde aber ist uns abhanden gekommen. Die Fortschrittsverheißung der Moderne bestand nicht allein darin, allen Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen, sondern sie auch von der Sünde zu befreien, von der Tyrannei eines neidischen Gottes und seiner Priesterschaft, deren einziges Ziel darin zu bestehen schien, den Gläubigen, die ihr bisschen Leben nur ein bisschen genießen wollten, ein schlechtes Gewissen zu machen.

„Der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“, wie Kant die Aufklärung verstand, sollte ein selbstbestimmtes Handeln unter dem Vorzeichen der Vernunft begründen. Diesem Gedanken hatte schon die amerikanische Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 Ausdruck gegeben und ihn mit einer Glücksverheißung verbunden: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit.“ (So die Übersetzung aus demselben Jahr.)

Der Schöpfergott, vom dem hier noch die Rede war, wich allmählich der Vorstellung, die Menschen könnten ihr Los durch eigene Kraft verändern, es begann die Zeit der Reformen und Revolutionen. Aber gleichgültig, für wie erfolgreich man sie hält, die Hoffnung, der Mensch könne zugleich sich selbst verändern und die dunklen Mächte, die in ihm toben, bändigen, hat getrogen. Rousseau hatte noch geglaubt, der Mensch in seinem Naturzustand sei gut, nur die verderbliche Ordnung der Gesellschaft führe ihn zum Bösen. Kant, der skeptischer war, sprach vom „krummen Holz“. In der neuen Zeit aber schien der Begriff der Sünde, der ohne den Glauben an einen Gott keinen Grund hat, reserviert für eine unaufgeklärte Minderheit, die umso kleiner werden müsste, je weiter Fortschritt und Bildung um sich griffen.

Die moderne Ethik liefert uns viele Vorschläge für den Umgang mit dem, was früher der Teufel hieß oder das Böse. Sie unterscheidet zwischen richtig und falsch oder zwischen nützlich und schädlich, und man kann damit ziemlich weit kommen. Der gesamte Rechtsstaat beruht darauf. Aber es bleibt ein unerklärter Rest, der uns in dem Phänomen der sinnlosen, scheinbar grundlosen Gewalt begegnet. Dass sie zugenommen hat, wird man nicht behaupten können, aber sie scheint uns näherzurücken, sie ist uns unheimlich geworden. Vielleicht liegt es an der bis heute nachwirkenden traumatischen Erfahrung der großen Ideologien und ihrer Massenschlächtereien; vielleicht am Fluch des Informationszeitalters, das uns mit jeder Gewalttat in jedem Winkel der Erde nachrichtlich versorgt. Der Glaube an die Machbarkeit jedenfalls hat abgenommen, und die Hoffnung, im irdischen Dasein lasse sich das „Streben nach Glückseligkeit“ materialisieren, ebenfalls.

Anders lässt es sich nicht erlären, dass immer häufiger wieder von „Sünde“ die Rede ist. Das Wort hat jenen seltsamen Doppelklang behalten, dem Thomas Mann einmal Ausdruck gegeben hat, als er sich bei Gerhart Hauptmann dafür entschuldigte, ihn in seinem Zauberberg verspottet zu haben. Er habe, schrieb er in einem Brief, „gesündigt. Ich sage ,gesündigt‘, weil das Wort eine doppelte Dynamik hat: es ist stark und schwer, wie es sich gebührt, und doch auch wieder, in gewissem Gebrauchsfall, ein halb gutmütiges, vertrauliches und versuchsweise humoristisches Wort.“

Wenn jemand erzählt, gestern abend habe er gesündigt, so will er meist damit sagen, er habe zu viel getrunken oder gegessen. Da hätten wir die „gutmütige, humoristische“ Seite des Wortgebrauchs. Wo aber ist die „starke, schwere“ Bedeutung? Im Wort Todsünde scheint sie aufbewahrt. Es war der Mönch Evagrius Ponticus, der Ende des 4. Jahrhunderts acht „Dämonen" benannte: gula, die Völlerei; luxuria, die Unkeuschheit; avaritia, die Habgier; ira, der Zorn; tristitia, der Trübsinn; acedia, die Trägheit; gloria, die Ruhmsucht; superbia, der Hochmut. Papst Gregor (um 600) modifizierte diesen Katalog und reduzierte ihn auf die sieben Todsünden. Seltsam daran ist, dass hier zunächst nicht Taten verworfen werden, sondern Haltungen. Eine Nützlichkeitsethik würde nichts daran auszusetzen haben, wenn jemand dem Sex oder dem guten Essen übermäßig frönt, so lange er niemand anderem schadet. Und Eigenschaften wie Habgier, Zorn oder Hochmut könnten, recht verstanden, zu Tugenden erklärt werden. Im modernen Kapitalismus sind sie das auch.

Unser Denken und Handeln ist zumeist polar ausgerichtet: das Ich und die anderen. Sträflich ist, wer einer anderen Person oder vielen anderen Unrecht zufügt. Mein Allerpersönlichstes jedoch geht niemanden etwas an. Man kann allerdings diese weltliche Ethik so verfeinern, dass man sagt, angesichts der wachsenden Interdependenz gibt es letztlich fast nichts, was nur mich allein betrifft. Wer sich selber Schaden zufügt, schadet der Allgemeinheit. Auf diesem Weg sind wir weit fortgeschritten und inzwischen strenger, als die Kirche je war. Wer übergewichtig ist (früher hätte man ihn „stattlich“ genannt), schadet seiner Gesundheit und damit dem Solidarpakt der Beitragszahler.

Aber selbst wer geneigt sein sollte, eine ungesunde Lebensweise zu sanktionieren oder gar zu pönalisieren, würde sie doch niemals eine Sünde nennen. Der Begriff nämlich unterstellt ein Dreiecksverhältnis: das Ich, die anderen – und etwas Drittes. Dieses Dritte übersteigt die Welt des Diesseits und des bloß Materiellen, und es kann viele Namen tragen: das Reich der Ideen (wie bei Platon), das Reich der Vernunft (wie bei Kant) oder das Reich Gottes (wie in den monotheistischen Religionen). Im christlichen Verständnis ist die Todsünde eine schwere Beschädigung des Verhältnisses zu Gott und damit eine Selbstschädigung. Sie kann geheilt werden durch Reue und Buße. Entscheidend ist in jedem Fall, dass die Frage des Sollens und des richtigen Handelns nur beanwortet werden kann, indem auf etwas Absolutes, nicht Hintergehbares Bezug genommen wird.

Brauchen wir das? Nicht jeder braucht es, und die Gesellschaft als Ganze kann im Normalfall vermutlich davon absehen. Wenn es aber ernst wird, wenn es um die letzten oder die ersten Dinge geht, um Sterbehilfe oder den Umgang mit Embryonen, dann zeigt sich, dass die Frage nach dem Guten unumgänglich wird, die Frage nach der Wahrheit. Derlei einer Ethikkommission zu überlassen, ist praktisch, aber es kann passieren, dass man plötzlich selber damit konfrontiert wird und auf einmal blöde dasteht, allein mit sich und seinem Gewissen. Insofern ist die Frage nach der Sünde nicht bloß ein exotisches Theologikum. Sie dient, unabhängig davon, wie man sie beantwortet, der Schärfung des Blicks, der Klärung eines existenziellen Problems.

Der Evangelist Johannes berichtet (18,37), Jesus habe beim Verhör durch Pontius Pilatus gesagt: „Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme.“ Pilatus: „Was ist Wahrheit?“ Das nun ist die Frage aller Fragen, und Pilatus war wahrlich nicht er erste, der sie gestellt hat. Für Platon (dessen Philosophie das Christentum wesentlich geprägt hat) war sie zentral, und er beantwortet sie in der Gestalt seines Sokrates, der über die Frage nachdenkt, ob man die Wahrheit lehren kann. Sören Kierkegaard hat das Problem wie folgt beschrieben:

„Sofern nun die Wahrheit gelehrt werden soll, muss vorausgesetzt werden, dass sie nicht da ist; indem sie also gelehrt werden soll, wird sie gesucht. Hier begegnen wir nun der Schwierigkeit, auf die Sokrates aufmerksam macht: dass ein Mensch unmöglich suchen kann, was er weiß, und ebenso unmöglich suchen kann, was er nicht weiß; denn was er weiß, kann er nicht suchen, da er es ja weiß, und was er nicht weiß, kann er nicht suchen, da er ja auch nicht weiß, was er suchen woll. Die Schwierigkeit wird von Sokrates durch den Gedanken aufgelöst, dass alles Lernen und Suchen Erinnerung sei, so dass der Unwissende nur eines Hinweises bedürfe, um durch sich selbst sich auf das zu besinnen, was er weiß. Die Wahrheit wird also nicht in ihn hineingebracht, sie war in ihm.“ Für Platon ist dies ein Beweis für die Präexistenz der Seele. Kierkegaard nun wendet den Gedanken ins Christliche und sagt: „Der Lehrer ist Gott selbst, welcher, als Veranlassung wirkend, veranlasst, dass dem Lernenden zu Bewusstsein kommt, er sei die Unwahrheit, und zwar durch eigene Schuld. Dieser Zustand aber, dass er die Unwahrheit ist, und zwar durch eigene Schuld, wie können wir ihn nennen? Wir wollen ihn Sünde nennen.“

Weshalb kommt Kierkegaard, Platon verlassend und übersteigend, zu der Behauptung, der Mensch lebe in der Unwahrheit durch eigene Schuld? Wir begegnen hier dem schwierigsten und weithin unverständlich gewordenen Teil der Sündenlehre, der Erbsünde. Sie geht zurück auf die Geschichte vom Sündenfall. Die Genesis erzählt von Adam und Eva im Garten Eden. Dort steht der „Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen“, dessen Früchte Gott den Menschen verboten hat. Adam und Eva essen davon. „Da wurden ihrer beiden Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren.“

In seinem Buch über das Böse (1997) spricht Rüdiger Safranski vom „Abenteuer der Freiheit.“ Indem Gott ein Verbot in die Welt setzt, schafft er zugleich die Möglichkeit der Übertretung. Da Gott den Menschen als frei geschaffen hat, ist er auch frei, sich zwischen Gut und Böse zu entscheiden. Safranski versteht diese Erzählung so, als wäre dem Menschen gar nichts anderes übrig geblieben, als vom Baum zu essen. Der Philosoph Robert Spaemann hingegen sagt, es sei ein irriger Gedanke, dass der Mensch nur durch die Übertretung des Gebotes sich als Freiheitswesen erfahre. „Die Befolgung des Gebotes erst wäre im eigentlichen und vollen Sinne ein Akt sich vollendender Freiheit gewesen.“

Der Gedanke ist triftig, aber er führt zu der unbeantwortbaren Frage, was gewesen wäre, wenn Adam und Eva das Gebot beachtet hätten. Jedenfalls gäbe es die Geschichte nicht, wie wir sie kennen, die Geschichte der Freiheit und der immer von neuem sich wiederholenden Entscheidung für das Böse. Nach der Vertreibung aus dem Paradies nämlich geschieht der Gründungsmord des Menschengeschlechts: Kain erschlägt seinen Bruder Abel.

Es ist ein Missverständis, die Genesis als getreulichen Bericht eines historischen Ablaufs zu verstehen. Man muss sie in beiden Richtungen lesen: im einen Sinn als Erzählung vom allerersten Anfang bis zur Entstehung der Menschheit, und im gegenläufigen Sinn als den Versuch, die Entstehung der Gewalt zu erklären. Die Gewalt geht zurück auf die Möglichkeit, zwischen Gut und Böse zu wählen. Diese Wahl kann nur treffen, wer frei ist. Frei ist aber nur ein Wesen, das zwischen sich selber und der Welt unterscheiden kann. Unterscheiden kann es nur, wenn es sich mit den Augen eines anderen zu sehen vermag. Genau das ist die „Erkenntnis“, und deshalb bemerken Adam und Eva ihre Nacktheit. Davor aber muss es die Unschuld gegeben haben. Die Unschuld nun ist nur als das Nichtgespaltene, Ungeteilte denkbar. Das Ungeteilte ist der erste Mensch. Den gibt es, weil Gott ihn schuf, indem er sich selber teilte, in Gott und die Welt. Warum hat er das gemacht? Auf diese letzte Kinderfrage, Menschheitsfrage kann der biblische Text nicht mehr antworten, weil sie im Wortsinne abstrakt ist und zu nichts führt.

Denn wir sind ja da, und mit uns ist die Gewalt da. Die Gründungsmythen vieler Kulturen und ihre Kosmogonien sind von nichts anderem geprägt als von der Unfassbarkeit des Bösen. Was uns die antike Mythologie über die Entstehung der Welt und den Kampf der Götter berichtet, ist eine Orgie aus Mord und Inzest. Der Anthroploge René Girard empfiehlt uns, diese Erzählungen nicht als Ausgeburt schwarzer Fantasien zu lesen, sondern als den Versuch, tatsächlichen Vorgängen einen Sinn abzugewinnen, indem man sie erzählbar macht. Aber damit sind sie noch nicht erklärt. Die Genesis erklärt sie als Rebellion gegen Gott.

Das ist die Ursünde. Sie ist nicht revidierbar. Kierkegaard zitiert in diesem Zusammenhang Aristoteles: „Der Lasterhafte und der Tugendhafte haben zwar ihr sittliches Verhalten nicht in ihrer Gewalt, aber es stand zuerst in ihrer Gewalt, das eine oder das andere zu werden; ebenso hat der, welcher einen Stein wirft, ihn in seiner Gewalt, bevor er wirft, nicht mehr, wenn er geworfen hat.“4 Für Kierkegaard entsteht daraus die Spannung zwischen dem verlorenen Paradies (er nennt es „ewige Seligkeit“) und einer unaufhebbaren Schuld: „Das Schuldbewusstsein ist der entscheidende Ausdruck für das existenzielle Pathos gegenüber einer ewigen Seligkeit.“ Robert Spaemann modifiziert und mildert die These einer ewigen Schuld, indem er sagt: „Die Schuldverstrickung besteht nicht darin, dass die Menschheit sozusagen eine solidarische Schuldgemeinschaft ist, sondern umgekehrt darin, dass sie auf Grund einer anfänglichen Schuld aufgehört hat, eine solidarische Gemeinschaft zu sein. Die Erbsünde ist ja nicht eine positive Qualität, die jeder Mensch von seinen Voreltern erbt, sondern sie ist das Fehlen einer Qualität, die er hatte erben sollen.“

Für den Gläubigen, der seinen Gott als einen Verzeihenden kennt, ist das ein versöhnlicher Gedanke. Iwan Karamasow jedoch, der von bitterstem Zweifel geschlagene Intellektuelle, vermag nicht zu glauben. In einem langen Gespräch mit seinem gottesfürchtigen Bruder Aljoscha (nachzulesen in Dostojewskis Roman) hadert er mit dem Leid der Menschen. Dass sie schuldig seien, weil sie vom Apfel gegessen hätten, könne er verstehen. Aber gelte das auch für die unschuldigen Kinder? „Die Kleinen haben noch nicht davon gegessen und sind vorläufig noch ganz schuldlos. Liebst du kleine Kinder, Aljoscha? Ich weiß, dass du sie liebst. Wenn sie auf Erden unglaublich leiden“ (und Iwan erzählt auf erschütternde Weise von bestialischen Morden an Kindern), „so geschieht das natürlich ihrer Väter wegen. Aber ein Unschuldiger kann doch nicht für einen Schuldigen leiden, und dazu noch solche Unschuldige!“7 Er begreife nicht, sagt er, wozu das alles gut sei. Er rebelliert gegen die Vorstellung, das Leid der Menschen werde irgendwann aufgehoben in einem kommenden Himmelreich. Er will das Paradies hier und jetzt: „Ich will mit meinen Augen sehen, wie das Reh arglos neben dem Löwen ruht, wie der Ermordete aufsteht und seinen Mörder umarmt.“

Das Problem, an dem Iwan Karamasow verzweifelt, hat Hans Henny Jahnn einmal den „Schöpfungsfehler“ genannt. Iwan glaubt, die Ursache zu kennen. Sie besteht darin, dass Gott dem Menschen die Freiheit geschenkt, ihn aber nicht damit begabt hat, sie zu seinem Nutzen zu gebrauchen. Seinem Bruder Aljoscha erzählt er die Geschichte vom Großinquisitor, erzählt, wie Jesus zur Zeit der spanischen Inquisition zurück auf die Erde kommt, wie die Herzen aller Menschen ihm zufliegen, wie aber der Kardinal Großinquisitor ihn einsperren lässt, ihn nachts im Kerker besucht und ihm in einer langen Rede Vorwürfe macht, zu denen Jesus immer nur schweigt.

Der Inquisitor kommt auf die Versuchung Jesu durch den Satan zu sprechen. Sie bestand darin, das Reich Gottes auf der Erde zu realisieren. „Der furchtbare und kluge Geist, der Geist der Selbstvernichtung und des Nichtseins, der große Geist sprach zu Dir in der Wüste, und wie die Schriften uns überliefern, habe er Dich versucht. War das so? Und wäre es möglich, etwas Wahreres zu sagen als das, was er Dir in seinen drei Fragen vorlegte und was Du verwarfst?“ Jesus hätte die Steine in Brot verwandeln müssen, so der Inquisitor. Stattdessen habe er gesagt, der Mensch lebe nicht vom Brot allein, und habe ihm die Last der Freiheit auferlegt. „Worin liegt die Schuld der schwachen Seele, dass es über ihre Kraft geht, einer so schrecklichen Gabe gewachsen zu sein?“ Die Kirche habe die Menschen von der Freiheit befreit. „Haben wir die Menschen nicht geliebt, als wir demütig ihre Ohnmacht einsahen, liebreich ihre Bürde erleichterten und ihrer kraftlosen Natur zu sündigen erlaubten, allerdings nur mit unserer Genehmigung?“

Die Parabel vom Großinquisitor ist die berühmteste Klageschrift gegen eine Kirche, die sich als Sündenverwalterin und Verzeihungsagentur missversteht. Luther hat damit aufgeräumt, um den Preis allerdings, dass der Sünder allein ist mit sich und seinem Gott, der unter Umständen sehr ferne sein kann. Das Sündenproblem wandert nun ganz ins Innere. Es kann zur mächtigen Antriebskraft werden, wie es Max Weber in seiner Schrift Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus (1904) ausgeführt hat, es kann aber auch destruktive Wirkungen entfalten, wie sie Tilmann Moser in seiner berühmten Polemik Gottesvergiftung (1976) zornig beschrieben hat.

Kein Wunder, dass das Bedürfnis entstand, dem ewigen Schuldzusammenhang zu entkommen und das Sündenproblem pragmatisch zu entsorgen. Der Soziologe Gerhard Schulze nimmt sich in seinem Buch Die Sünde – Das schöne Leben und seine Feinde (Hanser Verlag 2006) den Todsündenkatalog vor, um anhand seiner Geschichte und Wirkung die Entstehung des modernen Bewusstseins zu schildern, das sich seiner Ansicht nach auf dem Weg der Selbstbefreiung befindet. Und der Psychologe Heiko Ernst (Wie uns der Teufel reitet, Ullstein 2006) erzählt von der „Aktualität der 7 Todsünden“, so der Untertitel, um uns das Maß des richtigen Lebens vor Augen zu führen und psychische Ausgewogenheit nahezulegen.

Das sind nur zwei Titel einer ganzen Reihe von Büchern, die den eigentlich sinnwidrigen Versuch unternehmen, über die Sünde unter Weglassung Gottes zu reden. Sie sind ein Zeichen dafür, dass sich Kierkegaards „Schuldbewusstsein“ säkularisiert und auf triviale Weise materialisiert hat. Die wachsende Zahl der Verbote, Maßregelungen und repressiven Ratschläge, mit denen wir uns gegenseitig zu einer gesundheitsbewussten, sozial verantwortlichen und ökonomisch effektiven Lebensweise zwingen wollen, scheint Ausdruck der Tatsache, dass dem christlichen Abendland das Christentum abhanden gekommen ist, nicht aber die Sünde.

Die Schuld kehrt wieder – in utilitaristisch verkürzter Form. Vom Sex vielleicht abgesehen steht alles, was schmeckt und Spaß macht, unter Verdacht: das schnelle Auto ebenso wie die Zigarette, der Schweinsbraten ebenso wie das Glas Schnaps. Nichts scheint verwerflicher als das „gute Leben“. Die „Sucht“ lauert an allen Ecken und Enden. Die Magazine der Krankenkassen, die sich jetzt Gesundheitskassen nennen, die Apothekenzeitschriften und die Sonntagsblätter sind zum Katechismus des richtigen Lebens geworden.

Auch die Askese kommt zurück. Der Zölibat erntet regelmäßig Hohn und Spott. Aber die Idee, sich einer großen Sache so ausschließlich zu widmen, dass daneben kein Raum für simple Bedürfnisse mehr bleibt, hat in anderen Sphären Anhänger gefunden. Politiker, die kein Privatleben mehr kennen, Börsenmakler und Wirtschaftsbosse, die eine 80-Stunden-Woche absolvieren, leben eine moderne Variante des Versprechens der Enthaltsamkeit. Der Gott des Geldes und des Erfolgs verlangt von seinen Dienern zuweilen mehr als der Gott der Christen.

Wir sündigen noch, können aber Verzeihung nur von uns selber erbitten. Wir haben die Sünde noch, aber keinen Gott mehr. Ob das ein Gewinn ist?

 

 

 


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