Home - Christenheit - Über Martin Scorceses Film "Die letzte Versuchung Christi"


 

Ulrich Greiner

Die letzte Versuchung Christi

Martin Scorseses Film (1988) ist unzweifelhaft ein peinliches Werk. Fraglich ist nur, ob diese Peinlichkeit das Problem des Films ist oder unser Problem mit der Figur Jesu Christi.

Natürlich ist es komisch, wenn Judas in der Abendmahlszene die letzten Tropfen aus dem Kelch schüttelt, um zu sehen, ob Jesus wahr gesprochen hatte, als er sagte: „Das ist mein Blut." Und siehe da: Der dickflüssige rote Saft, den Judas ungläubig auf seiner Hand verreibt, ist kein Wein, es ist Blut. Das ist komisch, weil Scorsese den filmischen Augenschein als Wahrheitsbeweis nimmt. Als hätten wir nicht genug Filmblut erlebt, um zu wissen, aus welchem Stoff das ist.

Die Szene ist mehr als komisch: Denn ernster kann man den ungeheuerlichen Satz Jesu gar nicht nehmen. Wir haben ja, vor allem in Deutschland, in dieser theologischen Hochburg, lange genug diskutiert und interpretiert, um am Ende überhaupt nicht mehr zu wissen, wie wir mit diesen hochfahrenden Jesus-Sätzen umgehen sollen. Sind es Sinnbilder, Metaphern oder gezielte Provokationen, deren Wahrheit jenseits ihrer semantischen Bedeutung liegt?

Wie auch immer: Wörtlich nehmen wir die Bibel längst nicht mehr; das schließlich haben wir von der Exegese und der ganzen Entmythologisierungsdebatte gelernt. Nein, Blut war das wohl nicht. Und schnell sind wir bereit, Uta Ranke- Heinemann zuzustimmen, wenn sie sagt, natürlich sei Maria nach der Zeugung von Jesus keine Jungfrau mehr gewesen. Bei Lukas fragt Maria: „Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Manne weiß?" Wir aufgeklärten Halbchristen oder Nichtmehrchristen kennen längst die Antwort: Es ging halt so zu, wie es unter Menschen zugeht.

Martin Scorsese weiß auf alle diese Fragen keine Antwort. Der Italo-Amerikaner Scorsese, römisch-katholisch erzogen, aufgewachsen in der Nähe von Manhattans Little Italy, in seiner Jugend von dem Wunsch beseelt, Priester zu werden, hat mit diesem Film offenbar einer autobiographischen Obsession nachgegeben und sich auf die Suche nach Jesus von Nazareth begeben.

Das Ergebnis dieser Suche wirkt deshalb peinlich, weil er das Evangelium wörtlich nimmt, wörtlicher als Nikos Kazantzakis, dessen Jesus-Roman insofern „modern" ist, als er zum Beispiel die Auferweckung des toten Lazarus lediglich als Botenbericht vorkommen läßt. Scorsese zeigt sie. Die Jünger rollen die Grabplatte beiseite, und damit wir nicht auf die Ausrede kommen, der Mann sei scheintot gewesen, müssen wir mitansehen, wie die Hinterbliebenen vor dem Verwesungsgeruch zurückweichen und sich die Nase zuhalten. Auch Jesus hat sichtbar Mühe mit dem Gestank, als er sich in das schwarze Loch hinabbeugt und dem toten Lazarus befiehlt, herauszukommen. Der regt sich lange nicht, bis endlich, wie in einer Geisterbahn, ein Mumienarm aus dem Dunkel herausschnellt. Da hat sich's schnell gelacht. Aber: Die Szene ist genauso komisch, wie ein derart unerhörtes und erschütterndes Ereignis, wenn es denn passiert ist, auch gewirkt haben muß.

Scorsese zeigt, was es heißt, die Schrift wörtlich zu nehmen. Wenn der Satan den in der Wüste bangenden und betenden Jesus verführt, dann erklingt eben nicht eine Stimme aus dem Nirgendwo, sondern eine schwarze Schlange zischelt und züngelt, und ein Löwe, herabgestiegen wie aus einem Gemälde von Rousseau, verspricht alle Reiche dieser Welt. Und als bei Jesu Gefangennahme einer der Jünger dem Mälchus das Ohr abschlägt, da sehen wir bei Scorsese, wie Jesus das zu Boden gefallene Stück aufhebt und das Ohr wieder heilmacht. Das steht bei Lukas, und entweder war es so, oder es war nicht so.

Indem Scorsese die Schrift wörtlich nimmt, nimmt er sie ganz und gar ernst. Das ist natürlich Gotteslästerung. Bekanntlich lästert derjenige Gott, der die von der Institution Kirche per Gesetz verabschiedete Lesart des Evangeliums verläßt und selber liest und sieht. Wer das Deutungsmonopol der Kirche untergräbt, den verfolgt sie ohne Gnade. Das war immer so und ist heute nicht anders. Mit dem Unterschied allerdings, daß wir heutzutage keinen Bildervorrat mehr haben, aus dem wir uns, jenseits von Kirchenrecht und Dogmen und Theologie, selber ein Bild machen könnten von Jesus und seinen Geschichten.

Anders als bei den meisten Hochreligionen hat es in der katholischen Kirche, von ihren Anfängen abgesehen, nie ein Bilderverbot gegeben. Jahrhundertelang war die abendländische Kunst fast ausschließlich christliche Kunst, und ihr bevorzugter Gegenstand war die Schrift, deren obskure und erleuchtende, unglaubwürdige und deshalb geglaubte Erzählungen. Bilder von Grünewald und anderen sind mindestens so krude und naturalistisch wie die Kreuzigungsszene bei Scorsese. Er evoziert in seinem Film die Ikonographie des Christentums. Manche Szenen erinnern an Giotto, andere an Rembrandt, an Bosch und an jene Barockgemälde, die man aus italienischen Kirchen kennt, ohne sich ihrer Maler zu entsinnen. Die historische Gewalt der katholischen Bilderwelt ist schließlich im 19. Jahrhundert zu jenem Devotionalienkitsch verkommen, der heute als ohnmächtige Reminiszenz vergangener Größe an den Hinterausgängen bayrischer Dorfkirchen ein trübes Dasein fristet.

Wenn der Jesus von Scorsese in seine Brust greift und sich leibhaftig das Herz herausreißt, um es seinen Jüngern zu zeigen, dann ist diese Szene Zitat und Skandal zugleich. Zitat, weil sie an die er auf Jesu Bitte hin ihn verrät, um den notwendigen Kreuzestod zu erzwingen. Und Paulus: Jesus halluziniert am Kreuz ein Leben in lustvoller Erfüllung, mit vielen Frauen und Kindern, und trifft als gealteter Familienvater einen Wanderprediger, der von einem gekreuzigten Jesus erzählt. Der lebende Jesus stellt ihn zur Rede und wirft ihm die Lüge vor, aber Paulus antwortet sinngemäß: Das ist nicht mehr Deine Sache; ob Du Jesus bist und lebst, ist egal, die Leute wollen den gekreuzigten Jesus. Auch wenn dies nur ein Traum von Jesus ist, so enthält er doch genug Kritik an der historischen Rolle des Paulus und damit an der Rolle der Kirche. Über Paulus schrieb Rene Schickele 1934 in einem Brief an Joseph Roth: „Das Reich Christi hat noch nicht einmal begonnen. Kaum war Jesus tot, bemächtigte sich ein General seiner Sache. Er hieß Paulus. Ein dummer, ehrgeiziger Bursche, ein politisierender General." Harry Dean Stanton spielt den Paulus als schlitzohrigen, schmierigen, an amerikanische Fernsehprediger gemahnenden Manager, der die frohe Botschaft vermarket. Seine Nachfolger im „Zentralkomitee der deutschen Katholiken" haben Weisung gegeben, Scorseses Film „durch Nichtbeachtung" zu strafen.

So wie man über Scorseses Film nicht sprechen kann, ohne zugleich über Jesus und was er bedeutet zu sprechen, so wird wahrscheinlich jeder den Film auf dem Hintergrund seiner eigenen verschütteten oder abgelegten religiösen Erfahrung verstehen oder ablehnen. Seit ich Ministrant war, hat mich die Figur des Jesus von Nazareth nicht mehr beschäftigt. Nach und nach empfand ich ihn als eher unangenehm, etwas schrill, etwas schräg und ziemlich präpotent. Wenn später von religiösen Dingen die Rede war, dann meist im aufklärerischen Sinn, und das Gespräch drehte sich um historische oder kulturkritische Themen.

Ich bin weit entfernt davon zu behaupten, daß mich Scorseses Film (und schon gar nicht der Roman von Kazantzakis, den ich für aufgeblasen und schwülstig halte) auf den Pfad religiöser Tugend zurückgeführt hätte. Aber er hat mich immerhin dazu gebracht, über einiges nachzudenken: über die wahrhaft erschreckende Symbolik des Christentums (welche Religion sonst hängt in jedes Schulzimmer und jeden Kindergarten einen blutüberströmten gefolterten Leib?); über die unbegreiflichen, kuriosen und eben doch anhaltend wirkungsmächtigen Geschichten, die über diesen Jesus im Umlauf sind; und darüber, „daß unter der heiligen Fabel und Verkleidung von Jesu Leben einer der schmerzlichsten Fälle von Martyrium des Wissens um die Liebe verborgen liegt" (Nietzsche). Das legt man nicht so rasch ab, wie man denkt, und vielleicht bedeutet all das viel mehr, als unser rationaler Kopf es will. Wer über Jesus nachdenkt, muß in gewisser Weise unter sein intellektuelles Niveau gehen, das oft auch eines der Bescheidwisserei ist. Für jemanden, der einen Film über Jesus macht, gilt das noch viel mehr. Ob Jesus wirklich gelebt hat und ob er wirklich so war, ist dann gar nicht mehr die erste Frage. Er lebt ja immer noch, in all den Bildern und all den Geschichten, und nun in Scorseses Film.

Daß keiner mit ihm glücklich sein will, ist nicht Scorseses Schuld. Er tat, was er konnte, riskierte das Unmögliche, und erreichte doch immerhin dies: daß wir dieser bizarren Figur 160 Minuten lang folgen, durch atemberaubend schöne Landschaften, zu befremdlichen Begegnungen, bis hin zum schmählichen und grandiosen Ende. Ob dieses Ende eine Verhöhnung oder eine Verheißung ist - die Frage kann kein Film beantworten. Dieser aber ist jedem Hohn und Spott völlig fern. Die unironische Inbrunst, mit der er sich seinem Thema weiht, ist seine Schwäche, und das wirklich Bizarre an der jetzigen Kampagne besteht darin, daß der Film jenen, die ihn bekämpfen, viel näher steht als jenen, die ihn tolerieren.

 


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