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Rückeroberung des Heiligen?

Dokumentation der Podiumsdiskussion über die Intervention Benedikts XVI. "Motu Proprio Summorum Pontificum", am 20. August 2007 im Franfurter Haus am Dom

Es diskutierten Arnold Angenendt, Albert Gerhards, Martin Mosebach und Robert Spaemann,
Moderation Daniel Deckers (FAZ)


Daniel Deckers:

Meine sehr geehrten Damen und Herrn,

am 20. Dezember 1963 gab der Dämon eine metaphysische Pressekonferenz in Warschau. Es existiert ein Stenogramm dieser Pressekonferenz, aus der ich Ihnen gerne zitiere:

Sie haben aufgehört, sagte der Dämon, an mich zu glauben meine Herren, gewiss, ich weiß davon, ich weiß es, aber es lässt mich kalt. Ob Sie an mich glauben oder nicht, es bleibt einzig und allein ihre Sache. Haben Sie mich verstanden, meine Herren? Es ist mir maßlos gleichgültig, so gleichgültig, wie nur irgendetwas. Und wenn es mich dennoch ab und zu interessiert, dann nur in der Form, in der sich der Geist des Forschers an einem Naturwunder entzündet. Ich sage ausdrücklich Geist, denn die Sache an sich ist, was meine Verrichtung mit Erfahrungen angeht, nirgendwo auch nur von der mindesten Bedeutung. Das Sie meine Existenz leugnen, das tut meiner Eitelkeit keinen Abbruch und zwar einfach deswegen, weil ich absolut nicht eitel bin. Weil ich nicht die Absicht habe, von Ihnen für besser gehalten zu werden, als ich bin, ja nicht einmal so wie ich tatsächlich bin. Ich will ich selbst sein, weiter nichts. Ihr Unglaube berührt keinen einzigen meiner Wünsche. Sie sind alle erfüllt. Es kommt mir nicht auf die Anerkennung meiner Existenz an, für mich ist nur das eine wichtig, dass das Werk der Vernichtung nicht stockt. Zuweilen stimmen mich die Ursachen dieses Unglaubens nachdenklich. Nun ja, es ist ganz einfach, die Sache fesselt für einen kurzen Augenblick mein Interesse. Ich betrachte ihren jämmerlichen Skeptizismus, etwa auf die gleiche Art wie sie eine Spinne beobachten, die an der Wand entlang kriecht. Mich macht die Unbedenklichkeit stutzig, mit der Sie ihren Glauben fahren lassen und ich überlege mir, wie es kommt, dass immer und in jedem Fall ich das erste Opfer bin, sobald der Unglaube um sich zu greifen beginnt. „Opfer“, so etwas sagt man so leicht dahin. In Wahrheit bin ich weder ein Opfer, noch trifft es zu, das ich falle. Oh nein, ich falle gewiss nicht und doch nimmt der Unglaube in mir seinen Anfang. Den Teufel wird man am leichtesten los, dann kommen die Engel, dann die Dreieinigkeit und schließlich Gott.

Meine Damen und Herrn, hätte ich in dieser metaphysischen Pressekonferenz gesessen, die der Dämon am 20. Dezember 1963 in Warschau abgehalten hat und von der uns der polnische Philosoph Kolakowski ein Stenogramm überliefert hat, ich hätte den Dämon gefragt, ob man nicht nur den Teufel los geworden sei, die Engel und auch Gott, sondern am 20. Dezember 1963 hätte man auch nach der Liturgie fragen können, denn kurz zuvor ist die Liturgiekonstitution des II. Vatikanischen Konzils im Vatikan verabschiedet worden.

Ich stelle Ihnen Professor Arnold Angenendt vor, geboren 1934 in Goch, Priesterweihe just in jenem Jahr, 1963, in dem die Liturgiekonstitution verabschiedet wurde und der Dämon seine Pressekonferenz gab, Liturgiewissenschaftler, Kirchenhistoriker an den Universitäten Bochum und Münster, zahlreiche Gastprofessuren, erster Geistlicher, der vor der russischen Akademie der Wissenschaften sprach, Veröffentlichungen über Religiosität im Mittelalter, Toleranz und Gewalt.

Professor Angenendt, Sie haben vor kurzem in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung einen Aufsatz veröffentlicht, mit der sinnigen Überschrift: „Wie im Anfang, so in Ewigkeit“. Die Liturgiekonstitution, die in dem Jahr verabschiedet wurde, in der Sie zum Priester geweiht wurden, erklärte als Ziel: „Das christliche Leben unter den Gläubigen mehr und mehr zu vertiefen. Die dem Wechsel unterworfenen Einrichtungen den Notwendigkeiten unseres Zeitalters besser anzupassen.“ Was haben wir bis zum Jahr 2007 erlebt? Eine bessere Anpassung? Eine neue Reform? Oder eine Rolle rückwärts in der Kirchengeschichte?

Arnold Angenendt:

Ich habe hier das Buch von Martin Mosebach Die Häresie der Formlosigkeit. Ich habe es für diesen Abend neu durchgelesen und habe mir auch einige Seiten daraus kopiert.

Herr Mosebach zu allererst: Was da an grundlegendem Liturgieverständnis zum Vorschein kommt, das akzeptiere ich voll und ganz. Aber das ist noch viel zu wenig. Ich bewundere das. Ich bewundere, wie Sie als Nichttheologe und als jemand, der nicht selber Liturgie zelebriert, so ein Buch haben schreiben können. Wie Sie Liturgie verstehen als  heilige Ortlosigkeit, wie Sie das Besondere der liturgischen Sprache erfassen, auch der Gesten, was sie über Ästhetik sagen, das findet meine volle Zustimmung.

Ich nehme jetzt einige Anregungen aus ihrem Buch auf und erläutere daran, wie es mir vor und nach dem Konzil ergangen ist. Ich wurde, wie erwähnt, 1963 zum Priester geweiht. Ich habe jahrelang die tridentinische Messe in einer Pfarrei gefeiert, wo fünfeinhalbtausend Menschen sonntags zur Kirche kamen. Jede zweite Woche morgens um sechs im Krankenhaus hatte ich als jüngster Kaplan die Messe zu zelebrieren, an Tagen mit Hochzeiten und Beerdigungen eine zweite oder dritte. Ich denke, ich weiß wovon, ich spreche. Herr Mosebach, lassen Sie mich Ihnen offen bekennen, dass ich nach der Form der heiligen Messe, wie Sie sie als Kind in den fünfziger Jahren in Frankfurt am Main erlebt haben und nach Ihrer Aussage nicht berührt hat, kein Heimweh habe. Danach hatte man als Student Josef Andreas Jungmann gelesen: „Eine genetische Erklärung der Messe“. Da leuchtete ein: Das ist die große Offenbarung! Das ist die Rückkehr zur einfachen, durchschaubaren und zur frommen Form! So habe ich die Liturgiereform erlebt.

Ich zitiere weiter einen Satz aus Ihrem Buch: „Liturgie ist wirksames und wirkendes Bild“. Wenn ich einen Satz gleichsam als Überschrift über die ganze Diskussion auswählen sollte, dann wäre es dieser. Dann ist mir ganz egal, ob es sich um eine tridentinische oder reformierte Liturgie handelt. Beten, das ist es worauf es ankommt! Ich habe einen Spiritual gehabt, der sagte: „Bei der Messe wird gebetet! Und wenn der Kirchturm umfällt!“ Die Rubriken sehen das anders, sie wollen gültigen Vollzug. Wenn ich als Priester, ob in Latein oder Deutsch zelebriere, dann bete ich „Allmächtiger Gott! Gütiger Vater!“, und dabei denke ich an die ganze großartige Explikation, die Joseph Ratzinger dazu in seiner Einführung in das Christentum gibt. Ich bete! Ich sage keinen Text auf, ich achte nicht darauf, ob das Mikrophon zu laut ist oder zu leise, ich bete!

Sie, Herr Mosebach beklagen die Rücksichtslosigkeit, mit der man das einst hoch Verehrte, das nun nicht mehr verehrt werden soll, profaniert, ausrangiert, abschafft, wegwirft. Ich habe später bei Priesterkursen angefangen zu fragen: „Was ist eigentlich alles wieder zurückgekehrt, was im ersten Anlauf der Liturgiereform als Kitsch herausgeschmissen worden war?" Dann fingen die Teilnehmer an zu erzählen: „Ja, die Heiligenfiguren, die haben wir beim Bauern wiedergeholt. Der hatte die in Sicherheit gebracht.“ Das geschah überall. Die sechziger Jahre waren durch eine vibrierende Stimmung gekennzeichnet. Johannes XXIII. öffnete die Fenster, Kennedy hielt seine visionären Reden: Überall Aufbruch, endlich auch in der Kirche. Aber da hat man nicht nur das Fenster geöffnet, sondern da ist oft viel zu viel geschehen. In meinem Zugabteil fand ich vorhin eine Zeitung, die hab ich mir mitgenommen und hier lese ich: „Siebenhundert Kirchen in den Niederlanden inzwischen verkauft!“. Große Stadtkirchen werden für irgendwelche Fêten umgebaut und zurecht gemacht. In Bayern hat man eine Kirche zur „Kulturkirche“ umgewidmet, und jetzt fordert man sie zurück, weil dort Nackttänze stattgefunden haben. Das war dann doch zu verletzend! Hier zum Schluss in diesem Artikel heißt es: „Inzwischen regt sich Protest wegen einer solchen Art, mit Kirchen umzugehen“. Als in Münster das Klarissenkloster beseitigt wurde, kam es zum Aufstand im Stadtviertel. Plötzlich hieß es: “Das können wir doch nicht verschwinden lassen, das Kloster!“ Was geschieht in der ehemaligen DDR? Siebzehn Prozent bezeichnen sich als Kirchenzugehörige. Aber die Kirche im Dorf? Für sie setzt man sich ein.

Ihr Ausdruck Herr Mosebach „Heilige Ortlosigkeit“, das ist wirklich christlich. Zwei oder drei versammeln sich; wo aber sie das tun, das ist ganz gleich. "Heilige Ortlosigkeit" - dem kann ich zustimmen. Und trotzdem: Es ist zutiefst unvernünftig, seinen Seelenfrieden für den Kampf um die Liturgie aufs Spiel zu setzen.

Die Zusammensetzung unserer Gesprächsrunde heute Abend habe ich mir natürlich angeguckt. Die Veranstalter haben sich wohl gedacht: Wir laden zwei Konservative ein und zwei die vielleicht dagegen sind, damit es knallt und funkt. Ich jedenfalls knalle nicht und funke nicht! Ich habe mir immer vorgenommen: Ich mache keinen Streit wegen Liturgie. Auch heute Abend nicht.

Es gibt viele, die möglicherweise besorgt fragen werden, ob ich glaube, dass man die neue Liturgie Papst Pauls VI. wirklich würdig und ehrfürchtig vollziehen könne. Selbstverständlich ist das möglich! Das bekräftige ich. Ich habe die alte Liturgie gefeiert, und feiere nun die neue. Ich bin Professor, ich lebe in einer Pfarrei, dort habe ich morgens oft die Messe mit den alten Frauen, eine halbe Stunde und niemals kürzer. Ich mache Pausen, ich halte zum Gebet an und ich bete selbst. Nach meiner Erfahrung, hilft mir hier die neue Liturgie. Mit ihr bete ich anders und intensiver. Und was die Sprache betrifft, da mache ich auch meine Erfahrung. Ein Naturwissenschaftler klagte neulich, dass er auch auf deutschen Universitäten in Englisch publizieren müsse. Er stellt fest: In der Muttersprache bin ich besser und genauer. Ich habe ein Jahr in Kanada doziert, da war mir klar, du wirst es nie schaffen, dich in Englisch so flexibel auszudrücken, wie du das in deiner Muttersprache kannst. Diese Erfahrung gilt erst recht für das Beten. In der Muttersprache betet man wirklich auch anders. Das behaupte ich, das ist meine Erfahrung.

Es scheint, als lebten in der Kirche inzwischen zwei verschiedene Menschentypen, die sich nicht mehr miteinander verständigen können, selbst wenn beide guten Willens wären. Aber bevor es zur Aufspaltung kommt, verweise ich auf das Neue Testament. Ich stelle einfach zusammen: Sie kamen zusammen zum Gottesdienst. Vorher hatte es zuweilen Streit gegeben. Da war die Liturgie die Gelegenheit, um sich wieder die Hand zu geben. Sollen wir hier eine Auseinandersetzung führen, um etwas, das dazu da ist, uns zusammenzuführen? Das wäre ein Widerspruch in sich. „Auseinandersetzung“, das ist ein schreckliches Wort. Da sitzen wir also beieinander und sollen beschließen. Und da setzen wir uns lieber auseinander? Ich nicht. Wir bleiben beieinander!

Klaus Schreiner, Historiker in Bielefeld, kein Theologe, hat einen großartigen Artikel über frühchristliche Toleranz geschrieben, in einer nüchternen Tonart. Er sagt: Das Christentum ist anfangs von der Idee der Gemeinde getragen gewesen. Da gibt es Differenzen, da gibt es Spannungen und da gab es Streit zwischen Petrus und Paulus. Das war auszuhalten: nicht auseinanderzulaufen, sondern zusammenzubleiben, sich die Hand zu geben – das ist Toleranz. Und Liturgie ist der Kitt dafür, Liturgie ist Schaffung der Einheit, immer neu. Daher ist es für mich absurd, Liturgie benutzen zu wollen, um zu spalten.

Wenn der Angenendt in den letzten 20 Jahren über irgendwas geredet hat, dann ist es die Thysia logike. Herr Spaemann, ich hab Sie ja auch studiert. Die Thysia logike, „das geistige Opfer“, wie Joseph Ratzinger es im Geist der Liturgie seitenlang herausgestellt hat, sie ist mein Credo für die Eucharistie. Nun kann man gleichzeitig auch Einwendungen machen: Wo kommt dieses geistige Opfer in einem Hochgebet ausdrücklich vor? Wo kommt Römer 12,1 vor, die Stelle, die Ratzinger so groß herausstreicht, wo die Gemeinde sich selbst als das „lebendige und heilige Opfer“ konzipiert? Eigentlich nirgends. Ich wende mich gegen René Girard und seine Vorstellung vom Opfer, wie sie gerade in Deutschland rezipiert worden ist. Für ihn ist Opfer etwas Schreckliches, nämlich Gewalt. Walter Burkert sagt dagegen: „Opfer ist Leben um Leben.“ Wo Leben gezeugt werden muss, muss ich Leben einsetzen. Und das ist Eucharistie. Und das ist Thysia logike. Dem würde ich sehr zustimmen. Das ist tiefer Ernst, und das hat nichts zu tun mit Ringelreihen um den Altar. Im Opfer geschieht etwas ganz Erschreckendes und doch zugleich Wesentliches: Wenn man lebt, dann lebt man vom Leben anderer. Und wir leben vom Leben des Gottes. Insofern gehöre ich zu denen, die den Opfergedanken ganz intensiv verteidigen. Bedenken habe ich allerdings, dass man sagt: „Der Priester bringt das Opfer dar für die Gemeinde.“ Das ist seit der Enzyklika Mediator Dei von 1947 unmöglich.

Historisch füge ich noch ein Bedenken an: Das erste Hochgebet ist umformuliert worden. Da heißt es seit dem Frühmittelalter: „Der Priester opfert für die Gemeinde“. Das ist mit der Theologie des II. Vatikanums nicht vereinbar – ja, und deswegen muss man ein liturgiehistorisches Seminar mitmachen, um den ersten Kanon, das erste römische Hochgebet zu verstehen. Und da denke ich, da betet man mit dem zweiten Hochgebet, das aus dem dritten Jahrhundert stammt, intensiver und unbehinderter. Mir scheint das so. Jetzt mach ich erstmal Schluss, ich weiß nicht, wie lange man hier reden darf.

Nachtrag: Die Liturgiereform ist vom II. Vatikanischen Konzil nahezu einhellig angenommen und päpstlich bestätigt worden. Sie beiseite schieben zu wollen, rührt an die Autorität der Kirche. Die Forderung, die Eucharistie nach vorkonziliarer Weise zu feiern, ist kein Problem. Aber diese vorkonziliare Liturgie zurückgewinnen zu wollen als Regelform, geht gegen einen gesamtkirchlichen Beschluss. Wenn Sie, Herr Mosebach, diese Rückgewinnung zum Ziel erklären, stimme ich nicht zu.  

Deckers:

Meine Damen und Herren, wer noch nicht wusste, was eine Ouvertüre ist, der hat jetzt ein lebendiges Beispiel bekommen.

Robert Spaemann, 1927 in Berlin geboren, der Vater, Kunsthistoriker, Atheist, wird in den 30er Jahren katholisch, studiert nach dem Tod seiner Frau Theologie in Münster und wird Priester. Robert Spaemann, 1962 in Münster in den Fächern Philosophie und Pädagogik habilitiert, wird Philosophieprofessor in Stuttgart, Heidelberg und München. Es gibt viele Veröffentlichungen, besonders über die Ideengeschichte der Neuzeit, Naturphilosophie, politische Philosophie und Ethik, zuletzt: Das unsterbliche Gerücht und Der letzte Gottesbeweis. In Münster gehörte er zum Collegium Philosophicum bei Joachim Ritter, zu dem später auch ein Theologieprofessor namens Joseph Ratzinger gestoßen ist. Glaube und Vernunft, Herr Spaemann, ist das zentrale Thema, das Sie beschäftigt. Was ist die Ratio des Motu Proprio? Die Rehabilitierung der tridentinischen Messe erfolgt mit der Begründung, dass auch in der neuen Messordnung Pauls VI., jene Sakralität erscheinen möge, die viele Menschen zum alten Usus hinzieht. Zieht auch Sie die Sakralität zum alten Usus hin? Konnte man sie dort wirklich antreffen? Oder war nicht auch an ihm vieles profan und banal?  Wird nicht eine vielschichtige Wirklichkeit von heute an einem zur Ikone stilisierten Ideal gemessen? Herr Spaemann:

Robert Spaemann:

Herr Angenendt sprach davon, dass die Messe ein Gebet ist. Meiner Meinung nach ist ihm ganz zuzustimmen. Herr Angenendt sagt, er kann besser mit den neuen Texten in seiner Muttersprache beten. Ich denke aber, es gibt einen Unterschied zwischen dem privaten Gebet, da bete ich natürlich auch auf Deutsch, auch manchmal lateinisch. In der Tat, wenn´s ans Eingemachte geht, dann fällt man in seine Muttersprache, wie auch Erasmus, der große Humanist und Lateiner auf dem Sterbebett.

Etwas anderes ist aber das gemeinsame Gebet, das uns mit der ganzen Kirche verbindet. Hier gibt es eine große Tradition, einen Strom des Gebetes und eine Kultsprache. Auch Jesus betete die Psalmen nicht in seiner aramäischen Muttersprache, sondern auf hebräisch. Aber auch das ist persönliches Gebet. Und es ist nun einmal so, dass es schwerer fällt zu beten, wenn der Priester die ganze Messe über mit dem Gesicht zum Volk steht, statt gemeinsam mit uns, auf das Kreuz oder nach Osten zu blicken. Ich sehe nicht gerne dem Priester die ganze Messe durch ins Gesicht, und ich habe bei vielen Priestern auch den Eindruck, dass sie eigentlich nicht beten, sondern dass sie ihren Leuten etwas vorbeten. Aber vorbeten nicht im Sinne dessen, der die Gebete aller vor den Vater bringt, sondern in dem Sinne, wie der Lehrer mit kleinen Kindern in der Schule. Unser Lehrer in der Volksschule machte das Kreuzzeichen immer falsch herum, damit wir es richtig rum machten. Das heißt, er betete uns was vor, er betete nicht selbst. Ich glaube, es ist von der allergrößten Wichtigkeit, dass wir wirklich alle beten und dass vor allem der Priester selbst betet. Es gibt Priester, die können das, aber es ist schwer. Mir sagte mal Kardinal Kasper, als er noch Bischof von Rottenburg war: „Es ist eine Überforderung des Priesters, immer die Leute anzuschauen, wenn er die Messe liest.“

Nun habe ich ein Beispiel erwähnt, dass sich gar nicht unmittelbar auf den Gegensatz von alter und neuer Messe bezieht, denn die neue Messe kann man natürlich auch in der anderen Richtung zelebrieren. Aber hier sind wir an einem ganz wichtigen Punkt, denn die Kluft, die sich gebildet hat, zwischen den Anhängern der alten Liturgie und der neuen, hängt vor allem damit zusammen, dass die neue Liturgie Räume öffnet, Freiräume, die auf vollkommen dogmatische und fanatische Weise ausgefüllt wurden. Da ist diese gewaltsame Umdrehung des Altars noch im letzten Dorf ein gutes Beispiel. Diese Neuerung wurde einfach mit Brachialgewalt durchgesetzt. Die Begründung war: Es soll Gemeinschaft gefeiert werden, als wenn es besonders gemeinschaftlich wäre, wenn alle Leute hintereinander stehen, wie das gar nicht anders geht in einem großen Raum, und ihnen gegenüber steht einer, der ihnen etwas vorspricht. Gemeinschaft drückt sich auf sehr vielfältige Weise aus, aber so eigentlich am wenigsten.

Bevor wir auf die einzelnen Punkte kommen, weswegen Menschen am alten römischen Messritus festhalten, möchte ich ein paar allgemeine Bemerkungen machen, so zum Beispiel über das Problem der Begründungspflicht. Dahin geht ja auch Ihre Frage Herr Deckers. „Wer muss begründen?“ Eine Regel, die in der Juristerei eine besondere Rolle spielt, ist die richtige Verteilung der Beweislast und Begründungspflicht. Und da ist es grundsätzlich so, dass derjenige, der von einem langen Usus abweichen will, dafür die Begründungspflicht trägt und nicht derjenige, der einfach bei dem bleibt, was ihm überkommen ist. Das heißt nicht, dass dieses Bleiben beim Überkommenen immer und in jeder Hinsicht das Richtige ist und, dass es nicht auch Verbesserungen gäbe. Das II. Vatikanische Konzil hat für Änderungen, nicht nur pauschal für die ganze Liturgie, sondern für jede einzelne ein Kriterium genannt. Aber das II. Vatikanische Konzil hat erklärt: Keine Neuerung sei erlaubt, mit der nicht mit Sicherheit ein spiritueller Nutzen verbunden sei. Diesen spirituellen Nutzen habe ich bei einigen wenigen Punkten vielleicht erahnen können, aber im Großen und Ganzen habe ich ihn nicht bemerkt.

Ich will die Leerung der Kirchen nicht kausal der neuen Liturgie in die Schuhe schieben, aber soviel ist klar: Die neue Liturgie hat sie in keiner Weise aufgehalten. Und wenn man der Meinung war, es sei doch eher so eine Nostalgie der Alten, die an ihren Formen festhalten wollen, dann widerspricht dem meine Beobachtung. Wenn ich sonntags bei uns in Stuttgart in die alte Messe gehe, stelle ich fest, dass der Altersdurchschnitt sehr viel niedriger ist als in der Pfarrkirche, wo ich auch gelegentlich hingehe. Das heißt, den Gedanken, das Problem würde sich biologisch lösen, kann man auf jeden Fall vergessen. Da gab es nun verschiedene Stadien im Umgang der Kirche mit diesen renitenten Leuten. Zunächst einmal gab es das Motu Proprio Ecclesia Dei von Papst Johannes Paul II. Da wurde das Problem als pastorales Problem behandelt. Der Papst sah, dass es Menschen gab, die an dieser Form hingen.

Kardinal Newman fragte einmal in einer Predigt zum Fest der Beschneidung des Herrn: „Warum lässt sich Jesus beschneiden?“ Seine Antwort: Die Kirche hat nie eine alte Gebetsgewohnheit abgeschafft. Die Apostel sind zum Beispiel, bis sie vertrieben wurden, in den Tempel gegangen, jeden Sabbat. Sie haben nicht gesagt: „Jetzt ist etwas Neues da, jetzt gehen wir nicht mehr in den Tempel“. Niemand hat einen solchen Schlussstrich gezogen, bis zur Zerstörung des Tempels. Es war einer der großen Fehler nach dem II. Vaticanum, dass man einfach par ordre de Mufti eine Reform von oben verordnete, die, die wie der jetzige Papst mehrfach sagte, am grünen Tisch gemacht worden ist, nicht zuletzt von Liturgiewissenschaftlern. Ein Liturgiewissenschaftler kann beiläufig auch ein Mensch sein, der in Sachen der Liturgie selbst kompetent ist, aber das ist keineswegs selbstverständlich. Wo käme die Kunst hin, wenn die Kunstwissenschaftler sagen würden, wie die Kunstwerke aussehen sollen. Wo käme die Musik hin, wenn die Komponisten sich von Musikwissenschaftlern sagen lassen würden, wie sie komponieren sollen? Wo käme die Politik hin, wenn sie Politikwissenschaftler damit beauftragte, Politik zu machen. Das Gleiche gilt auch für die Liturgie. Beim Entstehen und der Weiterentwicklung einer Liturgie spielen die Ergebnisse der Liturgiewissenschaft eine gewisse Rolle. Es ist wichtig zu wissen, wie die Dinge entstanden sind. Da gibt es dieses unglaubliche Buch von Jungmann, der von jeder einzelnen Geste und jedem Wort zeigt, wie das im Laufe von mehr als tausend Jahren entstanden ist. In der neuen Liturgie ist das nur sehr schwer nachvollziehbar, weil dieser ungeheure Reichtum an Details, bei dem man wissen kann, wo sie herkommen, einer Einfachheit zum Opfer gefallen ist, die aber nicht, wie erwartet, eine Vertiefung war, sondern eine Banalisierung.

Die Enzyklika  Ecclesia Dei wurde aus pastoralen Gründen geschrieben. Der Papst sagte, man muss diesen Leuten, die am alten Ritus hängen, die Möglichkeit geben, mit ihm zu leben. Er hat mir selber gegenüber einmal beklagt, dass viele Bischöfe nicht großzügig sind, wie er das erbeten hat. Aber er hat mir in einem privaten Gespräch auch gesagt, dass er selbst eigentlich nicht versteht, warum wir daran so hängen. Er sagte: „Unser großes Problem ist doch die Krise des Glaubens." Ich konnte nur antworten: „Heiliger Vater, vielleicht hängen die beiden Dinge zusammen.“ Genau das war immer die Überzeugung des jetzigen Papstes, für den es sich hier nicht um pastorale Fürsorge für Fußkranke handelt, die man nun einmal nicht zu den neuen Formen bekehren kann. Er spricht vielmehr von einem Schatz der Kirche.

Damit ist eine neue Qualität in der liturgischen Debatte eingekehrt. Bisher ging es um den Umgang mit Menschen, die gerne in die alte Liturgie gingen. Man tolerierte sie, verwies sie aber oft genug in eine Schmuddelecke. Sie wurden in Quarantäne gesetzt. Die Messen, die ihnen zugestanden wurden, durften nicht im kirchlichen Anzeiger publiziert werde, die Glocken dürfen nicht läuten, jedenfalls bei uns in Stuttgart nicht.

Aus dem Publikum:

Hier läuten sie.

Einwurf von Deckers:

Das liberale Frankfurt!

Spaemann:

Jedenfalls war die Absicht immer erkennbar: Das soll nur ja nicht Schule machen. Dass es das auch noch gibt, sollte nicht öffentlich sichtbar sein. Diese Leute sollen in Frieden irgendwo in ihrer Ecke bleiben. Jetzt hat sich die Sache gewandelt, das neue Motu Proprio spricht von einem „Schatz der Kirche“ und versucht, für seine Bergung eine pragmatische Lösung zu finden. Da gibt es die Normalform einer ordentlichen Messe und eine außerordentliche Form, wobei dieser außerordentlichen die volle Ehre zurückgeben wird. Das scheint mir nun eine wirkliche Rückkehr zur Normalität der Kirche zu sein. Wenn diese Normalität heute so aussieht, dass zwei Formen neben einander stehen, ist das nicht ideal. Das hätte nicht sein müssen. Wenn die Liturgiereform sich in den Grenzen dessen gehalten hätte, was das II. Vaticanum verlangt hat, dann wären die ganzen Probleme nicht entstanden. Aber jetzt sind wir nun mal in der beschriebenen Situation, und wir können die Geschichte nicht einfach umdrehen, das heißt, die jetzige Normalität kann nur darin bestehen, dass  beide Formen nebeneinander existieren. Wenn einmal eine Reform der Reform kommt, von der der jetzige Papst früher öfter gesprochen hat, dann kann sich die Frage vielleicht stellen, ob es wieder zu einer vereinheitlichten Form der Liturgie kommt. Aber dieser neue Zustand ist keine Katastrophe. Konkurrenz belebt das Geschäft und das gilt auch mit Bezug auf die Frömmigkeit.

Deckers:

Dass Konkurrenz das Geschäft belebt ist kein Dogma aber eine zutiefst menschliche Erfahrung, insofern auch eine theologische Weisheit.

Albert Gerhards, sie wurden vorhin angesprochen, und zwar indirekt als geschäftsführender Direktor des Seminars für Liturgiewissenschaft. Sie vertreten seit 1989 das Fach Liturgiewissenschaft an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn. Sie sind erst der zweite Lehrstuhlinhaber für Liturgik an dieser Universität, denn auch dieser Lehrstuhl, 1965 eingerichtet, ist eine Frucht des II. Vatikanischen Konzils. Gemäß den Weisungen des Konzils existiert die Liturgiewissenschaft als eigenständiges Fach. Wenn ich die Andeutung Professor Spaemanns richtig verstehe, hat aber möglicherweise diese Liturgiewissenschaft auch zu den Missständen beigetragen, die er beschrieben hat. Aber, Albert Gerhards, Sie gehen keiner Kontroverse aus dem Weg und haben sich auch zu aktuellen liturgischen Fragen immer wieder geäußert. Im vergangenen Jahr etwa mit einer deutlichen Warnung vor einer Wiederzulassung des alten Ritus. Wenn ich eine Formulierung von Herrn Spaemann aufgreifen darf, wäre es ihnen lieber gewesen, wenn die Anhänger des alten Usus in der Schmuddelecke geblieben wären?

Albert Gerhards:

Oh, das ist eine Frage der Selbstdefinition, wo man sich befindet. Ich habe immer befürwortet, dass die Feier der Liturgie nach dem so genannten tridentinischen Ritus ermöglicht würde und habe in einem konkreten Falle auch Kardinal Meisner dazu geraten, als diese Frage in Bonn anstand. Herr Spaemann, ich habe aber eine Frage an Sie: Haben Sie heute schon ein lateinisches Choralamt mitgefeiert?

Spaemann:

Heute?

Gerhards:

Ja, heute.

Spaemann:

Natürlich nicht.

Gerhards:

Aber ich habe es heute Morgen mitgefeiert, in Köln.

Spaemann:

Gibt es einen besonderen Anlass?

Gerhards:

Nein, das ist dort jeden Tag üblich. Ich erwähne das nur um zu zeigen, dass ich einer von diesen schrecklichen Theoretikern bin, die nicht wissen, worüber sie letztlich handeln.

Spaemann:

Entschuldigung, das habe ich nicht gesagt. Die Kunstwissenschaftler wissen auch, wovon sie handeln. Sie sollen es nur nicht vorschreiben.

Gerhards:

Vorgeschrieben haben Liturgiewissenschaftler nie etwas, vorgeschrieben hat ein Papst. Und alle Bücher des II. Vatikanischen Konzils tragen die Unterschrift eines legitimen Papstes, nämlich Pauls VI. Auch das sollte einmal deutlich gesagt werden. Was die Rolle der Liturgiewissenschaft angeht, da muss ich meine Lehrer verteidigen, die diese Reform durchgeführt haben. Jungmann habe ich noch kennengelernt. Ich nenne nur die Namen von Balthasar Fischer, meinem Trierer Lehrer, oder Burkhard Neunheuser. Das waren keine Theoretiker. Das waren Menschen, die wirklich, wie Herr Angenendt das geschildert hat, mit Leib und Seele in und mit der Liturgie lebten. Zunächst  in der Liturgie, wie sie im Anschluss an das Konzil von Trient gefeiert worden ist. Ich will einmal ein Beispiel nennen: Heute wird das Fest des Heiligen Bernhard von Clairvaux gefeiert. Im tridentinischen Missale heißt es in der Introitus-Antiphon, also dem ersten Gesang zum Einzug, der gleichsam das Thema des Festes angibt: „In medio ecclesiae… - Inmitten der Kirche öffnete er seinen Mund, und ihn hat der Herr erfüllt mit Weisheit und Einsicht“. Ein schöner Text, sehr verständlich. Jetzt hat schlimmerweise das II. Vatikanische Konzil etwas daran geändert. Aber wir haben heute  Morgen auch auf Latein eine sogar noch ältere Antiphon gesungen „Meditatio cordis mei in conspectu tuo semper Domine adiutor meus et redemptor meus. - Die Betrachtung meines Herzens geschieht vor deinem Angesicht immer, Herr, mein Helfer und mein Erlöser“.

Ich gehöre zum Jahrgang 1951 und habe noch die alte Liturgie kennengelernt Als ich das heute Morgen mitgesungen hatte, war ich mitten in meiner Kirche. Ich wurde durch diese nachkonziliare Liturgie ins Priestertum hineingeführt und lebe in und aus dieser Liturgie. Daher finde ich es nicht gut, wenn man immer wieder zu hören bekommt, dass die Liturgiewissenschaft zerstörerisch ans Werk gegangen sei. Das erklärt natürlich auch gewisse Animositäten. Wir können uns gerne über die Fehler der Liturgiereform unterhalten. Da gibt es viele. Ich selber habe oft und schon seit langem gefordert, dass wir eine wirkliche Kritik der Liturgiereform durchführen müssen und zwar von kompetenter liturgiewissenschaftlicher Seite, aber auch im Verbund mit denen, die wie Herr Mosebach und andere auf Missstände kritisch hingewiesen haben. Herr Mosebach und ich haben uns darüber schon einmal unterhalten. Und ich bin sicher, in der Analyse werden wir uns in vielen Punkten sehr nahe sein. Nur akzeptiere ich nicht eine Interpretation, die behauptet, die Liturgiereform sei ein Verrat am Konzil gewesen und die Missstände wären vermieden worden, wenn man sich nur an das Konzil gehalten hätte. Meine Interpretation ist: die Liturgiereform hat genau in der Zielrichtung des Konzils die Linie weiter ausgezogen, zumal derselbe Papst, der die Liturgiekonstitution unterschrieben hat, auch sämtliche Bücher der reformierten Liturgie unterschrieben hat. Ich bin der Meinung, dass hier eine Kontinuität besteht.

Die pragmatische Frage ist: Wie steht man als katholischer Liturgiewissenschaftler zu dieser neuen Situation? Ich habe in der Tat im Vorfeld gesagt, ich hielte es für sinnvoller, keine völlige Freigabe zu veranlassen. Dass sie kommen würde, wusste ich, weil der damalige Kardinal Ratzinger uns das schon 2001 in einem römischen Gespräch angedeutet hat. Aber ich hatte gehofft, es könnte eine Lösung gefunden werden, die weder die einen noch die anderen in der Schmuddelecke stehen lässt. Man hätte vermeiden können, dass eine Situation geschaffen wird, die, wie ich nun befürchte, nur neue Gräben aufwirft, statt alte zuzudecken und offene Wunden zu heilen.

Deckers:

Martin Mosebach, ihn in Frankfurt vorzustellen hieße, Eulen nach Athen zu tragen. Lassen sie mich dennoch die Eulen kurz in die Hand nehmen: Er wurde 1951 in Frankfurt am Main geboren, hat ein Jurastudium mit zweitem Staatsexamen abgeschlossen und lebt hier seit fast einer Generation als freier Schriftsteller. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. In diesem Jahr wurde ihm der renommierteste Literaturpreis für deutschsprachige Autoren, der Georg-Büchner-Preises zuerkannt. Zu seinem Oeuvre gehört Buch, das im Jahr 2002 unter der Überschrift Häresie der Formlosigkeit erschien, in diesem Jahr kam eine erweiterte Neuausgabe heraus, die sich so gut verkauft wie nie, mittlerweile in der wievielten Auflage?

Martin Mosebach:

Immerhin in der siebten.

Deckers:

Die Widmung lautet, auch das sei verraten, „Für Robert Spaemann, in Dankbarkeit.“ Herr Mosebach, die Bücher, über die Sie in ihrer Häresie der Formlosigkeit räsonnieren, tragen die Unterschrift eines legitimen Papstes. Sie haben diesen Akt, den Akt der Abschaffung einer gewachsenen Liturgie, als einen Akt der Tyrannis beschrieben, und Paul den VI. als einen Tyrannen. Ist die Zeit der Tryrannis am Ende und sind Sie am Ziel?

Mosebach:

Man müsste hier bei diesem schockierenden Wort „Tyrann“ natürlich genau beachten, wie ich das Wort gebraucht habe, nämlich im Sinne der griechischen Antike, in der der Tyrann derjenige war, der einen alten Brauch abschafft. In diesem Sinn ist das geradezu maßgenau der richtige Ausdruck für Papst Paul den VI. Ich möchte jetzt zunächst, bevor ich Ihnen mein kleines, im Gegensatz zu meinen akademisch versierten Vorrednern, nicht frei formuliertes Anfangswort vortrage, noch auf eine Bemerkung von Herrn Professor Gerhards eingehen. Herr Professor Gerhards, ein Austausch eines Introitus-Psalms ist nicht die Art von Reform, die die Gegner der Liturgiereform beklagen. Diese Dinge hat es immer gegeben. Aber, das kann auch ein Liturgiewissenschaftler bestätigen,  es gab bestimmte Traditionsbestände, die überhaupt niemals, in der ganzen Kirchengeschichte, angetastet worden waren, solange wir den christlichen Ritus der Eucharistie kennen: Dazu gehören die Sakralsprache, die Zelebrationsrichtung, die Auffassung der Messe als Opferfeier, das Offertorium. Das war der römische Kanon, wie er im römischen Messbuch in Trient für allgemein verbindlich erklärt wurde. Dass diese Institute angetastet wurden, das sind die Reformen, die wir beklagen, nicht der Austausch eines noch schöneren, noch besser passenden Introitus-Psalms, der auf lateinisch gesungen wird.

Ich habe, weil ich kein Theologe bin, meine kleinen Bemerkungen hier sehr persönlich gehalten. Ich bin während der Jahre der Reform, zwischen 1962 und 1975 etwa, nicht in die Kirche gegangen und habe mich für keine der Veränderungen und für die Gründe, die zu ihren Gunsten formuliert wurden, interessiert. Als ich dann wieder begann, in die Kirche zu gehen, traute ich meinen Augen nicht. Der verlorene Sohn kehrte zurück ins Vaterhaus, aber dort waren die Kälber und die Festmähler abgeschafft. Ich fand kaum mehr etwas davon vor, was ich mit der katholischen Kirche verbunden hatte. Was hatte ich damit verbunden? Hier ist nicht der Raum, das auszubreiten, wie es notwendig wäre. Ich muss mich mit einer Skizze, einem Schlagwort behelfen. Die katholische Kirche war für mich viel mehr als die Verkünderin einer religiösen Doktrin. Sie bestand in ihrem Kern aus einem Ereignis, und dieses Ereignis war ihr Ritus. An diesem Ereignis nahmen lauter Leute teil, die mir aus dem Alltag vertraut waren, aber dies Ereignis selbst hatte nichts Alltägliches. Es war dem Alltag auf die absoluteste Weise entgegengesetzt. Es fand in der Gegenwart statt, aber es war mehr als die Gegenwart. Man verließ in ihm die Gegenwart. Man folgte anderen Gesetzen, man hörte eine andere Sprache, man sang Melodien, die einer anderen als der profanen Melodik neuerer Kunstmusik gehorchten. Und man war weniger Adressat einer Katechese, als Zeuge eines wirkungsmächtigen Vorganges. Eine immer wiederkehrende Formel im Gebet des Priesters fasste diesen Eindruck am schönsten zusammen: „Per omnia saecula saeculorum.“ Übersetzt wurde das „Von Ewigkeit zu Ewigkeit“, wörtlich musste es wohl „Durch alle Zeitalter und Epochen aller Zeiten“ heißen. Und eine andere, häufig wiederholte Formel ergänzte das und sagte: „Wie es war am Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit“ Und damit war der Raum des liturgischen Ereignisses, der Mysterienfeier, wie die alte Kirche sie nannte, beschrieben.

Was für einen Künstler ein durch Anmaßung und Größenwahn bedrohtes Vorhaben wäre, nämlich durch sein Werk den Rahmen der Zeit zu sprengen und seine Leser in andere Zeitdimensionen zu entführen, war für die Kirche Voraussetzung der Vergegenwärtigung des Gottmenschen der, wie es im Credo heißt „aus dem Vater geboren ist vor aller Zeit, der in die Geschichte eintrat, um sich für die Menschen zu opfern und der der Herr der Zukunft und der Ewigkeit ist“.

Vor der Messreform war dies „Aus der Zeit Gerückt-Sein“ in den vielen Formen der Messe spürbar: in der geflüsterten stillen Messe ebenso wie im großen Choralamt, ob es nun in einer Dorfkirche stattfand oder in der Bischofskathedrale. Und diese Essenz des katholischen Christentums sollte nun verboten und mehr noch mit einer Damnatio memoriae belegt werden. Man tat so, als habe erst das II. Vatikanische Konzil das Christentum erfunden, als seien die Menschen, die vor uns gelebt und denen wir unsere Religion verdanken, abergläubische, an Kümmerformen des religiösen haftende Halbheiden gewesen, die wie die von Claude Levi-Strauss in den Traurigen Tropen beschriebenen, aufgeklärten Ethnologen es gesehen hätten, Kulte der Angst und der Unterdrückung zelebrierten.

Es konnte einfach nicht sein, dass die katholische Kirche sich derart restlos von ihrer gesamten Überlieferung, die sie von Anbeginn mit den Kirchen des Ostens verband, trennte. Aber als ein kleiner Kreis von Frankfurter Katholiken, dem ich angehörte, den Bischof um regelmäßige Messfeiern im alten Ritus bat, im Jahr 1984, erlebten wir ein unerhörtes Misstrauen, als sei das, worum wir baten, etwas Gefährliches und Anrüchiges. Papst Johannes Paul II. hatte den alten Ritus im Jahr 1984 unter strengen Beschränkungen wieder zugelassen. Von unserem Bischof erfuhren wir nun, dass es die ekklesiologische Theologie der Kirche verbiete, den alten Ritus, in dem dieser Geistliche selbst geweiht worden war, an einem Sonntag und in einer Pfarrkirche zu feiern. Wenn der vom Bischof mit einer Werktagsmesse betraute Priester dabei eine neues Gesicht, womöglich einen jungen Menschen bemerkte, nahm er ihn beiseite und warnte ihn vor der Teilnahme: Er befinde sich hier nicht in der Mitte der Kirche. Als Teilnehmer der Messe in anderen Frankfurter Kirchen Zettel auslegten, um auf die Messe aufmerksam zu machen, wurde die Drohung ausgesprochen, die Feier der Messe im Wiederholungsfall sofort zu verbieten.

Es konnte nicht ausbleiben, dass dies amtliche Misstrauen, ein priesterliches Gespräch ist den Anhängern des alten Ritus immer verweigert worden, auch auf der Seite der Anhänger des alten Ritus Misstrauen weckte: Handelte es sich bei der Messreform vielleicht wirklich um einen echten Bruch mit der Tradition? War der Ritus Pauls des VI. am Ende gar keine Erneuerung, wie es hieß, sondern doch etwas wirklich Neues, das mit dem Wurzelwerk der Kirche nicht mehr in Verbindung stand?

Wenn Papst Benedikt hier nun Klarheit geschaffen hat und den alten und den neuen Ritus als zwei gleichwertige Formen eines und desselben Ritus definiert, wird das Folgen wohl vor allem für den neuen Ritus haben müssen. Jeder Katholik weiß, dass mit dem Begriff Neuer Ritus eine Fiktion benannt ist: Es gibt inzwischen nicht einen, sondern viele neue Riten, die sich gelegentlich weit entfernt von den Büchern der Kirche entwickelt haben. Wenn der alte und der neue Ritus sich als Ausprägungen ein und desselben Ritus verhalten sollen, dürfen sie sich sehr wohl unterscheiden, aber sie dürfen sich nicht widersprechen.

Was gegenwärtig bei vielen Bischöfen und Theologen Nervosität auslöst ist wahrscheinlich der Umstand, dass sich der alte Ritus als Maßstab für den neuen erweist und bedeutende Revisionen vielerorts notwendig machen wird. Wie leider nicht jeder Katholik weiß, ist die Stellung des Zelebranten am Altar, ob mit der Gemeinde zusammen nach Osten, der alten Gebetsrichtung der Kirche, ausgerichtet oder der Gemeinde gegenüberstehend in ihrer gewichtigen Zeichenhaftigkeit eben keineswegs Gegenstand der Messreform Papst Pauls gewesen, wie so viele andere Zeichen der Sakralität und der Anbetung, die ohne die Autorisation durch den neuen Ritus aus den Gemeindemessen verschwunden sind. Die Wiederzulassung der alten Messe oder besser die Feststellung, dass sie eigentlich niemals verboten gewesen sei, weil ein solches Verbot außerhalb der Möglichkeiten der Kirche lag, müsste von den vielen Förderern des neuen Ritus, die tausend Blumen blühen lassen wollen, anders eigentlich begrüßt werden. Warum sollte man den alten Ritus, der niemandem aufgezwungen wird, nicht vor allem als große Bereicherung empfinden? Wir wollen keine Naivität heucheln, es ist nicht so einfach und es wird nicht so einfach abgehen, denn die Frage, ob sich die heutige Kirche in diesem überlieferten Fest der göttlichen Vergegenwärtigung wiedererkennen kann, ist schicksalhaft für eine Religion, deren Kernbegriff das Wort Überlieferung ist. Ich danke ihnen.

Deckers:

„Ich bin kein Theologe“, schrieb Martin Mosebach, „ich muss als Schriftsteller die Welt aus einem anderen Winkel betrachten." Herzlichen Dank ihnen und auch allen anderen die, seien sie Theologe oder Nicht-Theologe, die Welt aus ihrem Winkel betrachten. Das Terrain, auf dem wir uns bewegen, ist vermessen. Gleichwohl, lassen sie mich kurz noch einige Koordinaten bestimmen:

Was wollte das Konzil? Was macht der Papst? Was machen die Bischöfe? Am 4. Dezember 1963 verabschiedet das Kollegium der Bischöfe der Weltkirche eine Konstitution, aus der ich vier wegweisende, Maßstab setzende Sätze zitieren möchte.

Erstens: „Bei der Erneuerung der Liturgie sollen Texte und Riten so geordnet werden, dass sie das Heilige, dem sie als Zeichen dienen, deutlicher zum Ausdruck bringen und so, dass das christliche Volk sie möglichst leicht erfassen kann und in voller tätiger und gemeinschaftlicher Teilnahme mitfeiern kann.“

Der zweite Satz: „Bei den liturgischen Feiern soll jeder, sei er Liturge oder Gläubiger, in der Ausübung seiner Aufgabe nur das und all das tun, was ihm aus der Natur der Sache und gemäß den liturgischen Regeln zukommt.“

Der dritte Satz: „Die Riten mögen den Glanz edler Einfachheit in sich tragen und knapp, durchschaubar und frei von unnötigen Wiederholungen sein. Sie seien der Fassungskraft der Gläubigen angepasst und sollen im Allgemeinen nicht vieler Erklärungen bedürfen.“

Der vierte und letzte Satz: „Der Gebrauch der lateinischen Sprache soll in den lateinischen Riten erhalten bleiben, soweit nicht Sonderrecht entgegensteht.“

Schon wenige Monate nach der Verabschiedung des Konzildokumentes kommt eine Gruppierung ins Spiel, die es in dieser Form erst seit dem II. Vatikanischen Konzil gibt, die Bischofskonferenz. Denn ihnen, den Bischofskonferenzen, überlässt Paul VI. etwa die Zuständigkeit für die Zulassung der Muttersprache, die Kommunionsspende und die Darreichung der Krankenkommunion durch Laien. Die Ritenkongregation lässt 1969 auf Bitten der deutschen Bischofskonferenz die Handkommunion für Deutschland zu. Auch hier gibt es Akteure, mit denen das Konzil, die Konzilsväter möglicherweise noch nicht so gerechnet hatten, wie sie sich später als Akteure herausstellten. Die Editio Typica des neuen Missale Romanum, von Paul VI., einem legitimen Papst, unterschrieben, ersetzt die Editio Typica von 1962 ja die von 1970. Aber was geschieht dann? Nach einer Übergangszeit wird das alte Missale verboten. Die Interpretation ist umstritten: Ein Kurienkardinal namens Ratzinger schreibt 1998 zurückblickend: „Das nunmehr erlassene Verbot des Missale hat einen Bruch in die Liturgiegeschichte getragen, dessen Folgen nur tragisch sein konnten.“ In einem Motu Proprio des Jahres 2007 schreibt ein Papst Benedikt XVI., alias Joseph Ratzinger: „Was nun die Verwendung des Messbuchs von 1962 als forma extraordinaria der Messliturgie angeht, so möchte ich darauf aufmerksam machen, dass dieses Missale nie rechtlich approbiert wurde und insofern im Prinzip immer zugelassen war.“ Die Verwirrung ist groß.

Die deutschen Bischöfe haben mittlerweile die Laienpredigt zugelassen, das war ein Thema bei der gemeinsamen Synode. Die Begründung: Priestermangel. Aber es gibt  auch Fortschritte: einen gemeinsame Heiligenkalender der Bistümer des deutschen Sprachgebietes, 1975 die deutsche Ausgabe des neuen Messbuches. Aber 1983 schreiben die deutschen Bischöfe mit einem leichten Anflug von Skepsis: „Niemand konnte 1963 zum Beispiel wissen, dass die im Sinne größerer Durchsichtigkeit und Verständlichkeit an den Ursprüngen orientierte Erneuerung bei ihrer Verwirklichung in den Gemeinden zeitlich mit einer neuen Welle der Aufklärung in unserer Gesellschaft und einer sprunghaft anschwellenden allgemeinen Reformeuphorie zusammenfallen würde.“ Johannes Paul II. zieht 1984 die Konsequenz und ermöglicht die Verwendung des Messbuchs von 1962 unter bestimmten engen begrenzten Umständen. 1988 kam als Reaktion auf die Bischofsweihe unter den Anhängern des Erzbischofs Lebfèvre die Aufforderung an alle Bischöfe, sie möchten den Bitten, die Feier der Liturgie nach dem alten Ritus zu erlauben, weitherzig und großzügig nachkommen. 1998, zehn Jahre später, schreibt ein Kurienkardinal namens Joseph Ratzinger: „Ich bin überzeugt, dass die Kirchenkrise, die wir heute erleben, weitgehend auf dem Zerfall der Liturgie beruht.“ Werden hier Ursache und Wirkung verwechselt, Professor Angenendt was sagen Sie als Historiker?

Angenendt:

Ja. Ich nehme gerne Stellung. Also Herr Mosebach, wenn Sie von Zeitenthobenheit reden, dann finde ich das genau richtig. Aber die Konsequenzen, die Sie ziehen, die teile ich nicht. Nehmen wir zum Beispiel  die Formulierung: „Wie es war im Anfang so auch jetzt und in Ewigkeit“. Das beten wir ja fortwährend. Aber ich frage: Ist das überhaupt christlich? Erlösung ist nicht die Wiederherstellung des Verlorengegangenen, sondern reicht darüber hinaus. "Jetzt und in alle Ewigkeit" ist eine Formel, der man mit Blick auf die Religionsgeschichte ein christliches Fragezeichen anfügen muss, weil zwischen Anfang und Ewigkeit eine "Besserung" verheißen ist.

Weiter! Die Sakralsprache: Die römische Gemeinde hat bis ins vierte Jahrhundert hinein Griechisch gesprochen. Papst Damasus (†384) hat endgültig die lateinische Liturgie eingeführt. Wieso sollen wir es mit nur einer Sprache zu tun haben? Die slawischen Sprachen sind alle Liturgiesprachen geworden. Mit der Sprache ist die Christenheit frei und unbefangen umgegangen. Es ging um die Verständlichkeit der Liturgie. Ich erinnere daran, dass das erste Christengebot heißt: „Gott lieben mit ganzem Herzen, mit aller Kraft und deinem ganzen Verstand.“ Es kommt hier nicht primär auf eine mystische Sprache an, die man nicht versteht. Geheimnisvolle Sakralsprache ist übrigens ein Phänomen, das es in allen Weltreligionen gibt, das aber nicht eigentlich christlich ist. Das Christentum will verstanden werden. Das ist die Änderung gegenüber Religionen, wo man Gebet nicht verstehen muss.

Nächster Punkt. Wie steht es mit der „Orientierung“, der Ausrichtung nach Osten.  Die römische Liturgie spricht von circumstantes, also den Umstehenden. Wer war denn da „orientiert“, d.h. nach Osten ausgerichtet? Sie standen im Kreis! Ratzinger hat sehr oft Augustinus erwähnt, der zu seiner Gemeinde sagt: „Ich bin mit euch Christ und für euch Bischof.“ Und wenn ich, Arnold Angenendt, vorne am Altar stehe, gucke ich nicht in die Gemeinde – das wäre doch entsetzlich. Aber mir geht es um die Gemeinde. Ich bin für die Gemeinde da, mit der Gemeinde bin ich Christ, und zusammen mit der Gemeinde bringe ich das Messopfer dar. Bei dem geistigen Opfer habe ich als Zelebrierender überhaupt keinen Vorrang. Da geht’s um mein Heil wie um das Heil eines jeden und jeder anderen auch. Indem ich mich da vorne hinstelle, bin ich sogar im Heil mehr gefährdet als die Anderen, weil ich „vorstehe“.

Nächster Punkt:  Mundkommunion. Jetzt sage ich natürlich Dinge, die emotional sind. Ich bleibe historisch. Mundkommunion gibt es ziemlich präzise seit dem Jahr 800. Damals hat man eine große Leistung des Jesus von Nazareth wieder aufgehoben. Diese große Leistung bestand darin, dass er das Christentum von den Vorstellungen kultischer Unreinheit befreit hat. Das ist heute kaum mehr bewusst. In der Stadt Münster kommen viele Leute, Ausländer, die knien sich beim Kommunizieren hin. Selbstverständlich reiche ich denen die Mundkommunion – warum nicht? Ich werde doch niemandem einen Vorwurf machen, der die Hand hinhält.  Dass man im Mittelalter die Handkommunion abschaffte, hatte seinen Grund darin, dass sie bei verheirateten Leuten unrein war. Deswegen wurde die Mundkommunion eingeführt. Und wenn schon auf die Hand, dann musste vorher ein Tüchlein draufgelegt werden. Hier treffen wir auf das, was Mary Douglas die Pollutio genannt hat. Pollutio heißt, wer Sexualstoffe berührt, ist unrein, ist kultunfähig. Und der wirkungsvollste Sexualstoff, der kultunfähig macht, ist das Menstruationsblut. Lesen Sie das nach im Buch Levitikus. Das Christentum hat sich davon freigemacht. Und jetzt, im frühen Mittelalter, lebt das wieder auf. Selbst eine Nonne darf keine Kirchwäsche waschen. Der Opfergang, bei dem alle bis dahin Brot und Wein zum Altar brachten, wird abgeschafft, weil die verheirateten Leute ja beschmutzte Hände hatten. Also dürfen sie keine Opfergaben mehr zum Altar bringen. Was macht man? Man wählt Opfergaben aus, was die Diakone nun tun, oder es müssen vorpubertäre Knaben die Gaben von der Kredenz zum Hauptaltar bringen. In meinem Doktorandenkreis haben wir das Thema Pollutio ausführlich behandelt.

Wir sind der Meinung, dass im Christentum ursprünglich Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern herrschte. Aber die Wiederbelebung der Unreinheitsvorstellungen, die gerade die Frauen betrafen, die hat die Frauen vom Altar entfernt, das hat sie zurückgesetzt. Konsequenz: Wer mit dem Mund kommuniziert – selbstverständlich! Wer mit der Hand kommuniziert – ebenso selbstverständlich! Wer aber aus der Mundkommunion eine Doktrin macht: „So und nicht anders“, sollte sich urchristliche Vorgeschichte dieser Praxis bewusst sein.

Aber jetzt kommt mein gewichtigstes Argument. Es betrifft den römischen Messkanon, den Hochgebetstext nach dem Sanctus. Dort heißt es: „Dich gütiger Vater bitten wir durch Jesus deinen Sohn, unseren Herrn, wir bitten dich demütig und flehend, dass du annimmst und segnest diese Gaben." Das lateinische munera bedeutet ja eigentlich Abgabe, Steuerlast, wofür man aber etwas zurückbekommt. Und was geschieht jetzt? Der Kanon wird im fünften Jahrhundert aufgesprengt, und es werden Bitten eingeschoben. Die Logik ist klar. Ich habe etwas dargebracht, und wenn ich was dargebracht habe, werde ich zum Lobbyisten, der eine Gegenleistung erwartet. Nach dieser allgemein religiösen Logik muss ich weiter den Göttern oder dem Gott denjenigen benennen, für wen diese Gaben dargebracht werden, damit der Gott weiß, wem er etwas zurückgeben muss. So folgt jetzt im Kanon: Zuerst für die Kirche, dann für die Lebenden, für die Toten und so weiter. Nach diesen drei Gebeten, die eingeschoben sind, kommt dann der Anschluss an das, was ich vorhin vorgelesen und übersetzt habe: "diese Gabe mögest Du, Gott, in allem gesegnet sein lassen"; dabei folgt das Wort rationabilis, was hier das geistige Opfer, nämlich Römer 12,1, meint.

Nachdem ich das einmal bei Pascher in München mitbekommen hatte, da konnte ich das römische Hochgebet nicht mehr einfach so naiv herunterbeten. Ich wusste ja, was da geschehen war: Ein Rückfall in vorchristliche Opfervorstellungen. Ich hab dann den ersten Text halblaut gesprochen, das Eingeschobene leise und dann wieder laut angesetzt, um den einen Satz, der das römische Hochgebet einmal war, wieder herzustellen. Wenn man das römische Hochgebet heute betet und auch nur ein liturgiewissenschaftliches Buch aufgeschlagen hat, wie das von Josef Andreas Jungmann, dann kann ich nicht mehr den Text unbefangen runterbeten, sondern da muss man geradezu salti mortali machen.

Der vielleicht böseste Einschub betrifft die circumstantes, deren „Glaube Dir bekannt ist, o Gott“. Gemeint waren ursprünglich  alle zusammen, die Laien, die Männer, die Frauen, der Priester, die Messdiener, alle, die dieses Opfer darbrachten. Das ist die Communio aller, das geistige Opfer. Und was hat man in karolingischer Zeit daraus gemacht? „Wir, Priester, wir opfern für das Volk.“ Da ist die Communio zerstört. Da ist die alte Einheit verschwunden, bei der die ganze Gemeinde ihr Opfer darbringt. Lesen Sie mal Ratzinger: „Es gilt einzig und allein, sich selber darzubringen.“ Genau das wurde verwischt. Beim Priester konnte man nun Messen bestellen, millionenfach; die Leute waren gar nicht mehr anwesend; auf sie kam es letztlich nicht mehr an. Eine Schätzung: in Italien rechnet man für einzelne Diözesen mit hunderttausend Messfeiern, die von Priestern, die gerade mal Latein konnten, aber gar nicht mal richtig ausgebildet waren, einfach runterlas. Es ging um Messstipendien und gestiftete Messen, sogar um Geld. Für das Geld musste eine Gegenleistung erbracht werden. Man schätzt, dass von der italienischen Kunst dreiviertel religiös ist und von diesen Dreivierteln religiöser Kunst sind dreiviertel gestiftet, damit diese Messen, die der Priester für andere darbrachte, gefeiert werden konnten. Ist das die Eucharistie der armen Kirche?

Deckers:

Herr Angenendt hat den Beifall abgewunken, aber ich sehe schon, wie Herr Mosebach sehr konzentriert seine Ausführungen verfolgt hat.

Mosebach:

Ja, ich muss ihnen da ganz klar widersprechen. Es geht um etwas anderes. Es geht um Ehrfurcht. Sie sehen das beispielsweise an den Kommunionbräuchen der ganzen Ostkirche. Hier sehen Sie, wie in vielen Einzelriten die größte Ehrfurcht vor den gewandelten Spezies zum Ausdruck kommt.

Angenendt:

Was ich niemals leugnen würde, um Himmels Willen!

Mosebach:

Das sind liturgische Vorschriften, die bis zum äußersten Zeitpunkt zurückgehen, zu dem wir überhaupt gelangen können. Das ist wirklich authentisches frühes Christentum! Ein koptischer Christ empfängt die Kommunion barfuss. Er legt die Schuhe ab. Er nimmt das Tüchlein. Warum die Mundkommunion? Nicht weil die Hand unrein ist, Herr Angenendt. Der Priester selber muss die Hand ja reinigen. Der Priester selber darf, nachdem er die Hostie berührt hat, ja nichts anderes mehr anfassen, sondern er muss die Finger abluieren, d.h. abspülen, damit er keine Partikel verunehrt. Die Gläubigen empfangen die Mundkommunion, weil sie nicht die Gelegenheit haben, die Hände abzuspülen. Das ist der einzige Grund. Das ist der einzige Grund!

Angenendt:

Eine Sache zur Erklärung. Die mittelalterliche Messe war angefüllt mit Gebeten folgender Art: „Ich unwürdiger Priester, der ich so schmutzige Hände habe, die Hände sind beschmutzt wie das Tuch einer Menstruierenden.“ Es gibt zahllose Gebete dieser Art. Da hat man den eindeutigen Hintergrund. Und seitdem ich das weiß, kann ich da nicht mehr mitmachen. Wenn Leute sich zur Mundkommunion hinknien, habe ich damit kein Problem, aber wenn Leute daraus eine Doktrin machen, muss ich sagen: Das ist der Widerruf eines großen Durchbruchs, den unser Herr Jesus Christus geschafft hat.

Mosebach:

Hier steht nicht Reinheit und Unreinheit des Menschen im Vordergrund. Hier geht es einzig darum, wie man beim Kommunionempfang, mit den konsekrierten Partikeln der Hostie umgeht. Das ist das Einzige, was hier im Vordergrund steht. Die Reinheit interessiert hier gar nicht.

Angenendt:

Also, die Ehrfurcht vor den Partikeln selbstverständlich, aber der andere Hintergrund ist evident.

Deckers:

Herr Gerhards!

Gerhards:

Unabhängig davon ist es natürlich nicht richtig, dass diese Bräuche, deren spirituelle Bedeutung ja gar nicht in Abrede gestellt wird, seit alter Zeit so waren. In der alten Kirche nahmen sich die Laien die Kommunion sogar mit nach Hause. Durch die Mitfeier der Eucharistie wurden die Sinne gesegnet. Das heißt, man hat ganz bewusst die Eucharistie mit dem Körper in Verbindung gebracht, weil man glaubte, dass die Eucharistie ein Pharmakon ist, eine „Arznei der Unsterblichkeit“. Und mit einer  Arznei muss man in Berührung kommen und sie schließlich einnehmen. Ich finde es etwas problematisch, wenn wir uns jetzt über Handkommunion streiten. Für die meisten Gläubigen ist die Handkommunion die wirklich angemessene Weise, mit größter Ehrfurcht die Kommunion zu empfangen. Ich denke zum Beispiel an meine verstorbene Mutter, die den größten Teil ihres Lebens die Mundkommunion empfangen hatte. Aber ich kann mich noch gut erinnern, wie sie die Handkommunion  begrüßte. Hier ist doch nichts vorgeschrieben. Warum müssen wir das eine gegen das andere ausspielen? Die eine präferiert die eine Weise, der andere die andere. Die spannende Frage lautet: Wie wird es jetzt gehalten, wenn bei Messfeiern nach dem tridentinischen Usus Leute kommen, die die Handkommunion empfangen wollen. Wie geht man damit um? Das wäre zum Beispiel eine Frage, die man den Bischöfen stellen muss.

Deckers:

Hier werden wir noch auf manche Paradoxa stoßen können, die sich nach der neuen Regelung auftun. Möglicherweise werden wir sie heute Abend nicht alle diskutieren. Mir stellt sich eine viel grundlegendere  Frage: Geht es eigentlich um Feinheiten der Liturgiewissenschaft, um historische Erklärungen, warum das eine so geworden ist, das andere so, wie man einen Ritus, eine Geste, eine Mimik interpretieren muss, um sie richtig historisch einordnen zu können, oder worum geht es eigentlich in diesem immens kirchenpolitischen Akt der Rehabilitation der alten Liturgie? Kann man diesen kirchenpolitischen Akt überhaupt mit den Mitteln  der Liturgiewissenschaft beantworten oder mit den Mitteln der Kirchenhistorie? Herr Spaemann.

Spaemann:

Ich glaube, dass es wenig bringt, bei alten Gebräuchen die Komponenten, die Assoziationen, die Menschen vor vielen Jahrhunderten damit verbunden haben, jetzt ins Spiel zu bringen. Für mich macht es wenig Sinn, längst verschwundene Denkweisen zu rekonstruieren, um liturgische Formen zu diskreditieren, die, weit von ihrer Genese entfernt, einen guten und bleibenden Sinn bekommen haben. Kein Mensch denkt doch heute an Menstruationsblut, wenn er den Mund aufmacht bei der Kommunion. Ich meine, das mag alles für Fachleute interessant sein, aber für unsere Fragen trägt es eigentlich meiner Meinung nach überhaupt nichts bei.

Ich will etwas zu einigen Punkten bemerken, die Herr Angenendt genannt hat. Zunächst einmal hatte diese Form, mit der Paul VI. die neue Messe eingeführt hatte, den Charakter eines Oktroy. Die Bischöfe haben damals nicht zugestimmt, als Paul der VI. eine so genannte Missa normativa in der Sixtinischen Kapelle hat feiern lassen. Die Bischofssynode war da versammelt, und nur eine Minderheit, eine große Minderheit von Bischöfen hat uneingeschränkt dieser Form zugestimmt. Wobei ich selber übrigens ein großes Problem mit einer solchen Messfeier habe, die dazu veranstaltet wird, dass man zuguckt und hinterher sagt, wie man das gefunden hat. Ich finde das nicht die richtige Weise mit der Messe umzugehen. Schauen wir uns einmal die actuosa partizipatio an, die „tätige Teilnahme“ Da soll nun, jeder seinen Part übernehmen. Ja gut, die gibt es sowohl in der neuen Liturgie wie in der alten.

In meiner Kindheit, ich war ein Ministrant, habe ich nichts Anderes erlebt, als aktive Teilnahme, außer gelegentlich auf dem Dorf bei meiner Großmutter, wo die liturgische Praxis etwas eingeschränkt war. Normalerweise habe ich erlebt, dass die Gemeinde das Choralamt sang, dass die Kinder schon das Kyrie und das Gloria schmetterten.  Zu sagen, sie hätten das nicht verstanden, ist nun wirklich Unsinn. Die feststehenden Teile der Messe hat man selbstverständlich gekannt und verinnerlicht. Die wechselnden Teile, Epistel und Evangelium, wurden wenigstens sonntags immer auch auf deutsch vorgelesen. Rosmini, der im 19. Jahrhundert die Entfernung von Priester und Volk beklagt, sagt: „Die Abschaffung des Lateinischen ist nicht die Lösung des Problems, sondern die Einführung zweisprachiger Messbücher“, und er hat dann die Vorzüge des Lateinischen als Kultsprache hervorgehoben. Was den Osten betrifft, ja, die Leute feiern die Messe nicht auf Russisch oder auf Serbisch, sondern auf altslawisch. Regelmäßig wird aus der Volkssprache eine Kultsprache. So ist für die Moslems Arabisch die Kultsprache. Übrigens feiern auch die Griechen ihre Liturgie nicht in Neugriechisch, sondern in Altgriechisch. Das heißt, wir treffen überall auf eine Kultsprache, die praktiziert wird und die verstanden wird.

Noch eine Bemerkung zur Rolle des Priesters. Der alte Kanon bringt es ganz klar zum Ausdruck, beim Opfer handelt es sich immer um ein gemeinsames Opfer von Priester und Volk. In einem alten Kirchenlied aus dem 19. Jahrhundert heißt es: „O Herr nimm an die Gaben aus deines Priesters Hand“. Das heißt, es ist immer Lehre der Kirche gewesen, dass das Volk opfert. Die Oratoriumsgebete, das sind reine Priestergebete. Da spricht der Priester in Ich-Form. Im ersten Kanon der römischen Messe sagt er: „Wir deine Diener, aber auch“, wir, die Priester, „aber auch dein heiliges Volk bringen dir diese Opfergabe dar.“ Und es war immer Lehre der Kirche, dass diese Darbringung durch die Gemeinde geschieht, die Gemeinde ist Subjekt und Träger, aber sie kann das Opfer nur durch die Hand des geweihten Priesters darbringen. Das ist nach wie vor katholische Lehre. Und damit ist ganz klar, dass die Rollen verteilt sind. Das bedeutet aber nicht, dass nur der Priester und nicht die Gemeinde opfert. Und wenn es mit dem alten Kanon so schlecht bestellt wäre, wie kommt es dann, dass der gegenwärtige Papst bei allen öffentlichen Gottesdiensten, die ich bisher erlebt habe, den ersten Kanon nimmt, den römischen Kanon. Und wie kommt es, dass er in unseren normalen Pfarrkirchen so gut wie nie benutzt wird? Das heißt, man muss in die alte Messe gehen, um den ersten römischen Kanon zu finden, mit wenigen Ausnahmen. Er ist nicht verboten, aber es wird von ihm kein Gebrauch gemacht. Bis heute gilt aber das Anathema des Trienter Konzils für jeden, der sagt, es gebe im römischen Messkanon Irrtümer. Und was die aktive Teilnahme betrifft, da sehe ich  nichts Neues. Die neue Messe hat überhaupt nicht die aktive Teilnahme vermehrt. Ich gehe ja nun meistens in die alte Messe, da singt die Gemeinde die ganze Zeit alle Teile der Messe, von Kyrie bis zum Agnus Dei, ich weiß nicht, worin die aktive Teilnahme sonst noch bestehen soll. Vielleicht dass der Kommunionhelfer entgegen der römischen Instruktion auch dann, wenn überhaupt keine Notwendigkeit besteht, die Kommunion austeilt, oder dass der Lektor kein Priester ist. Ja nun gut, damit bin ich genau so wenig beteiligt. Ob da vorne nun jetzt der Lektor ein Diakon oder Subdiakon ist oder ein Laie, dieser Laie, das bin ja nicht ich und ich bin durch den nicht mehr repräsentiert als durch den Priester. Im Gegenteil.

Nun aber zu Ihrer Grundsatzfrage nach der Bedeutung historischer Argumente aus der Liturgiegeschichte Herr Deckers: Meiner Ansicht nach sind historische Argumentationen nur mit der Kenntnis der ganzen Geschichte sinnvoll. Aus dem Zusammenhang gerissen kann man natürlich die abstrusesten Assoziationen vorführen. Aber es ist nun einmal in der Geschichte so, das hat schon Pareto, der große italienische Soziologe gezeigt, wenn er von Residuen und Derivationen sprach: es gibt Formen, Gesten, Texte, die längst die Anrüchigkeit ihres Ursprungs abgestreift haben und die inzwischen eine aufgeklärte christliche Interpretation gefunden haben und seit Jahrhunderten mit dieser praktiziert werden. Es nützt uns gar nichts zu hören, dass Menschen irgendwo im Mittelalter Vorstellungen hatten, die uns heute natürlich seltsam vorkommen. Im Vergleich zur Antike war das Mittelalter eine kindliche Zeit, eine Jugendkultur. Man kann es überhaupt nur verstehen, wenn man sieht, dass es eine Jugendkultur war.

Gerhards:

Da kommt aber unsere Messe her, aus dem Mittelalter. Die Messe, die sie so verteidigen, stammt  in den größten Teilen aus dem Mittelalter.

Mosebach:

Das heißt: Aus einer Jugendkultur. Aber das Urchristentum war auch eine Jugendbewegung. Aber ich möchte doch fragen: Wieso stimmt die römische Liturgie dann in so großen Teilen mit der Orthodoxie überein?

Gerhards:

Woher wissen Sie das?

Mosebach:

Weil ich das überprüft habe.

(Applaus, Lachen im Publikum)

Gerhards:

Wo finden Sie zum Beispiel diesen von ihnen so vermissten Opfergedanken der Offertorialgebete der römischen Liturgie in den Ostkirchen? Sie finden ihn dort nicht. Das ist eine spezifisch römische Sache, genauer: sie ist in der Phase der Weiterentwicklung der römischen Liturgie auf fränkischem bzw. germanischem Boden entstanden. Die ostkirchlichen Hochgebete haben eine ganz andere Opferterminologie als die römische Tradition, zumindest in dieser späteren Entwicklungsstufe.  Gott sei Dank treffen wir in der Frühzeit auf eine große Gemeinsamkeit. Die Liturgiereform hat ja ganz bewusst daran angeknüpft. 1968 lag ein Band  Prex Eucharistica vor, eine Sammlung aller wichtigen Hochgebete des Ostens und Westens. Man hat sie miteinander verglichen und auf dieser Basis die neuen Hochgebete formuliert. Mein Lehrer Balthasar Fischer sagte: Eine der großen Errungenschaften der Liturgiereform war die Orientierung an den orientalischen Traditionen. Dies gilt zum Beispiel auch für die neue Spendeformel des Firmsakraments, die ja nichts anderes ist als die alte ostkirchliche Formel. Sie ist jetzt von der westlichen Kirche übernommen worden. Das Motu proprio schafft die kuriose Situation, dass zwei Firmriten nebeneinander stehen: der alte römische mit einer unspezifischen Spendeformel, die nur den Salbungsritus kommentiert, und der neue Ritus, der die Wirkung des Sakraments, nämlich die Gabe des Geistes, als solche auch benennt.

Mosebach:

Da kann ich nur staunen, Herr Gerhards. Wie kommt es dann, dass die orthodoxe Geistlichkeit, die orthodoxen Bischöfe, das Gemeinsame in der reformierten Liturgie nicht mehr wiederfinden können? Und mehr Opfertheologie als bei der orthodoxen Proskomidie, die ganz an den Anfang der Liturgie gehört, ist wohl schwer möglich. Da wird das Opferbrot mit einer Lanze durchbohrt und dies vor dem Kanon. Übrigens ist das Latein in der römischen Liturgie keineswegs als Volkssprache eingeführt worden. Das Latein ist als Sakralsprache eingeführt worden, als hochentwickelte Sakralsprache. Die lateinischen Orationen von Hieronymus waren dem lateinisch sprechenden Volk gar nicht ohne Weiteres verständlich.

Deckers:

Ich glaube, was diese Fragen angeht, da werden wir nicht nur einen Abend brauchen, um sie zu beantworten.

Spaemann:

Darf ich etwas sagen…

Deckers:

Herr Spaemann

Spaemann:

Es wäre vielleicht gut, auf zwei Dinge zu achten. Zunächst einmal, es wird durch das Motu Proprio ausdrücklich missbilligt, wenn die eine oder die andere Seite den anderen Ritus für ungültig oder auch für unerlaubt oder sogar für in sich irgendwie schlecht bezeichnet. Das soll nicht sein. Da gibt es eine gewisse Bringschuld auf beiden Seiten. Es ist so, dass vor allen Dingen bei den Anhängern des Erzbischofs Lebfèvre die Diskriminierung der neuen Liturgie sehr weit fortgeschritten ist. Umgekehrt sind die Anhänger der alten Liturgie Diskriminierungen ausgesetzt gewesen. Lange Zeit hat man in keiner katholischen Akademie das Thema je aufs Katheder gebracht. Dass wir in Deutschland das Thema auf der Tagesordnung haben, ist übrigens im Wesentlichen Herrn Mosebachs Verdienst, dessen Buch plötzlich bewirkt hat, dass man anfängt öffentlich darüber zu reden. Es soll das Gegeneinander aufhören, das will ja gerade der Papst, durch ein wirklich gutwilliges Verhältnis des einen zu dem anderen. Dazu gehört allerdings, dass bei der Genehmigung der alten Messe, es auch nicht mehr angebracht ist, Priester damit zu beauftragen, die das als Pflichtübung absolvieren und die Priester, die es gerne täten davon fern hält, damit da nur ja keine Ansteckung stattfindet. Auch der seelsorgliche Erfolg, der sich mit der alten Liturgie verbindet, braucht Priester, die aus der Spiritualität dieser Feier leben. Das kann man überall beobachten. Ich glaube, dass es kein Zufall ist, dass dort, wo die alte Messe gefeiert wird, die Leute sich vor der Kommunion fragen, ob sie in dem Zustand sind, wo sie ungebeichtet kommunizieren sollten. Die Ostkirche ist darin ganz streng. In der Ostkirche muss man überhaupt vor jeder Kommunion beichten. Das haben wir im Westen nicht, Gott sei Dank! Es gibt im Westen seit Pius X. die allgemeine Kommunion der Gläubigen in jeder Messe. Aber unter einer Bedingung, die nicht jeder von uns jeder Zeit erfüllt. Die Frage, ob man nicht vor der Kommunion beichten sollte, stellt sich derzeit kaum jemand. Und warum ist es so, dass dort, wo die alte Messe gefeiert wird, ein klares Bewusstsein davon besteht, dass vor der Kommunion die Frage steht, „Bin ich mit Gott versöhnt?“. Und so könnte ich viele Dinge nennen, die es sinnvoll erscheinen lassen, Priester zu beauftragen, die den alten Ritus wirklich gerne feiern und ihn wirklich mit Geist erfüllen.

Da sagt nun das Motu Proprio Folgendes: Es muss von den Priestern, die die alte Messe feiern, verlangt werden, dass sie die neue Messe anerkennen, und das nicht nur verbal, sondern realiter. Das wirft eine wichtige Frage auf, die auch schon in der Vergangenheit immer wieder aufgetaucht ist: Worin besteht diese Anerkennung und wie sollte sie dokumentiert werden. Wie solle eine solche glaubhafte Dokumentation der Anerkennung der neuen Messe aussehen? Besteht sie darin, dass der Priester in diesem Ritus zelebriert oder konzelebriert? Viele Bischöfe sehen das so. Meiner Ansicht nach zu unrecht. Das kann man nicht verlangen. Das wäre eine Zumutung für einen Priester, der bestimmte Ehrfurchtsgesten gewohnt ist. Zum Beispiel wenn er die Hostie angefasst hat dann für den Rest der Messe bis zur Kommunion die Finger zusammen zu legen. Das sind Gesten, kleine Gesten in denen sich eine Ehrfurcht ausdrückt. Für mich gehört sich das so. Was verlangt man von einem solchen Priester wenn man ihm sagt: „Ja, ja, das machst du zwar normalerweise, aber jetzt musst du es lassen!“

Gerhards:

Es ist nicht verboten. Das darf man ohne Weiteres machen.

Spaemann:

Es ist aber im neuen Ritus doch wie ein Fremdkörper. Ich wollte etwas vorschlagen. Die alte Kirche kannte eine Dokumentation der eucharistischen Gemeinschaft dadurch, dass der Eine beim Anderen zur Kommunion ging und, dass die Bischöfe ihre konsekrierten Hostien austauschten. Dies war zum Beispiel in Nordafrika so. Etwas Vergleichbares könnte heute auch geschehen. Es sollten Priester, etwa die Mitglieder der Petrusbruderschaft, die die alte Messe feiern, einmal in der Messe des Bischofs zur Kommunion gehen, wenn sie von ihm beauftragt werden wollen. Das ist eine zweifelsfreie Dokumentation der Loyalität. Und wenn sie den Tabernakel benutzen und dort Hostien entnehmen, weil sie nicht genügend konsekrierte Hostien haben, dann müssen sie darüber hinaus die Hostien nehmen, die in einer vorhergehenden Messe im neuen Ritus konsekriert worden sind. Das entspricht dem Tausch der Hostien in der frühen Kirche. Und das muss genügen. Das allerdings muss gefordert werden. Priester, die das nicht tun, können nicht mit der Feier der alten Messe betraut werden.  Aber mehr sollte man von ihnen nicht verlangen. Wenn zum Beispiel in meiner Kindheit, als ich Ministrant war, ein Dominikaner in unserer Kirche vertretungsweise die Messe las, ist niemand auf die Idee gekommen, zu sagen: „Ja hier musst du aber jetzt die römische Liturgie feiern“, sondern er feierte seine dominikanische Liturgie. Ich musste als Ministrant schnell ein bisschen umlernen und die Gemeinde fand das schön. Das war eine Bereicherung. So wie man auch gerne die byzantinische Liturgie gelegentlich erlebte. Man muss das mal von der Chance aus sehen: Wenn eine Gemeinde, die immer den neuen Ritus feiert und da ist aushilfsweise ein Priester der im alten Ritus zelebriert, das ist doch schön. Da lernt die Gemeinde eine andere ehrwürdige Form der römischen Liturgie kennen. Ich glaube, man muss sich hierüber Gedanken machen: Was kann man verlangen, was muss man verlangen und was darf man nicht verlangen?

Deckers:

Herr Spaemann hat schon ein wenig den Blick in die Zukunft geworfen. Aber lassen sie mich an den letzten Gedanken noch ein wenig anknüpfen. Sie sprachen von einer Vielzahl von Riten oder von Variationen ein und desselben Ritus, das waren ja die Riten der Orden. Das gab es schon einmal, ist dann aber mit dem II. Vatikanischen Konzil verschwunden. Aber an die Stelle dieser Varianten, so habe ich Herrn Mosebach verstanden, ist ja nicht ein neuer Ritus getreten, sondern eine Vielzahl von Spielformen. Priester, Mitglieder von Liturgieausschüssen und sonstige Akteure, so habe ich es einmal polemisch ausgedrückt, vollführen im Altarraum nun ihre Rollenspiele und erfinden Sonntag für Sonntag neue Liturgien. Sie bereichern, die liturgischen Gesten, die liturgische Sprache mit ihren Kommentaren und kreativen Neuschöpfungen, so dass man letztlich nicht mehr so genau weiß, was denn nun der eigentliche Ritus ist, was ist die Substanz, und was ist eine Beifügung. Treffen wir hier nicht das eigentliche Problem, das auch Benedikt XVI. nicht nur in dem Motu Proprio, sondern auch in vielen seiner früheren Schriften formuliert hat: das Stichwort heißt: Kreativität. Er sagt: „Die einen sehnen sich nach der vertrauten Gestalt der heiligen Riten und wollen die Rückkehr zum alten Usus.“ Aber damit wäre das Problem ja nicht gelöst. Es besteht darin, dass das neue Missale vielerorts nicht seiner Ordnung getreu gefeiert, sondern geradezu als eine Ermächtigung oder gar Verpflichtung zur Kreativität aufgefasst wurde, die zu kaum erträglichen Entstellungen der Liturgie führte. Können Sie, Herr Angendendt dieser Analyse zustimmen oder halten sie das für überzogen? Ist der Papst möglicherweise Opfer eines Tunnelblicks?

Angenendt:

Wie die römische Liturgie am Anfang aussah, wissen wir nicht. Josef Andreas Jungmann sagt: „Wir haben keine Vorstellung.“ Im dritten Jahrhundert kann noch gesagt werden: „Das Hochgebet formuliert der Priester selbst“. Es liegt nicht fest; das muss man nicht auswendig lernen, da kommt’s gar nicht auf Wörter an, die so und nicht anders gesprochen werden müssen. Der Priester, der Bischof kann das jeweils selber frei formulieren. Das zweite Hochgebet, das wir heute haben, ist ein Beispiel aus der Traditio Apostolica, die noch diese Freiheit vertritt. Dann setzte ein Prozess ein, der dem Motto folgte: „From freedom to formula“, „Von der Freiheit zur Formel“. Freilich ist sehr früh ein Rhythmus dagewesen, eine Grundstruktur. Ich gehöre zu den Leuten, die sagen: „Die Grundstruktur muss es geben, sie muss erkennbar sein…“. Daneben gibt es die Variabilität je nachdem. Ich würde also niemals eine Liturgie feiern wollen, die auf die Grundstruktur verzichtet. Also konstatieren wir: Die Grundstrukturen bleiben, aber dann kann es durchaus auch lebendig zugehen. Insofern habe ich Bedenken, wenn Kardinal Josef Ratzinger von „Bastelei“ sprach. Bitte, wie viele Leute geben sich nicht viel Mühe? Die ganzen lieben Mitbrüder und Mitschwestern, die jedes Jahr ein, zwei Prozent weniger Besucher im Gottesdienst erleben, dass sie alles versuchen – wer kann es ihnen verdenken? Die Jugendgottesdienste – natürlich kann man sich manchmal die Haare ausraufen was da geschieht! Tue ich auch! Aber ich verurteile keinen, weil sie sich bemühen, bevor die Kirche ganz leer ist…

Deckers:

Herr Gerhards, wie halten sie es mit den liturgischen Heimwerkern?

Gerhards:

Da würde ich sagen, die müssen mal eine professionelle Schulung bekommen.

Deckers:

Die haben sie alle gehabt!

Gerhards:

Nein, haben sie nicht gehabt. Eine große, eine nicht unbeträchtliche Zahl von Priestern, genauer gesagt die starken Jahrgänge, haben in der Phase studiert und sind nach dem Studium in die Ausbildung gegangen, als diese Umbruchstimmung herrschte. Sie sagten ja selber, 1965 wurde das Fach Liturgiewissenschaft in Bonn eingerichtet. Vorher gab’s immerhin schon bei Klauser die Liturgiegeschichte, schon seit dem 19. Jahrhundert gab’s so was. Aber das Fach Liturgiewissenschaft etablierte sich in der Tat erst nach dem II. Vatikanischen Konzil. Es kam im wissenschaftlichen Studium nicht vor. Die liturgische Praxis wurde in den Priesterseminaren einstudiert. Dort gab es  Zelebrationsübungen, die dann in der Tat in dieser Phase mitunter recht locker ausfielen. Ich halte es für eine lebenslange Aufgabe, sich mit diesen Dingen, mit dem Heiligsten, mit dem man täglich umgeht, immer wieder neu zu befassen. Hier gibt es sicher auch Defizite der Theologie. Die systematische Theologie hat traditionell die Liturgie im Grunde nie so recht ernst genommen. Das war etwas für die Regenten im Seminar, aber nicht für die Dogmatik. Gott sei Dank gibt es immer mehr Theologen, die dieses Defizit erkannt haben. Insofern gibt es einen großen Nachholbedarf an liturgischer Bildung. Dies mahnt der Papst zu Recht an. Und daher finde ich es richtig, wenn er sich an die Anhänger des „neuen Ritus“ wendet und sagt: „Schaut mal auf diejenigen, die sich für die alte Liturgie interessieren, die kennen sich aus!“ Auch ich muss sagen: Respekt! Wer sich wirklich auskennt, wer sich damit intensiv befasst, der kann und darf das auch feiern. Und insofern wünsche ich mir in der Tat den Effekt, den Sie mit dem Spruch „Konkurrenz belebt das Geschäft“ beschrieben haben. Für mich hätte das Nebeneinander zweier Ausprägungen des römischen Ritus eine positive Nebenwirkung, wenn man dazu käme zu sagen: „Wir müssen uns mit den geistlichen, theologischen, historischen Grundlagen unserer Liturgie intensiver befassen.“

Mosebach:

Ich möchte auch noch etwas zur Improvisation während der Messfeier sagen. Natürlich hat die junge Kirche nicht angefangen mit dem Messbuch von Trient. Natürlich nicht. Natürlich sind diese Dinge gewachsen. Aber warum wurden aus Improvisation Formeln? Weil diese frühe Christenheit eben ein grauenvolles Schlachtfeld der Häresien war. Gnostische Gruppierungen dringen hier ein, die den Glauben umformulieren und sich charismatisch gebärden. Das war für die Kirche eine ungeheuer harte Zeit, in der man kaum fassen kann, dass sie bei der Fülle von wahnhaften Sekten nicht zerfällt. Wo sie wirklich zusammen bleibt  und dieses Sektierertum überwindet, da kommt das Bedürfnis nach der Formel auf. Und diese Formel hat im Ergebnis dann eine ganz große geistliche Bedeutung. Das Opfer der Messe, darüber sind wir uns alle einig, ist das Opfer Christi, zunächst mal eben nicht das des Priesters oder der Gemeinde, es ist zunächst das Opfer Christi, dem Priester und Gemeinde sich anschließen können. Und um dies erleben zu können, dass es zunächst nicht mein Opfer ist, sondern dass ich erst hinzutrete, muss ich den Ritus als etwas von mir nicht Beeinflusstes, von mir nicht Gemachtes erleben. Ich kann mich dem Opfer Christi seelisch nur anschließen, wenn ich diesen gesamten Vorgang nicht als mein Werk ansehe, oder als das Werk des Herrn Sowieso. Und deswegen ist hier, in der überlieferten und festen Formel, in der scheinbar Spontaneität und Begeisterung verloren gegangen sind, ein sehr wichtiger, neuer geistlicher Wert errungen worden. Eigentlich ist das Christuserlebnis, die Begegnung mit einem Christus, der nicht ich bin, sondern der ein anderer ist, erst jetzt möglich, indem ich mich der Formel unterwerfe.

Deckers:

Herr Mosebach, wenn ich sie richtig verstehe, argumentieren Sie nicht liturgiewissenschaftlich sondern eher religionspsychologisch. Es geht ja darum, so verstehe auch ich den Papst, in der Liturgie, in dem heiligen Spiel eine Gegenwelt zu errichten. Sie setzt sich ab von der Welt des Machens, der Kreativität, des permanenten Sich-Neu-Erfindens, des Sich-Einbringens, des Duplizierens. Hier wird  eine Gegenwelt errichtet. Das ist der Gegensatz von sakral und profan.
Herr Angenendt sind das für Sie als Historiker nicht auch Elemente, die mit in eine Betrachtung der Liturgie hineingehören? Müsste man nicht sagen: Das leistet dieser neue Ritus, zumindest so wie er verwirklicht wird,  nicht so sehr wie der alte Ritus? Zumindest scheint mir der Papst so zu argumentieren. Wer setzt denn die Grenze bei dem, was sie als Variabilität beschreiben? Wenn ich sonntags in meiner kleinen Gemeinde im Schatten des Limburger Doms zum Gottesdienst komme, stelle ich fest: ich bin im Kindergarten. Und dann gibt es gibt es Verluste. Ich merke, wie die ersten Gläubigen, die ein Recht auf eine Sonntagseucharistie haben, sich abwenden und sagen: „Da gehe ich gar nicht erst hin!“ Die anderen, die dort bleiben, hören dann anstelle der Lesung: „Die Kinder des Kindergartens spielen jetzt ein Märchen aus Irland.“ Ist das die Variabilität, die man sozusagen heute kultivieren muss? Und von dieser Variabilität sind sie, und das sage ich aus meiner Erfahrung, in keiner Gemeinde sicher. Mit was für einem Verständnis von Ritus haben wir es zu tun, der solche Variabilitäten zulässt? Liegt hier überhaupt ein Verständnis von Ritus vor?

Angenendt:

Ich mache eine Gegenrechnung auf: Vom „Vater Unser“ sind zwei Versionen im Neuen Testament überliefert. Was bedeutet das?

Deckers:

Selbst die Schöpfungsgeschichte ist in zwei Versionen überliefert.

Angenendt:

Stopp, stopp, stopp! In der Urchristenheit ist diese Art von Wortgenauigkeit nicht angestrebt worden. Auch ich plädiere sehr wohl für eine Genauigkeit, für einen Rhythmus, für ein Beibehalten der Grundstruktur, weil das religionspsychologisch in einer großen Gemeinde gar nicht anders geht. Ansonsten sehe ich durchaus alles ein, was sie jetzt  beschrieben haben und beklagen. Auch ich gehöre zu denen, die gegen zuviel Eigenmächtigkeit der Priester sind, die in der Liturgie immer erklären und kommentieren. Diese inflationäre Wortmacherei! Deshalb stimme ich ja Herrn Mosebach so sehr zu, was seine Gesamtanalyse betrifft. Aber die Konsequenzen, die hier gezogen werden, die ziehe ich so nicht.

Deckers:

Herr Gerhards!

Gerhards:

Es gibt in der Tat einen qualitativen Unterschied in der Messliturgie nach dem II. Vatikanischen Konzil gegenüber dem Zustand zuvor. Sie weist nach den jetzt gültigen Büchern eine gewisse Variationsbreite auf. Das erfordert natürlich ein hohes Maß an Verantwortung, an Wissen, an ästhetischer Kompetenz. Das ist leider Gottes nicht überall gegeben. Deswegen hat es aus nachvollziehbaren Gründen früher die Rubrizistik gegeben, die alles bis ins Detail festgelegt hatte. Da konnte man nichts falsch machen, außer den Kelch umzustoßen, und dafür gab es hohe Kirchenstrafen, also hat man sich davor gehütet. Die Beispiele für misslungene Kreativitäten, die Sie bringen, könnten wir alle beliebig vermehren. Aber ich stelle eine andere Behauptung dagegen als jemand, der sich ein Leben lang mit diesen Dingen befasst und zwar in Theorie und Praxis. In vielen Gemeinden, das hat Herr Angenendt schon angedeutet, wird ein wirklich guter Gottesdienst gefeiert. Welche Gottesdienste waren denn in den 50er Jahren die attraktivsten? Das waren nicht die Hochämter, das waren nicht die Stillmessen, das waren die Gemeinschaftsmessen. Deswegen erschien die Liturgiereform in Deutschland eigentlich gar nicht so gravierend wie in anderen Ländern. Wir hatten das deutsche Kirchenlied schon lange und haben es in der Messe gesungen. Seit Beginn des 20. Jahrhundert gab es in Deutschland eine liturgische Bewegung, das war eine große und wichtige Vorbereitung der späteren Reform. Es gab Zentren wie die Burg Rothenfels oder das Kloster Maria Laach. So existierte in Deutschland eine hervorragende Basis für die Erneuerung.

Natürlich muss man sich in der erneuerten Liturgie im Unterschied zur älteren Form auf bestimmte Situationen einstellen. Ich räume ein, dass man sich hier in einem Risikobereich befindet. Aber das Leben ist nun mal nicht frei von Risiken, und ich plädiere dafür, dass der geistliche Gewinn, den die Liturgiereform gebracht hatte, wirklich auch als solcher benannt werden soll. Wenn in Rom der Eindruck entsteht, Deutschland oder sogar ganz Europa brennt liturgisch, dann hängt das damit zusammen, dass es sehr eifrige Leute gibt, die wirklich auch jeden Fall, an dem sie Anstoß nehmen, nach Rom melden. Sie haben aber noch nie nach Rom gemeldet, dass ein Gottesdienst nach dem neuen Ritus gut war.

Angenendt:

Herr Gerhards und ich, wir waren auf einem internationalen Liturgiker-Kongress in Palermo. Da war auch Herr Marini, der Zeremoniar des Papstes. Der Mann ist an dem Tage, an dem das neue Motu Proprio in Kraft getreten ist, von seinem Amt zurückgetreten, zur Verteidigung der Liturgiereform des II. Vatikanischen Konzils.

Deckers:

Herr Spaemann!

Spaemann:

Ja, Liturgiereform des II. Vatikanischen Konzils sollte man nicht sagen. Es ist eine Liturgiereform, die nach dem II. Vatikanischen Konzil gemacht wurde.

Gerhards:

Diese Unterscheidung machen aber Sie. Ich habe gesagt, die Kontinuität liegt in der Person Papst Paul des VI., auf den ich nichts kommen lassen möchte, weil es der Papst war, unter dessen Pontifikat ich meine Berufsentscheidung zum Priester gefällt habe und den ich nach wie vor sehr hoch schätze.

Spaemann:

Ich will dem gar nicht widersprechen, aber deshalb sollte man sagen das „Missale Pauls des VI.“ und nicht das „Missale des II. Vatikanischen Konzils“, denn das passt nicht.

Angenendt:

Dann darf man auch nicht „tridentinisches Messbuch“ sagen, das ist auch nicht auf dem Konzil gemacht worden.

Spaemann:

Ich bin auch ganz gegen das Wort „tridentinisches Messbuch“. Ich bin völlig ihrer Meinung, denn das erweckt den Eindruck, das sei damals eine neue Erfindung gewesen, das Konzil hätte eine neue Liturgie gemacht, was ja gar nicht der Fall war.

Mosebach:

Es sollte heißen „Die Messe Gregors des Großen“. Wie die orthodoxe Tradition den alten lateinischen Ritus nennt.

Spaemann:

Ja. Aber ich möchte noch etwas sagen zur Praxis. Über die Kreativität sind wir uns also einig. Herr Angenendt möchte sie in Grenzen halten, und ich glaube, der Kollege Gerhards missbilligt sie eigentlich genau so, wie ich sie missbillige.

Gerhards:

Es gibt einen Rahmen. Es gibt einen definierten Rahmen, wo auch Kreativität im rechten Sinne…

Spaemann:

Ja, gut, wenn der ausgefüllt wird. Aber nicht dort, wo es Texte gibt. Und das fängt schon mit den Orationen an. Wenn zum Beispiel der Pfarrer einer Gemeinde, in die ich komme, nie sagt: „Allmächtiger, gütiger Gott!“ oder so, sondern das „allmächtig“ immer weglässt, dann frage ich mich: Kann ich dann von Gott die Rettung vor dem Tod erhoffen? Denn wenn er nicht allmächtig ist, kann er mir nicht helfen. Ein nur guter Gott kann mir nicht helfen. Aber diese Kreativität hat eben auch die Gefahr, ich will mich vorsichtig ausdrücken, dass die Messe auf eine Weise priesterzentriert ist, wie sie das vorher nie war. Man kann sagen, der alte Ritus verband Priester und Gemeinde. Die Gemeinde wusste was kommt, der Priester war frei und kreativ in der Predigt, der Rest war gemeinsam. Es war ein Priester und Volk verbindender Ritus. Jetzt muss man immer gespannt sein: „Aha, was wird da heute gebetet? Was kommt jetzt?“ Hier wird etwas weggelassen, und da kommt etwas hinzu. So sieht es aus, wenn die Variationen, die vorgesehen sind, so groß sind. Wir haben vier oder fünf, Kanones, wie viele sind es?

Angenendt:

Vier, und zusätzlich genehmigte.

Spaemann:

Aha, vier offiziell und dann noch die genehmigten. Wenn man die alle zusammennimmt kann niemand mehr merken, ob der Priester einen völlig neuen Kanon erfindet… Neulich war ich wieder in einer Kirche, da waren alle Anspielungen auf irgendetwas, das auf das Opfer Christi hinweist, getilgt. Es war eine vollkommen freie Erfindung. Ich hab hinterher ein paar Leute gefragt in der Kirche,  die haben das alle gar nicht gemerkt. Niemand hat’s gemerkt. Das heißt, die sind es so gewohnt, dass ihr Priester improvisiert. Und sie hören gar nicht hin. C. S. Lewis schreibt einmal, dass man im Gottesdienst vor allen Dingen eines nicht möchte: Überraschungen. Und deshalb glaube ich, sollte wirklich auch überlegt werden: Wenn die erlaubten Variationen zu zahlreich sind, dann kapituliert der normale Gläubige und sagt: „Es wird schon irgendwie seine Richtigkeit haben.“ Und dann hört man überhaupt nicht mehr hin.

Deckers:

Meine Damen und Herren, wir nehmen uns noch die Zeit für eine abschließende Runde. Eine Reform der Reform, Herr Gerhards, haben sie ins Gespräch gebracht und haben sich auf Benedikt den XVI. berufen, der ja in seinem Motu Proprio die Hoffnung geäußert hätte, dass sich beide Formen des Usus, des Ritus Romanus nun gegenseitig befruchten. Darf ich sie fragen und auch alle anderen, wie sollte eine Reform der Reform aussehen? Was erhoffen sie sich, wenn ihre Befürchtungen nicht wahr werden, dass nur neue Gräben ausgehoben sind. Wohin soll die Reise gehen?

Gerhards:

Als Liturgiker wird man immer so als Orakel befragt: „Wie geht es weiter?“. Hier würde ich Herrn Spaemann zustimmen. Es ist eigentlich nicht Aufgabe der Liturgiewissenschaft, jetzt zu sagen, wie die Liturgie der Zukunft sein wird. Man kann allenfalls aus einigen Anzeichen, die sich ergeben, aus der Analyse der Tradition und der jüngeren Zeitgeschichte, versuchen, einige Linien auszuziehen. Ich wünsche mir in der Tat das, was der Papst sagt, dass das Heilige, das in der Liturgie ja zum Ausdruck kommen soll, auch wirklich stärker zum Vorschein kommt, stärker als wir das vielleicht in den vergangenen Jahrzehnten bei uns im Alltag erfahren haben. Ich bezweifle allerdings, dass dies durch die Gestalt der älteren Form der Liturgie eo ipso geschieht. Hier geht es in der Tat darum, dass eine Reform zunächst einmal im Inneren ansetzt. Es muss zu einer geistigen Auseinandersetzung mit den grundlegenden Gegebenheiten der Liturgie kommen. Ich habe bewusst am Anfang das Beispiel des Introitus vom heutigen Tag gebracht Herr Mosebach, ich wollte nicht sagen, wie schlimm es ist, dass man das gewechselt hat, sondern ich wollte sagen: Es gibt im Kern doch eine ungeheure Kontinuität. Und ich muss der Behauptung widersprechen,  dass die Kirche mit dem II. Vatikanischen Konzil sich restlos von ihrer gesamten Überlieferung getrennt habe. Das stimmt einfach nicht. Dass manches über Bord gegangen ist, was wir heute zu Recht bedauern, steht außer Frage. Dies lag im Zug der damaligen Zeit. Das heißt, eine Reform der Reform wird einmal kritisch diesen letzten Reformschritt nach dem II. Vatikanischen Konzil bedenken müssen. Aber nicht in dem Sinne, dass man den schlichten Topos der sechziger Jahre „Heute ist alles viel besser..“ jetzt einfach umdreht. Da ist was dran an dieser Kritik. Das will ich gar nicht bestreiten. Aber die Reform der Reform darf auch nicht umgekehrt zu einer Glorifizierung der vorkonziliaren Verhältnisse führen. Ich muss doch einmal fragen: Was hatte denn dazu geführt, dass die Kirche, und zwar nicht leichtfertig, diese Schritte auf sich genommen hat? Der erste große Reformpapst im 20. Jahrhundert hieß Pius X. und der zweite ganz große hieß Pius XII. Hätte der nicht die Enzyklika „Mediator Die“ erlassen, hätte der nicht die Karwochen-Reform gemacht, wäre die Reform des II. Vatikanischen Konzils überhaupt nicht denkbar gewesen. Also es gibt auch in Punkto Reformgeschichte des 20. Jahrhunderts viel mehr Kontinuität, als oft gesagt wird.

Eine behutsame Reform der Reform wäre an der Zeit. Es wäre gut, dass man wieder in den Schatz der Tradition schaut und dann überlegt, wie man die Impulse des II. Vatikanischen Konzils aufgreift. Da haben wir noch viel zu tun. Die Kirche ist in der Welt, aber nicht von dieser Welt. Dies bezeichnet die Richtung ihrer Gratwanderung im 21. Jahrhundert.

Deckers:

Herr Gerhards, sie sind weitgehend formal geblieben. Wie sollte eine Reform der Reform inhaltlich aussehen? Was wären drei Punkte, von denen sie sagen würden: „Hier könnten, nach der Intention des Papstes, der alte Ritus den neuen Ritus bereichern…“ wir reden nicht über innere Einstellungen, wir reden über Ritus… Soll die Zelebrationsrichtung geändert werden?

Gerhards:

An diesem Thema sind wir schon lange dran. Es gibt manches Problematische zu überdenken, und es liegen schon diverse Buchpublikationen dazu vor. Ein Stichwort lautet Communio-Raum. Es geht darum, wie der Kirchenraum im Sinne der Gebetsorientierung, aber auch im Sinne des Communio-Gedankens weiter zu entwickeln ist. Dass die gegenwärtige Situation beiden Anliegen oft nicht gerecht wird, darüber sind wir uns, glaube ich, einig. Wir haben ein Problem mit vielen Kirchenräumen, weil man gemeint hat, man bräuchte nur gleichsam einen Riegel zwischen Hochaltar und Gemeindeschiff zu ziehen und dann hätte man eingelöst, was die Liturgiereform verlangt. Das Problem ist jedoch, dass die Liturgiereform in ihrem innersten Wesen vielfach noch gar nicht durchgeführt worden ist. Man ist jetzt dabei, die editio tertia, die dritte Fassung des Missale Pauls VI. ins Deutsche zu übersetzen und damit eine neue Ausgabe Messbuches herauszubringen. Es kommt die Revision des „Gotteslobs“, unseres Gebet- und Gesangbuches, sowie die Revision der Einheitsübersetzung. Das sind wichtige und entscheidende Schritte hin auf eine Verdeutlichung der Substanz. Diese Substanz ist da und ich behaupte, die Substanz der so genannten alten und der so genannten neuen Liturgie ist dieselbe. Es gibt einige Dinge, die bedacht werden müssen, wohlgemerkt. Ich will die Entwicklung so beschreiben: Auf der einen Seite durchaus Rückbesinnung. Wir haben ja das Latein als Liturgiesprache und sollten auch daran festhalten. Das Choralamt ist eine lebendige Form. Auf der anderen Seite aber sollten wir auch in Ruhe die Entwicklungen, die das II. Vatikanische Konzil gewiesen hat, weiterführen, denn die Kirche ist gesendet in die Welt von heute und von morgen.

Deckers:

Herr Mosebach, welche Hoffnungen verbinden sie denn mit dem Motu Proprio für die Befürworter, für die Anhänger des alten Usus und für die Befürworter, die Anhänger des neuen Usus?

Mosebach:

Ja, ich vermag da sehr schwer in die Zukunft zu schauen. Ich erlebe, dass die katholische Mentalität sich gewandelt hat, dass in den 30 Jahren Liturgiereform der alte Ritus zum Teil sehr gründlich vergessen worden ist. Auch Leute, die in ihm aufgewachsen sind, erinnern sich nicht mehr richtig. Überhaupt ist viel an, liturgischer Empfindung verloren gegangen. Ich mache mir da wenige Illusionen, dass da nun in einem Rausch plötzlich ein großes Verständnis für die alte Liturgie wieder erwächst. Die alte Liturgie ist nicht etwas, was auf den ersten Blick überzeugt. Sie braucht eine intensive Vertrautheit. Man muss mit ihr leben. Ich  entdecke heute noch, nach Jahrzehnten, in der alten Messe neue Elemente, die ich noch nicht gekannt habe, die mir bis dahin noch nicht klar geworden waren. Das Verhältnis zum Ritus muss etwas Selbstverständliches haben. Um ihn richtig zu feiern, muss er so selbstverständlich sein, dass es überhaupt gar nicht mehr auf die Beurteilung von Einzelheiten, auf das gewollte und bewusste Bedenken und Gestalten ankommt. All die vielen Vorschriften, die der Priester zu berücksichtigen hat, die muss er auch zugleich schon wieder vergessen können. Die muss er so vergessen, wie ein großer Pianist vergisst, was er sich da alles im Einzelnen vorgenommen hat und was sein Lehrer ihm gesagt hat, wenn er die Sonate spielt. Und wie das jetzt wieder erreicht werden kann, dazu fehlt mir die Phantasie. Aber ich hoffe, dass es immer mehr Orte gibt, an denen der alte Ritus gefeiert wird und ich stelle fest, es gibt ein sehr großes Interesse bei jüngeren Leuten. Ich stelle gerade ein großes Interesse bei Priesteramtskandidaten fest und vielleicht ermöglicht mir  meine Phantasielosigkeit in Bezug auf die Zukunft vielleicht auch noch mal eine große Überraschung.

Deckers:

Herr Angenendt, der Papst hat in seinem Begleitbrief zu der Frage Stellung genommen, ob die Rehabilitation des alten Ritus zu Unruhen oder gar zu Spaltungen in den Gemeinden führe. Und da schreibt er: „Auch diese Sorge scheint mir nicht wirklich begründet zu sein. Der Gebrauch des alten Missale“, so der Papst „setzt ein gewisses Maß an liturgischer Bildung und auch einen Zugang zur lateinischen Sprache voraus. Das eine wie das andere ist nicht gerade häufig anzutreffen.“ Insofern ist die Aufregung sozusagen künstlich?

Angenendt:

An einem Ritus kann sich viel festmachen. Ich lege ganz großen Wert auf das, was Sie, Herr Mosebach, jetzt gerade gesagt haben. Da stehe ich ganz an ihrer Seite. Das ist die große Sorge: Aber der Geist der Liturgie – das hat ja auch Romano Guardini in seinem bekannten Abschiedsbrief gesagt – der ist verschwunden! Das ist unser Leiden. Somit würde ich mit Ihnen auch voll übereinstimmen. Alt und Neu, das wird es beides geben. Aber wir sollten aufpassen, dass wir nicht auseinander kommen. Es darf nicht heißen: „Wir – die von der lateinischen Liturgie – sind die Besseren und die anderen sind nicht in Ordnung“. Das darf nicht sein! Es darf nicht die Liturgie zum Anfang einer Kirchenspaltung werden.

Gerhards:

Aber Herr Angenendt, Sie müssen sagen, wann der Brief geschrieben worden ist, nämlich 1964, vor der Liturgiereform.

Spaemann:

Was wurde da geschrieben?

Gerhards:

1964, während der Liturgiereform ist dieser Brief geschrieben worden, in dem steht, dass der Geist der Liturgie verloren gegangen sei.

Angenendt:

Aber ich habe noch ein anderes Anliegen. Wenn man Joseph Ratzinger liest, sein Buch „Der Geist der Liturgie“, wie da die „thysia logike“ rauskommt, das „geistige Opfer“, wie er das interpretiert, was er da meint – das halte ich für das ganz Entscheidende, das Allerwichtigste. Es geht um die Stelle Römer 12,1. Und diese Kernstelle kommt in keinem Hochgebet wirklich vor!  Sollte es eine Reform der Reform geben, müsste man hier ein Merkzeichen setzen.

Deckers:

Herr Spaemann, wenn der Geist der Liturgie, wie Romano Guardini 1964 festgestellt hat, verschwunden ist, anno 68 und er auch schon eher, schon in den 60er Jahren, Zweifel daran geäußert hat, dass der moderne Mensch überhaupt noch liturgiefähig ist: Worüber reden wir? Welche Hoffnungen haben sie, jetzt, nach dem Motu Proprio, wo sie sagen, es gibt eine Klarstellung, eine Rehabilitation. Haben sie noch Hoffnungen für die Anhänger, auch des neuen Ritus?

Spaemann:

Ja, worauf erstreckt sich die Hoffnung? Die christliche Hoffnung bezieht sich auf das ewige Leben. Nicht einmal darauf, dass am Ende das Reich Gottes siegt, denn das glauben wir, das brauchen wir nicht zu hoffen. Was wir hoffen, ist dass wir selber dabei sind. So in der Art des Liedes „When the saints go marching in“. Da hoffe ich, dass ich selbst dabei bin. Die Tugend der Hoffnung bezieht alle ein, und da sollten die Anhänger des neuen Ritus und die des alten und vice versa ihre Hoffnung miteinander verbinden auf das Leben in Christus. Das ist das Eine. Und das Andere ist Optimismus mit Bezug auf die Zukunft. Das ist ein bisschen eine Sache der Charakterveranlagung. Es gibt Menschen, die schauen optimistisch in die Zukunft, andere mehr pessimistisch. Es zeigt sich eigentlich immer erst am Ende, wer Recht hat. Meiner Ansicht nach haben die Pessimisten ein bisschen mehr Recht als die Optimisten. Und da habe ich eigentlich gar keine Prognose. Ich weiß es nicht. Und es ist auch nicht unsere Pflicht, über die Zukunft der Kirche nachzudenken. Die Märtyrer der drei ersten Jahrhunderte haben nicht an die Zukunft der Kirche gedacht. Die Bischöfe, die da gestorben sind, haben nicht überlegt, ob sie nicht doch vielleicht wichtig für die Kirche sind und ob sie sich nicht bewahren sollten. Nein, sie haben versucht, jetzt Christen zu sein. Und alles Große in der Kirchengeschichte, ist entstanden wegen solcher Menschen, die sich überhaupt nicht gekümmert haben um die Zukunft der Kirche, sondern darum, Christen zu sein, jetzt.

(Applaus)

Und da die Leute hier so freundlich reagiert haben, möchte ich es damit auch bewenden lassen.

Deckers:

Meine Damen und Herren, Joseph Ratzinger veröffentlichte 1969 seine Vorlesungen über die Ekklesiologie, die Lehre von der Kirche, und darin schrieb er über eine Liturgiereform einen Satz, den ich ihnen gerne zum Abschluss mit auf den Weg geben würde. Ich zitiere Joseph Ratzinger 1969. Ein Satz, der auf den heutigen Abend passt, als wäre er aus der Situation heraus geschrieben.
„Und das alles zusammengefasst heißt, dass zur Liturgiereform ein hohes Maß an innerkirchlicher Toleranz erforderlich ist, die den nüchternen Namen für die christliche Liebe in diesem Bereich darstellt. Dass es oft daran nicht wenig fehlt, ist wohl die eigentliche Krise der liturgischen Erneuerung bei uns. Das einander Tragen, von dem Paulus spricht, die Weiträumigkeit der Liebe, von der bei Augustinus die Rede ist, sie allein können den Raum schaffen, in dem christlicher Gottesdienst zu wahrer Erneuerung zu reifen vermag. Denn der eigentliche Gottesdienst der Christenheit ist die Liebe.“ Es bleibt mir noch zu danken, den Herren hier auf dem Podium hier. Wir haben das Terrain nicht nur vermessen, sondern es auch, denke ich, mehrfach umgepflügt und ich hoffe, sie haben den Überblick nicht verloren. Ich habe zu danken für ihre tätige Teilnahme, für ihre actuosa partizipatio, durch ein unglaublich konzentriertes Zuhören, durch ihren Beifall und ihre Sympathie für das, was wir hier versucht haben  zu treiben: ein wenig Ordnung in das Chaos zu bringen.
Herzlichen Dank und noch einen schönen Abend.

 


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