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Ulrich Greiner
Die Schule und die Eltern
Betrachtung einer Ambivalenz

Der folgende Beitrag ist 2004 in der Festschrift zum 475jährigen Bestehen der Gelehrtenschule des Johanneums in Hamburg erschienen. Er fasst die Erfahrungen einer sieben Jahre währenden Mitgliedschaft im Elternrat der Schule zusammen. Zunächst bezieht sich der Text auf die Situation in Hamburg und am Johanneum, er mag aber darüber hinaus von allgemeinerem Interesse sein.

Die notwendige Bedingung einer Schule sind Schüler und Lehrer. Ohne Schüler oder Lehrer wäre sie keine Schule, das liegt so auf der Hand, dass es platt ist. Aber ist die Bedingung hinreichend? Eine sehr lange Zeit war sie das. Niemand wäre auf die Idee gekommen, die Eltern und ihre Mitarbeit als Teil der Definition Schule zu betrachten. Schulen wurden ja eben deshalb gegründet, weil nicht alle Eltern in der Lage waren, ihre Kinder selber zu unterrichten. Die Reichen und die Adligen hielten sich Hauslehrer. Für nicht wenige arbeitslose Dichter und Denker – siehe den Hofmeister (1774) des Jakob Michael Reinhold Lenz – war das ein schrecklicher Brotberuf. Andere Eltern mussten ihre Kinder in die Schule schicken, damit sie ihnen jene Bildungsarbeit abnehme, die sie aus Mangel an Geld oder Kenntnis selber nicht vollbringen konnten. Das aber bezog sich keineswegs auf alle Fächer, die wir heute kennen. Der Stundenplan des humanistischen Gymnasiums im 19. Jahrhundert kannte zum Beispiel weder das Fach Musik noch den Kunstunterricht. Das deutsche Bürgertum hielt die musische Bildung selbstverständlich für eine Sache des Elternhauses.
Seitdem hat es eine gegenläufige und doppeldeutige Veränderung gegeben, die ganz allmählich vor sich ging und deren Ergebnis uns selbstverständlich erscheint, obgleich es eigentlich merkwürdig ist. Es besteht einerseits darin, dass das Elternhaus immer größere Teile der Erziehungsarbeit an die Schule delegiert. Das reicht vom Erwerb banaler Fertigkeiten, ob Naseputzen oder Händewaschen bei den Kleinen, bis zum Erlernen von Anstandsregeln und schließlich bis in die Bildung des Charakters und des moralischen Verhaltens. Andererseits – und im Gegenzug – verlangt die Schule von den Eltern ein immer größeres Engagement. Das begann einst mit Elternabenden, die je nach Gusto von Fall zu Fall einberufen wurden. Den vorläufigen Endpunkt kann man im Hamburger Schulgesetz besichtigen (historisch gesehen der letzte Versuch, die Idee der Drittelparität zu realisieren), das die Mitarbeit der Eltern zwingend vorschreibt und bis ins bizarre Detail regelt.
Andere Formen des elterlichen Engagements kommen hinzu. Ich erinnere mich, dass meine Grundschule (die Kirchnerschule in Frankfurt am Main) den Kindern Milch oder Kakao gegen ein geringes Entgelt anbot. Die kleinen Glasflaschen wurden in einem mit heißem Wasser gefüllten Zinkbehälter aufgewärmt. Diese Arbeit verrichtete, anders war das in den fünfziger Jahren nicht vorstellbar, der Hausmeister. Heute haben nicht wenige Schulen kleine Restaurantbetriebe, zumeist Cafeteria genannt, und in der Regel werden sie von entsagungsbereiten Müttern, zuweilen auch Vätern, organisiert.
Die Institution Schule hat sich dadurch verändert. Das Johanneum wäre ohne die Mitarbeit der Eltern durchaus vorstellbar, aber es wäre eine andere Schule, wenn auch nicht unbedingt eine schlechtere. Wie alle Veränderungen ist auch diese höchst ambivalent. Dass man sie umkehren könnte, wenn man es wollte, ist unwahrscheinlich. Denn sie korrespondiert mit einer fundamentalen gesellschaftlichen Transformation. Sie ist oft beschrieben worden, und sie lässt sich ablesen am Verfall der traditionellen Familie und ihrer hergebrachten Verantwortlichkeiten. Man kann diesen Verfall beklagen, aber die Klage wird an der Tatsache nichts ändern, dass geschiedene oder alleinerziehende oder im Erwerbsleben sich aufreibende Eltern kaum mehr in der Lage sind, ihre Kinder so auf ein selbständiges Leben vorzubereiten, wie das früher leichter möglich, wenn auch nicht ausnahmslose Regel war. Erst recht stellt sich die Frage, ob ausgerechnet die Eltern, die schon mit der Parallelorganisation von Hausarbeit und Berufsleben (von Liebe und Zuwendung gar nicht zu reden) latent oder sichtbar überfordert sind, die geeigneten Adressaten für ein verstärktes Engagement in und an der Schule darstellen.
Das zum Beispiel wäre die erste der erwähnten Ambivalenzen. Sie erzeugt eine neue, von den politischen Kräften, die das Gesetz auf den Weg brachten, vermutlich nicht gewünschte soziale Differenzierung. Denn es ist klar, dass die Klassenmerkmale Reichtum und Bildung an der Schule plötzlich wieder eine nicht nur zufällige, sondern systematische Rolle spielen, nachdem sie lange Zeit formal, wenn auch nicht de facto ausgeschlossen waren. Das Budget der Eltern, sowohl das finanzielle wie das zeitliche, hat entscheidenden Einfluss auf Ausmaß und Wirkung des elterlichen Engagements. Dasselbe gilt für den Bildungshintergrund. Die Wahrscheinlichkeit, dass Anwälte und Ärzte eher als Bankangestellte oder Busfahrer imstande sind, ihre Ziele etwa in der Schulkonferenz durchzusetzen, ist ziemlich hoch. Und natürlich spielt die Finanzkraft der Elternschaft für das Wohlergehen einer Schule keine geringe Rolle. Sie wird immer größer, je mehr der Staat verarmt und sich notgedrungen zurückzieht.
Wir haben es also mit einer schlecht oder gar nicht gesteuerten Reprivatisierung zu tun. Sie hat ihre Vorzüge, die auch derjenige, der vom gegenwärtigen neoliberalen Deregulierungswahn nichts hält, anerkennen muss. Die hergebrachte Regulierung, wie sie sich in Lehr- und Prüfungsplänen oder in der kameralistischen Politik der Stunden- und Mittelzuweisung ausdrückt, ist lähmend, und die in Ansätzen verwirklichte Chance, dass sich jede Schule selber organisieren und gestalten darf, ist zweifellos ein Gewinn. Schade nur, dass der Staat in dem Augenblick Freiheitsräume auftut, da er sie gleichzeitig durch verschärfte Sparmaßnahmen wieder einschränkt. Die Reprivatisierung ist eben nicht Folge besserer Einsicht, sondern blanker Unfähigkeit.
Im Fall des Johanneums muss man sich deshalb glücklicherweise keine Sorgen machen. Dies um so weniger, als die Schule seit Generationen in den gesegneten Gefilden der Außenalster zum Traditionsbestand zählt. Spendenaufrufe für dringende Bedürfnisse der Schule finden bei Eltern wie bei Ehemaligen freundliche Resonanz, und die nicht kleine Zahl der Stiftungen mildert die überall vorhandenen Geldprobleme spürbar. In einem höheren Sinn ist diese privilegierte Situation nur gerecht: Weil die humanistische Bildungsidee, was Hamburg betrifft, allenfalls hier noch eine Chance hat, muss man die Besserstellung des Johanneums, selbst wenn sie sozialdemokratischen Idealen widerspricht, ausdrücklich begrüßen. Das betrifft auch die Mitarbeit der Eltern. Eine Demarche des Elternrats bei der Schulbehörde, so darf man getrost unterstellen, hat größere Aussicht auf Erfolg als das ähnliche Bemühen einer Schule sagen wir in Altona oder Wilhelmsburg. Was leider nicht bedeutet, dass der Elternrat des Johanneums bei der Behörde allzu oft Erfolg hätte. Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren. Erschwerend kommt hinzu, dass Begegnungen mit der Behörde zwar insofern erfreulich sind, als man es dort in der Regel mit aufgeschlossenen und kompetenten Beamten zu tun hat, deren Zuständigkeit aber eingeschränkt und infolge zahlreicher gesetzesförmiger Regelungen mit den Zuständigkeiten anderer Gremien und Abteilungen verschränkt ist, so dass am Ende der Eindruck entsteht, jeder sei zwar zuständig, aber keiner verantwortlich. Das ist der Fluch der spätmodernen Ausdifferenzierung. Man kann sie, wenn man gut gestimmt ist, demokratisch finden, andernfalls in ihr einen Ausdruck des allgemeinen Korporatimus sehen, dessen einziges Ziel die Besitzstandswahrung ist. Sie führt am Ende zur totalen Blockade.
Generell also gilt, dass der Einfluss der Eltern auf die Gestaltung des schulischen Alltags gewachsen ist. Dem entspricht ein wachsender Einfluss der Schule auf die Gestaltung der Erziehung. Auch hier überlappen sich, wie man es überall beobachten kann, private und öffentliche Belange. Der Erwerb alltagspraktischer Fertigkeiten, wie sie etwa in Computer- oder Rhetorik-Kursen gelernt werden, wäre früher Privatsache gewesen. In der Tat hat er nichts mit Bildung zu tun, sondern mit Ausbildung. Deren Gewicht aber nimmt immer mehr zu, so dass auch ein humanistisches Gymnasium wie das Johanneum, um zu bestehen, beide Seiten bedient. Das ist, angesichts der veränderten Soziologie des Familien- und Erwerbslebens, geboten und nicht revidierbar. Aber die von der Schule, wie ich vermute, nicht gewollte Ausdehnung ihrer Zuständigkeit führt zuweilen zu schwierigen Fragen. Angenommen, ein verantwortungsbewusster Lehrer des Johanneums träfe bestimmte Schüler des öfteren nachmittags betrunken auf den Alsterwiesen an. Dass er sie nicht direkt maßregeln will, versteht sich, denn weder Zeit noch Ort unterliegen (was er als angenehm empfindet) seiner Aufsichtspflicht. Aber hat er die moralische oder pädagogische Pflicht, davon Mitteilung zu machen, der Schulleitung oder gar den Eltern? Es gäbe ganz sicherlich Eltern, die froh wären, wenn sie wüssten, dass ihre Sprösslinge, anstatt die a-Deklination zu lernen, Astra-Dosen leeren. Aber ebenso gewiss gäbe es Eltern, die es sich verbäten, von der Schule über die Freizeitgestaltung ihrer Kinder korrigierend belehrt zu werden.
Das Beispiel ist natürlich erfunden und entbehrt jeder empirischen Basis, aber es zeigt, dass die erwähnte Überlappung, die wohl eher zunehmen wird, einige Fragen aufwirft, deren juristische Beantwortung nicht ausreicht. Einer der Gründe der Katastrophe in Erfurt vor zwei Jahren war die Tatsache, dass die Schulleitung des Gutenberg-Gymnasiums Robert Steinhäusers Eltern über sein Schulversagen und endlichen Ausschluss nicht informiert hatte, weil sie, wie es heißt, wegen dessen Volljährigkeit keine Informationen an Dritte weitergeben durfte. Das ist die rechtliche Seite. Aber ist es nicht widersinnig, dass Eltern auf der einen Seite verpflichtet sein sollen, für die Ausbildung ihrer Kinder, und seien sie erwachsen, aufzukommen, ohne andererseits das Recht zu haben, über den Stand der Dinge Auskunft zu erhalten? Konflikte dieser Art werden um so mehr zunehmen, je zahlreicher ursprünglich private, familiäre Zuständigkeiten in die schulische Sphäre hinüberwechseln. Dieser stillschweigend akzeptierte Vorgang ist, wie gesagt, von keiner Seite ausdrücklich gewollt, aber er geschieht, und von daher gesehen ist die Einbindung der Eltern in die Selbstorganisation der Schule notwendig und nützlich.
Im Gegenzug hat es zuweilen den Anschein, als wollten die Eltern, die sich in den Gremien engagieren, einen Ausgleich dadurch herstellen, dass sie sich in Bereiche einmischen, die früher ausschließlich in der unbefragten Zuständigkeit der Lehrer lagen. Das Institut der Klassenkonferenz leistet solchen Übergriffen Vorschub, weil sich in Konflikten konkret didaktische von allgemein pädagogischen und gruppenpsychologischen Fragen nur schwer trennen lassen. Ich erinnere mich an einen Abend, an dem ein aufgeregter Arzt entschiedene Urteile darüber abgab, wie der Mathematikunterricht künftig zu gestalten wäre, und ich fragte mich, wie er es fände, wenn ihn seine Patienten darüber belehrten, welche therapeutischen Wege er einzuschlagen habe. Aber so wie der berühmte Halbgott in Weiß es immer häufiger hinnehmen muss, dass seine Kunden unangenehme Fragen stellen, so muss wohl auch der Lehrer, der 45-Minuten-Papst, es ertragen, Rechenschaft ablegen zu müssen. Beide Vorgänge haben ihr Gutes, wenngleich man wiederum hinzufügen sollte, dass sie sich nur dort abspielen, wo Patienten oder Kunden oder Eltern einen gewissen informationellen und/oder finanziellen Hintergrund mitbringen.
Was nun das Johanneum betrifft, so kann man sagen, dass sowohl die Eltern als auch die Lehrer mit den neu entstandenen Überlappungen und Grauzonen einigermaßen entspannt und kreativ umgehen. Die Zusammenarbeit ist alles in allem erfreulich, und das hat sicherlich damit zu tun, dass diese Schule singulär ist. 475 Jahre sind ein Faktum, das im Alltag keine sichtbare Rolle spielt, aber im Hintergrund stabilisierend wirkt. Vielleicht ist es sogar so, dass die humanistische Bildung, die unvergängliche Grundfragen am scheinbar unnützen Gegenstand lehrt, eine Atmosphäre des freundlichen, manchmal sogar freundschaftlichen Umgangs befördert. Zwar wüssten die Eltern, die ihre Kinder in immer wieder ermutigender Anzahl am Johanneum anmelden, in der Regel wohl kaum anzugeben, was denn am Erlernen des Lateinischen und des Griechischen letztlich dran sei. Sie nehmen die Fächer sogar, so scheint es gelegentlich, als rätselhafte Anachronismen in Kauf, damit ihre Kinder in den Genuss eines Unterrichts kommen, der den emphatischen Sinn, der mit „Bildung“ einst verbunden war, noch beansprucht. Zu definieren, was humanistische Bildung sei, gerade auch am Johanneum, wird niemandem leicht fallen, auch den dort lehrenden Altphilologen nicht. Aber das ist, wenn man darüber nachdenkt, eher die Regel: Wir können zum Beispiel mit moralischen Grundbegriffen so lange produktiv umgehen, als wir nicht gezwungen sind, sie zu definieren. Wahr ist allerdings auch, dass das Johanneum gut daran täte – und Ansätze dafür gibt es –, die ihm zu Grunde liegende Bildungsidee offensiv zu diskutieren. Es müsste aus einer bloß defensiven Argumentation heraustreten (ihre bescheidenste Form besteht im Hinweis auf das wachsende Verständnis von Fremdwörtern durch das Erlernen der alten Sprachen) und Humboldt beim Wort nehmen, um ihn in unsere Zeit zu übersetzen.
P.S.: Es mag für die Wahrnehmung des Vorstehenden von Interesse sein, dass der Verfasser im Jubiläumsjahr zwei wunderbare Töchter (Franziska und Olivia) zu den Schülern des Johanneums zählen darf, dass seine ebenso wunderbare Frau seit vielen Jahren in der Cafeteria mitarbeitet und Elternvertreterin ist und dass er selber dem Vorstand des Elternrats angehört. Er ist übrigens kein Hamburger, sondern hat in Frankfurt am Main das humanistische Heinrich-von-Gagern-Gymnasium besucht. Seit 1980 ist er Redakteur der ZEIT und leitet seit 1998 deren Literaturressort.


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