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Ulrich Greiner

Henry James ist radikal

Zu seinem hundertsten Todestag am 28. Februar 2016 erscheinen neue Übersetzungen und eine bebilderte Biografie

Man kann es bedauern, dass Henry James – zweifellos einer der bedeutendsten Schriftsteller überhaupt – nie zu einem Publikumsliebling geworden ist, aber es lässt sich erklären. Er war nämlich ein Mann des kalten, durchdringenden Blicks, und alles Gemütlich-Verständnisinnige lag ihm fern. Zwar hat er die Helden, vornehmlich die weiblichen, die seine unermessliche Romanwelt bevölkern, durchaus geliebt, doch hat er zugleich ihre Schwächen, ihre Eitelkeiten und Verstrickungen nicht übersehen können. Er wollte dem Los der Menschen auf den Grund gehen, wollte das dunkle Rätsel ihres Strebens erhellen, und er kam dabei so weit oder tief wie keiner vor ihm.

Verena Auffermann zitiert in ihrer konzisen und schön bebilderten Biografie den Brief einer Freundin, der vermutlich einzigen, die ihm wirklich nahestand, und die ihn klagend fragt: „Warum beschreibst Du nicht einmal eine weibliche Person, für die wir Frauen wahre Liebe empfinden können? Sie muss ja nicht glücklich sein.“

Für die Beschreibung des Glücks sind Schriftsteller nicht zuständig, denn Glück ist selbstevident. Die Frage, wie und warum man es sich verscherzt, war das unendliche Thema des Menschenforschers Henry James. In seinem eigenen Leben ging er, wie Auffermann bemerkt, Tragödien aus dem Weg. Er blieb der distanzierte Beobachter, und je weiter er in seinem Schreiben voranschritt, umso subtiler drang er ein ins Beziehungsgeflecht der Menschen. Er sah es geflochten aus Liebe und Neid, aus Scham und Gier, aus Unschuld und Herrschsucht.

Daisy Miller, einer seiner bekanntesten Romane, heißt im Untertitel Eine Studie. Der 27jährige Amerikaner Winterbourne besucht seine Tante am Genfer See und lernt dort die junge, naive Schönheit Daisy kennen. Gleich zu Beginn bemerkt er, dass das Mädchen ziemlich ungebildet ist und keinen Sinn für die feineren Formen des gesellschaftlichen Umgangs besitzt. Die Tante, eine reiche Dame, die sich dem neuenglischen Geldadel zurechnet, hat für die im selben Hotel logierende Familie – Daisy, ihre Mutter und der kleine Bruder – nichts übrig: „Sie sind grauenhaft gewöhnlich.“ In der Tat haben die Millers, die gerade die obligatorische Europa-Reise machen, viel Geld, aber sonst auch nichts.

Doch Daisy ist nicht nur außerordentlich hübsch, sondern sie strahlt, eben wegen ihrer Ungeformtheit, eine ursprüngliche Frische aus, der sich Winterbourne nicht entziehen kann. Er verliebt sich in sie und reist ihr hinterher, nach Rom. Dort, in der illustren Gesellschaft kultivierter Amerikaner, kompromittiert sich Daisy vollkommen, indem sie sich – allein gelassen von ihrer unbedarften Mutter – mit einem halbseidenen, melodramatisch aufgeputzten Italiener einlässt und ihn sogar zu einer erlesenen Abendgesellschaft mitschleppt. Man ist entgeistert, und der bekümmerte Winterbourne versucht, sie auf die Pfade des Anstands zurückzuführen – vergeblich, denn das Mädchen, das eben beginnt, das Wunder ihrer weiblichen Attraktivität auszukosten, ist in ihrem kindlichen Geltungsbedürfnis zu unwissend, um den Fehltritt zu erkennen.

Das ist die Versuchsanordnung, die Henry James hier vorlegt: Was passiert, wenn gesellschaftliche Konvention und juveniles Freiheitsbedürfnis miteinander in Konflikt geraten, mädchenhafte Unschuld mit abgebrühter Gier? Leicht zu erraten, dass die Geschichte nicht gut ausgeht, und doch ist man erschrocken, mit welch herzloser Plötzlichkeit Henry James das eben noch meisterhaft ausgemalte Drama abbricht. Er lässt Daisy am römischen Fieber sterben – und Schluss.

Daisy Miller ist wirklich eine Studie, ein Experimentierfeld, so wie auch der Roman Washington Square (1881), wo die herzensgute, ein bisschen begriffsstutzige Catherine zwischen einem kalten Vater und einem schamlosen Mitgiftjäger zerrieben wird, und so wie der Roman Die Europäer (1878), der uns zeigt, wie die kluge, aber unhübsche Gertrude ihrer vermögenden puritanischen Familie entfremdet und von einem lebenslustigen Luftikus in eine heikle Ehe entführt wird. Wieder, wie in dem spiegelbildlichen Roman Der Amerikaner (1875), geht es um die idealtypische Konfrontation europäischer Kultiviertheit mit amerikanischer Tüchtigkeit.

Für den Amerikaner Henry James, der am Ende Engländer wurde, gehört dazu, dass der alte Kontinent, den er gründlich bereist hat, Zeichen des Niedergangs und der moralischen Verkommenheit erkennen lässt, während der neue von einer protestantischen Ethik, die Grobheiten und Engstirnigkeiten einschließt, geprägt ist. Es ist aber bezeichnend für die Vielfalt der Intonationen, die James beherrscht hat, dass der Roman Die Europäer trotz seines ernsten theoretischen Fundaments auch eine heitere Seite besitzt. In seinem Nachwort zu der gelungenen Neuübersetzung von Andrea Ott beginnt Gustav Seibt mit dem Fazit seiner Überlegungen: „Vier Hochzeiten und eine Abreise, das ist die Bilanz dieser federleichten, tiefsinnigen Romankomödie.“

So ist es, und doch war Henry James vor allem ein kaltblütiger Interpret solcher kulturellen Konflikte. Nicht selten zeigt er sich als der radikale Experimentator, und zuweilen wirkt es, als foltere er seine Figuren auf dem Streckbett des Comments, bis sie endlich in ihre Umstände passen. Natürlich ist es nicht James, der hier grausam ist. Grausam sind die gesellschaftlichen Zwänge. Es sind aber nicht die der Armut oder gar des Elends, denn fast alle Geschichten spielen in einem gut situierten Milieu, wo kaum jemand einem ernsten Brotberuf nachgeht. Entweder ist Geld im Überfluss da oder es kam, sei es durch Prasserei, sei es durch Fehlspekulation, abhanden und muss nun herbeigeschafft werden, am besten durch eine günstige Heirat.

Strether, die Zentralfigur in dem Roman Die Gesandten, ist ein Mann von einiger Bildung, doch ohne Vermögen. Das macht nichts, weil ihn die amerikanische Millionärswitwe Mrs. Newsome aushält und im Begriff ist, ihn zu ehelichen. Zuvor jedoch muss er einen heiklen Auftrag ausführen. Die Dame, Herrin eines profitablen Unternehmens, schickt ihn nach Paris, damit er den dort verschollenen Sohn Chad dazu bewege, nach Hause zurückzukehren und die Leitung der Firma zu übernehmen.

Wir erleben nun, wie Strether – mit 55 Jahren nicht mehr jung – sich immer mehr in das verführerisch mondäne Paris verstrickt. Er findet heraus, dass der 28jährige Chad oftmals an der Seite einer zehn Jahre älteren Comtesse gesehen wird, die außerdem Mutter einer eben erblühenden Tochter ist. Erst nach und nach stößt der arglose Gesandte auf die peinliche Tatsache, dass der lebensfrohe Chad keineswegs das Mädchen ansteuert, sondern mit der Gräfin eine Affäre unterhält.

Es wäre vergeblich, das Ensemble der Figuren, die sich pausenlos bei Spazierfahrten, glanzvollen Partys und privaten Einladungen begegnen und intensiv austauschen, auch nur annähernd zu schildern, zumal Mrs. Newsome die Überzeugung gewinnt, Strether verfehle sein Mission, und deshalb weitere Gesandte nach Paris beordert: ihre Tochter, deren Ehemann sowie dessen junge Schwester, die zu Chads Braut bestimmt ist. Daraus entsteht nun das aufgeregte, geradezu febrile Brausen eines nicht enden wollenden Geredes.

James hat Die Gesandten für seinen besten Roman gehalten. Erschienen 1903 zählt er, neben der Goldenen Schale und den Flügeln einer Taube, zu den letzten monumentalen Werken. Faszinierend und auch irritierend ist es, dass sich die Erzählung auf die seelischen Regungen und Empfindungen, wie sie sich in Gesten, Blicken und Gesprächen äußern, vollkommen beschränkt. Das Äußere der Personen wird nur sparsam geschildert, alltägliche Verrichtungen, mit deren Beschreibung andere Autoren Seiten füllen, kommen gar nicht vor, Wetter, Landschaft und Natur höchst selten. Selbst das Gerüst der äußeren Handlung wird nur nebenbei enthüllt, als sei der Autor einzig daran interessiert, bis zum Inneren seiner Helden vorzudringen.

Die erzählerische Radikalität macht die Lektüre gelegentlich anstrengend. Zwar bewundert man die stupende Fähigkeit, über viele Seiten hinweg Dialoge zu schildern, deren Esprit und Lebendigkeit einzigartig sind, doch fragt man sich manchmal: Worum geht es eigentlich? Ja, worum? Um die Grauzonen zwischen Lüge und Wahrheit, um die raffinierten Spiele des Eigennutzes und der Eitelkeit, um die unendlichen Erscheinungsformen des Erotischen.

Strether begreift, dass der junge Chad in Paris etwas gelernt hat, was er selbst erst noch übt, nämlich die Kunst, das eigene Leben zu leben. Übermäßig sensibel und entscheidungsschwach sitzt Strether wie die Fliege im Netz. Die Reize der Comtesse betören ihn, die liebenden Signale einer hilfsbereiten Pariser Freundin übersieht er keineswegs, und die Briefe vom Mrs. Newsome sind ihm nicht egal. Am Ende sagt die Comtesse: „Ich bedaure uns alle!“ Strether bleibt allein zurück.

Zu den Neuübersetzungen zählt auch der frühere Roman Maisie (What Maisie Knew, 1897), der uns einen ganz anderen James zeigt. Hier erzählt er in relativ schnellem Szenenwechsel und in knappen, harten Dialogen die Geschichte eines Scheidungskindes, das zwischen den Eltern, Stiefeltern und Gouvernanten wie eine Billardkugel hin und her gestoßen wird. Maisie ist am Anfang des hauptsächlich in London spielenden Dramas sechs Jahre alt, am Ende etwa 13, und sie entwickelt zu ihrem Stiefvater eine nicht nur kindliche Zuneigung. Dieser jedoch, angezogen und abgestoßen zugleich von der attraktiven Stiefmutter, bekennt ein paar Mal, dass er sich vor Frauen eigentlich fürchte, und obwohl er das Mädchen wirklich liebt, entzieht er sich.

Ein Show Down zeigt uns den Kampf, den die beiden Stiefeltern und die Gouvernante, eine warmherzige und fromme Seele, um die arme Maisie führen. Die Gouvernante obsiegt, und wir dürfen hoffen, dass das Mädchen einer halbwegs gesicherten Zukunft entgegengeht. Das Schöne an dieser traurigen Geschichte ist die Tatsache, dass Maisie am Lug und Trug, an den Egoismen und Verstellungskünsten der Erwachsenen nicht zerbricht, sondern an ihnen zur eigenständigen Person heranreift. Und wieder staunt man über die erzählerische Radikalität von Henry James, der die seelischen Turbulenzen aufs Äußerste zuspitzt, unbekümmert um naturalistische Wahrscheinlichkeiten.

Als Maisies leibliche Mutter, eine männerverschlingende hysterische Person, ihre Tochter zum letzten Mal besucht, um Abschied von ihr zu nehmen, rühmt sie sich in einem wahrhaft entsetzlichen Monolog der Opfer, die sie dem Kind gebracht habe, und es heißt: „Sie hüllte sich in die Lumpen ihrer Schamlosigkeit, wobei sie sich aufs Äußerste in Szene setzte vor dem letzten kleinen Dreieck zersplitterten Glases, das von dem fein geschliffenen Glasteller töchterlichen Aberglaubens übrig geblieben war.“

Man sieht an diesem kleinen Beispiel, wie reich und komplex die Sprache von Henry James ist. Wessen Englisch nicht sehr gut ist, der wird gern mit einer Übersetzung vorlieb nehmen. Die neue der Gesandten von Michael Walter ist, einschließlich der kompetenten Kommentare, sehr gut. Die von Britta Mümmler besorgte von Daisy Miller ist ebenfalls gut, übertrifft allerdings die frühere von Helmut M. Braem und Elisabeth Kaiser im Großen und Ganzen nicht. Hans Henneckes alte Übersetzung von Maisie hingegen (aus der das obige Zitat stammt) liest sich eleganter als die neue. Zwar kann sich Gottfried Röckelein zugute halten, dass er näher am Originaltext bleibt. Allerdings zwingt ihn das zu manchen Umständlichkeiten und zu vielen Fußnoten.

Eine schöne Entdeckung präsentiert uns der Büchnerpreisträger Walter Kappacher mit seiner Übersetzung der kleinen, aber erhellenden Erzählung Die mittleren Jahre. Sie handelt von einem erfolgreichen Schriftsteller, der sich von einer schweren Erkrankung an der englischen Südküste erholt und eines Tages das druckfrische Exemplar seines neuen Romans erhält. Während er auf einer Bank an der Promenade sitzt, sich noch immer ziemlich matt fühlt und zögert, das Buch aufzuschlagen, bemerkt er einen jungen Mann, der in Begleitung zweier Damen, einer jüngeren und einer älteren, lesend promeniert. Und was hält er in der Hand? Eben diesen Roman. Wie der Schriftsteller mit seinem begeisterten Leser ins Gespräch kommt, was es mit den Damen auf sich hat, ist Thema der Geschichte. Jedenfalls zeigt es sich, dass der Mann nicht nur ein Literaturkenner ist, sondern auch ein Arzt, der dem dann doch moribunden Autor letzte Trostworte spendet.

Henry James schrieb diese leichtfüßige Erzählung 1893. Da war er 50 Jahre alt und hatte seine bedeutendsten Werke noch vor sich. Die Hoffnung aber, quasi in den Armen des idealen Lesers zu sterben, muss ihn schon früh getröstet haben.







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