Schwarzer Optimismus: Gespräch mit Charles Johnson
Die folgende Begegnung mit Charles Johnson fand am 23. April 1996 in Seattle statt. Die Passage ist ein Ausschnitt aus meinem inzwischen
vergriffenen Buch "Gelobtes Land - Amerikanische Schriftsteller
über Amerika" (Rowohlt 1997). - Im Gespräch taucht gelegentlich der Begriff "affirmative action" auf. Siehe dazu diese Erläuterung.
Charles Johnsons Bücher haben mit der Geschichte und der Erfahrung der amerikanischen Schwarzen zu tun, von der Sklaverei bis zum alltäglichen Rassismus, von der Bürgerrechtsbewegung bis zur Entstehung einer schwarzen Mittelschicht. Die Kühnheit, mit der Johnson seinen philosophischen Diskurs in phantastische, abenteuerliche Handlungen einbettet, wirkt manchmal fast halsbrecherisch, immer aber belebend und aufregend. Dabei scheut er nicht davor zurück, bei großen Werken der amerikanischen Literatur für seine Zwecke Anleihen zu machen. So etwa in dem Roman Die Überfahrt. (Middle Passage, der englische Titel, bezieht sich auf den mittleren Teil des Dreiecks Europa-Afrika-USA, das die Sklavenhändlerschiffe in der Regel fuhren). Offenkundig ist Kapitän Ahab aus Melvilles Moby-Dick das Vorbild für seinen Kapitän Ebenezer Falcon, der, eine ebenso kleinwüchsige wie brutale Mischung aus Genialität und Wahnsinn, das Sklavenschiff Republic von Afrika nach New Orleans und in den Untergang steuert. Wir schreiben das Jahr 1830 und erfahren die Geschichte aus dem Tagebuch von Falcons Gegenspieler: Rutherford Calhoun, ein junger, eben freigelassener Schwarzer, der die väterlichen Ermahnungen, die religiösen, auf Thomas von Aquin und Jakob Böhme fußenden Unterweisungen seines Herrn, des Reverend Chandler, in den Wind schlägt, nach New Orleans geht, Straßendieb wird, vor seinen Schulden und vor seiner wild auf die Ehe versessenen Geliebten flieht und sich als blinder Passagier auf auf die Republic schleicht, deren wahren Zweck er erst auf See erkennt. Falcons Herrenmenschenphilosophie einerseits, das kulturelle Erbe der auf dem Schiff eingekerkerten schwarzen Allmuseri andererseits stürzen den jungen Rutherford in die tückischsten Konflikte, konfrontieren ihn mit der Frage, auf welche Seite er, der freigelassene Sklave und amerikanische Schwarze, eigentlich gehört. Zu den nicht wenigen Pointen des wilden Romans zählt, daß Rutherfords Gläubiger in New Orleans, ein schwarzer Gangsterboß und Immobilienbesitzer, Teilhaber der Republic ist und also Nutznießer des Sklavenhandels.
Johnsons erster Roman Faith and The Good Thing (1974) erzählt die Geschichte der jungen schwarzen Faith, die nach dem Tod ihrer Eltern mittellos und arglos nach Chicago reist, vergewaltigt wird, auf den Strich geht, schließlich den schwarzen Karierristen Maxwell heiratet und einer schwarzen bürgerlichen Existenz entgegensteuert. Ebenso wie Rutherford, und zugleich ganz anders, ist sie auf der Suche nach der schwarzen Identität. Die gegensätzlichen Optionen, zwischen denen sie schwankt, sind einerseits Maxwells Mittelstandssehnsucht, die materielles Wohlergehen anzielt und den Preis eines unwürdigen Opportunismus entrichtet, andererseits jene religiöse Kultur des Südens, in der sie aufgewachsen ist, die aber dem Druck der neuen Zeit nicht mehr standhält. Zentrale Figur für Faith ist die Swamp Woman, eine schwarze Hexe, die weise und gemein ist, allwissend und dumm, die zaubern kann wie ein Urwaldschamane und zugleich in der abendländischen Philosophie zu Hause ist - ein groteskes Fabelwesen, eine Baba Jaga der Südstaaten, eine Allegorie schwarz-amerikanischer Heimatlosigkeit und Multikultur.
Die Virtuosität, mit der sich Johnson die traditionellen Formen des Entwicklungs- und Bildungsromans, des Seefahrerstücks und des Schelmenromans, des sozialen Realismus und des phantastischen Animismus aneignet, sie vermischt, reflektiert, philosophisch bricht und sprachlich reanimiert - sie ist erstaunlich und erklärt vielleicht seinen großen Erfolg in den USA.
Charles Johnson, geboren 1948 in Evanston bei Chicago als einziger Sohn von Schwarzen, die aus dem Süden zugewandert waren, ist Professor an der Washington University und lebt in einem der ausgedehnten Villengebiete von Lake City, nördlich von Seattle. Er hat an diesem Tag (23. April) Geburtstag, an Shakespeares Datum, wie er mir lachend sagt. Er ist eine eindrucksvolle Erscheinung, gekleidet in schwarze Stiefel mit Metallbeschlägen, schwarze Jeans, schwarzes Seidenhemd, Pfeffer-und-Salz-Jackett, schlanker, muskulöser Körper, groß gewachsen, die Haut mittelschwarz, die Haare wie ein krauser Halbmond mit hohem Silberanteil. Intelligent, stolz, unaufdringlich eitel, sehr freundlich, burschikos, entspannt, unkompliziert, zugleich seiner selbst bewußt und kontrolliert. Wir sitzen im Living Room, sehr gediegen und aufgeräumt, Schachspiel auf dem Tisch (die einzelnen Felder in der Höhe abgestuft, so daß König und Dame am höchsten stehen und und es zum Schlachtfeld in der Mitte abwärts geht), der Raum über zwei Geschosse mit hohem Fenster, davor dunkle Tannen.
Ich berichte von einem Streitgespräch zischen dem Schwarzen Cornel West, Harvard-Professor für African-American Studies, und dem Hispanic American Jorge Klor de Alva, Professor für Ethnologie in Berkely, abgedruckt in Harper‘s Magazine (April 1996), wo es um das Verhältnis der Rassen zueinander und um die Rolle der Schwarzen angesichts der massiven mexikanischen Einwanderung geht. Ich zeige ihm das Heft, das ich im Flugzeug gelesen habe. Johnson liest den Titel „Ist Cornel West schwarz?“ und sagt stirnrunzelnd: „Warum stellt er diese Frage?“ Klor de Alva meine damit, so erläutere ich, daß Cornel West nicht schwarz sei, sondern ein Anglo, denn die amerikanische Tradition sei für die Schwarzen die entscheidende, sie hätten keine andere nationale Tradition, wie sie etwa die Mexikaner oder die Koreaner besäßen. Stimmt das?
„Das stimmt. Ich denke, daß die African Americans oder die Schwarzen, historisch betrachtet, sehr amerikanisch sind. Die ersten Schwarzen kamen 1619 hierher. In jedes bedeutende Ereignis der amerikanischen Geschichte waren Schwarze involviert, ob es der Revolutionskrieg war, ob es der Bürgerkrieg war, der auch um die Sklaverei ging - wir sind Teil des Gewebes dieser Nation in einem Ausmaß, wie es wohl für niemanden sonst zutrifft, ausgenommen die Abkömmlinge derer, die mit den Pilgrims kamen. Es ist wichtig zu betonen, daß wir Amerikaner sind und Teil dieses andauernden Experiments der Demokratie. Es gibt viele Schwarze, die aus der afrozentrischen Bewegung kommen und einen kulturellen Nationalismus pflegen, die gerne nach Afrika zurückblicken und eine Identifkation damit suchen. Aber Afrika ist keine Nation, sondern ein Kontinent, der aus 30 Nationen besteht, und einige davon haben zwei oder drei Stämme und Sprachen. Wenn einer sagt, ich bin Afrikaner, muß er angeben, ob er Guinea oder Nigeria oder Ruanda meint. Das ist nicht so einfach wie für jemanden, der aus Korea oder aus Mexiko kommt, überhaupt nicht. Und außerdem gab es einen ganz schön heftigen Bruch zwischen den Afrikanern, die durch die Middle Passage herüberkamen und an das amerikanische Leben auf diesem Boden akklimatisiert wurden, und ihren Vorfahren. Das meiste der afrikanischen Herkunft ist aus der Erinnerung verschwunden. Ein paar wenige Dinge, die wir als afrikanisch erkennen können, haben sich erhalten, in der Sprache, in manchen Ritualen des Südens. Aber das ist noch keine kulturelle Vision. Die ging verloren, innerhalb einer Generation, nachdem die Afrikaner angekommen waren. Tatsache ist, daß den Schwarzen, die etwas über ihre Herkunft wissen wollten, gar nichts anderes blieb, als sich den ethnologischen Studien und Untersuchungen zuzuwenden, die weiße Wissenschaftler Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit dem britischen Kolonialismus angefertigt hatten. Der Versuch, eine afrikanische Identität zu finden, ist zweischneidig, wenn es in Wahrheit mehr als genug ist, ein Amerikaner zu sein. Die meisten sind sich nicht einmal der amerikanischen Geschichte bewußt. Das ist ja einer der Kämpfe an unseren Schulen: Lehren wir amerikanische Geschichte so, wie wir es sollten? Amerika ist ein junges Land, verglichen mit Deutschland oder anderen europäischen Ländern, es ist 200 Jahre alt, es sollte also nicht allzu schwer sein, unsere eigene Geschichte zu studieren. Aber zum größten Teil wird diese Geschichte nicht gewußt. Und das ist eins der wichtigsten Dinge, die wir Erzieher zu tun haben. Denn es gibt eine sehr besondere und ausgeprägte amerikanische Identität. Und die hat mit der Hautfarbe nichts zu tun.“
Warum nennt er sich schwarz? Er ist Amerikaner.
„Ich war kürzlich auf einer Konferenz schwarzer Autoren, auf der wir leidenschaftlich diskutiert haben, was amerikanische Identität bedeutet und was es heißt, ein schwarzer Schriftsteller zu sein. Viele, auch ich, haben gesagt: Fraglos gibt es die amerikanische Identität. Die Bürgerrechtsbewegung zum Beispiel hat an den Sinn der Amerikaner für Demokratie und für Gleichheit appelliert, wie es in den grundlegenden Dokumenten, etwa der Unabhängigkeitserklärung und der Verfassung, dokumentiert ist. Da finden wir eine starke Betonung der individuellen Rechte, der Integrität des Individuums. Zur amerikanischen Identität gehört weiterhin der Pragmatismus - wir haben einen sehr pragmatischen Zugang zu Problemlösungen, und der Pragmatismus ist die einzige Philosophie, die Amerika der Welt geschenkt hat, alles andere ist ja importierte Philosophie. Dazu gehört schließlich die religiöse Frömmigkeit. Immerhin hat das Land mit den Kolonien der Pilgerväter begonnen, und 80 Prozent aller Amerikaner sagen in Umfragen, daß sie an ein höheres Wesen glauben, was immer das sein mag. So gibt es also bestimmte allgemeine Überzeugungen, unabhängig von rassischen Zugehörigkeiten. Das macht uns zu Amerikanern, diese wirklich starke, verpflichtende Hingabe an die genannten Werte, die ja fast eine Obsession ist, was natürlich auch eine Menge Probleme verursacht. Wir fragen uns dauernd: Sind wir fair zu anderen Menschen? Und schlagen uns an die Brust, wenn wir es nicht sind. Martin Luther King bezog sich auf dieses Gefühl für Anstand und Gleichberechtigung. Er sagte, er hätte das, was er erreichte, in kaum einem anderen Land erreichen können. Er konnte das öffentliche Bewußtsein, das sich auf diese Ideale beruft, herausfordern und deshalb Erfolg haben. Ich schreibe gerade an einem Roman, der die letzten zwei Jahre von King vor Augen führt und der versucht, sich dem Wesen von Kings Vision zu nähern, indem er alle biographischen Details aufarbeitet, die, nebenbei gesagt, nicht sehr bekannt sind. Es gibt ja eine Menge Studien über King, aber keiner nimmt sie zur Kenntnis. Was mich am meisten an King interessiert, ist der Philosoph. Wo steht er als philosophischer Denker? Welche Einflüsse haben auf ihn eingewirkt? Da war nicht nur ein liberales Christentum, sondern auch ein sehr starkes Interesse an Ghandis Ethik, und Ghandi wiederum war sehr beeinflußt durch Thoreau - da kommt vieles aus der westlichen und der östlichen Tradition zusammen. Kings Idee der Gemeinschaft gefällt mir sehr, die Betonung der Integration, der Liebe, einer bestimmten Form der Liebe, der Agape - all das sind Dinge, die wir in unserem öffentlichen Diskurs verloren haben.“
Wie kam Johnson zur östlichen Philosophie?
„Ich habe in Chicago Konfuzius studiert, und das führte mich zum Studium des Hinduismus und des Taoismus. Die meisten meiner Philosophielehrer hatten davon keine Ahnung. Aber es gab zum Beispiel einen Gastprofessor aus Japan. Mir hat das immer viel bedeutet. Kurz bevor Sie kamen, habe ich meditiert. Auch das ist ein Weg, meinen Geburtstag zu begehen.“
Was bedeutet affirmative action für die Erfahrung der Schwarzen?
„Es gibt keine monolithische schwarze Erfahrung. Das ist eines der Probleme, wenn man sich darüber verständigen will. Diese Politik ist einfach verordnet worden, Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre. Es gab keine öffentliche Praxis, kein Vorbild dafür. Man hatte eine Menge guter Absichten, und das Ergebnis war insofern gut, als Schulen und Arbeitgeber nicht aus eigenem Antrieb ihre Tore für Schwarze geöffnet hätten. Deshalb mußte es eine Initiative geben, einen aggressiven Willensakt, das zu erzwingen. Ich glaube, es war eine unvollkommene Idee, die unvollkommen verwirklicht wurde. Sie hatte positive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, auf die Schulen und Universitäten. Schwarze Arbeiter und Studenten sind dadurch vorangekommen. Und die Frauen haben davon erheblich profitiert, denn affirmative action wurde über das Kriterium der Rasse hinaus auf das des Geschlechts ausgedehnt. Insgesamt aber habe ich gemischte Gefühle. Es ist ein bißchen, wie Clinton sagt, wie Bohnenzählen, wir haben soundso viele rote Bohnen, braune, schwarze, weiße Bohnen. Unser Quotensystem ist hypertroph, und ich sage Ihnen, warum. Viele Universitäten hätten gerne einen Schwarzen in jeder Abteilung. Meine Universität hier in Washington hat über 2000 Fakultätsmitglieder, aber die Gesamtzahl aller Schwarzen ist schätzungsweise 20, vielleicht 25, und die Frage ist, warum? Die Antwort: Wir haben einfach nicht genug Promovierte produziert. Um eine angemessene Proportion zu kriegen, müssen wir viel früher damit anfangen, Menschen heranzuziehen, die solche Aufgaben erfüllen können, und zwar schon in der Mittelschule und Grundschule. Es gab und gibt eine Menge sozialer Regierungsprogramme, die vor allem Schwarze beschäftigen. Einige dieser Jobs werden wahrscheinlich verschwinden, wegen der Sparpläne. Und einige sind sicherlich im Zusammenhang mit dem geschaffen worden, was man civil rights industry nennt.“
Verletzt ein solcher Bonus nicht den schwarzer Stolz?
„Ich habe darüber oft nachgedacht. Ein schwarzer Leichtathlet hat das mal sehr gut formuliert: affirmative action ist kränkend, aber notwendig. Und ich bin nicht mal sicher, ob es immer noch notwendig ist. Das Gefühl, daß jemand einen Zugang, eine Stelle, eine Beförderung oder was immer aufgrund seiner Rasse erhält und nicht aufgrund seiner Verdienste, muß diese Person in ihrer Selbstachtung, in ihrem Selbstvertrauen verletzen. Gerade vor zwei, drei Nächten habe ich mir darüber den Kopf zerbrochen. Es ganz zu eliminieren, wie es jetzt der kalifornische Gouverneur Pete Wilson tut, wäre aber falsch, denn wenn ein Student nicht die entsprechenden Punkte und Noten hat, aber Zugang zum College bekommt, kann es doch sein, daß er sich gut eingewöhnt, gute Leistungen erbringt, Leidenschaft entwickelt - ohne dieses Türöffnen hätte er nie diese Möglichkeit gekriegt. Man darf die Evolution, die affirmative action bewirkt hat, nicht übersehen. Manche Studenten sind Spätzünder, haben Hemmnisse erfahren, die sie erst überwinden müssen.“
Sollte man nicht besser soziale Kriterien anwenden?
„Ja, um affirmative action ein bißchen fairer zu machen, sollte man anstelle rassischer Kriterien ökonomische anwenden. Das wäre sehr sinnvoll, um den Armen zu helfen. Das Ideal ist, und es war Kings Ideal, die Menschen nach ihrem Charakter und ihren Fähigkeiten zu beurteilen und nicht nach der Farbe ihrer Haut, nach ihren Leistungen und nicht nach ihrer Rasse. Es ist schwer, das zu verwirklichen, denn Amerika ist nicht farbenblind, aber bevor wir nicht dahin kommen, wird die Demokratie nicht in der Weise funktionieren, wie sie es sollte. Menschen nach ihrer ökonomischen Lage zu beurteilen ist ein etwas besserer Weg. Er würde weiße Studenten mit guten Noten nicht ausschließen, würde auch armen Hispanics helfen.“
Johnson zieht eine Packung Zigaretten aus der Tasche und fragt, ob es mich störe, wenn er rauche. Ich sage, er sei der letzte Raucher - ich hätte in den USA noch nie einen getroffen. Er lacht herzlich und sagt:
„Die Europäer sind, was die Wertschätzung des Tabaks betrifft, viel fortschrittlicher als die Amerikaner. Wir sind sehr puritanisch, das kommt von unserem Pilgrim-Hintergrund, wir suchen andauernd nach Sünden. Aber fahren Sie fort mit Ihren Fragen, die ja eigentlich mehr politisch als literarisch sind.“
Er ist doch ein politischer Autor, oder?
„Ich glaube, das sind wir alle, alle sind wir in irgendeiner Weise engagiert, das ist unausweichlich.“
Sind amerikanische Schriftsteller in die öffentliche Debatte involviert?
„Ja, sicherlich. Aber was ist der effektivste Weg für einen Schriftsteller, politisch zu sein? Doch wohl sein Schreiben, seine Kunst. Vielleicht noch Vorträge oder Mitarbeit in Organisationen. Aber ich glaube, die amerikanischen Schriftsteller sind politisch sehr interessiert.“
Aber die Öffentlichkeit nicht an den Schriftstellern.
„Sie ist interessiert an ganz bestimmten Schriftstellern. Aber Politiker sind, infolge ihres Berufs, keine sehr literarischen Menschen. Sie haben keine Zeit zum Lesen. Es sind Nonfiction-Autoren, die andauernd Themen von öffentlichem Interesse behandeln, kommentieren, beurteilen und von daher einflußreich sind.“
Gibt es das auch bei Fiction-Autoren?
„Kaum.“
Französische, deutsche Schriftsteller werden zum Thema Bosnienkrieg gefragt. Wäre das in den USA möglich?
„In Amerika gibt es das ebenfalls. Ich war auf vielen Konferenzen über die Rolle des schwarzen Intellektuellen, des Schriftstellers in der Gesellschaft. Aber ich glaube, Frankreich und Deutschland haben eine bestimmte intellektuelle Tradition, die Amerika nicht hat: politische Ideengeschichte, die in die Politik hineinwirkt. Das amerikanische politische Leben ist völlig antiintellektuell. Aber die Schriftsteller reagieren sehr oft, ich selber habe schon viele politische Beiträge geschrieben.“
Warum ist Amerika antiintellektuell?
„Das hat eine lange Geschichte. Sie geht zurück auf die Zeit, als man sich von England abwendete und Europa für dekadent hielt, und die Ideen eines dekadenten Landes wehrt man ab. Dieser Antiintellektualismus ist im 19. Jahrhundert noch gar nicht mal so stark, als einige unserer größten Schriftsteller gelebt haben, Melville, Hawthorne, Poe, aber er wächst Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, als auch Schriftsteller nicht notwendigerweise mehr Intellektuelle sind. Und dafür gibt es viele Gründe: Etwa der Grundverdacht gegen Theorie, die bei Deutschen und Franzosen immer geachtet war. Wir haben keine philosophische Tradition, was eine große Schande ist. Deshalb schreiben die Schriftsteller andauernd über ihre Erfahrungen, über die Unmittelbarkeit von Erfahrungen, aber normalerweise reflektieren sie diese Erfahrung nicht philosophisch. Es gibt ein paar Ausnahmen. Mein früherer Lehrer John Gardener war ein philosophischer Schriftsteller, William Gass ist ein geübter Philosoph, aber es ist keine sehr tief verankerte Tradition. So geht also die Politik ihren Weg, und die Literatur geht ihren Weg.“
Gibt es Unterschiede zwischen schwarzen und weißen Schriftstellern?
„Es gibt die sehr solipsistischen Schriftsteller einer bestimmten minimalistischen Tradition, beginnend in den späten Siebzigern, endend in den späten Achtzigern, es gibt nach innen gewendete Schriftsteller, die sich nicht öffentlich engagieren, es gibt die Literatur im New Yorker, wo die Autoren vor allem über ihre persönlichen Probleme und ihr privates Leben schreiben. Damit hat sich die Schwarze Literatur nie aufgehalten, sie war immer sozial engagiert und politisch interessiert, seit der Sklaverei, von Anfang an. Sie hat sich immer in Beziehung gesetzt zum Verhältnis von Schwarz und Weiß, zu den Bürgerrechten, zu sozialen Fragen. Das Soziale in irgendeiner Weise nicht zu beachten ist unmöglich, wenn man ein schwarzer Schriftsteller ist. Das heißt nicht, daß schwarzes Schreiben sich ausschließlich damit zu beschäftigen hätte, es schließt genauso das Persönliche ein - so wie es Sartre in seinem Essay Was ist Literatur? fordert. Wenn ein Schwarzer seinen Stift aufs Papier setzt, weiß er ungefähr, worum es gehen soll, daß es eine Bedeutung für unser gemeinschaftliches Leben haben soll. Es muß für ihn oder für sie bedeutsam, substantiell sein.“
Ist Johnson ein Angehöriger der schwarzen Mittelschicht?
Er lacht schallend: „Ja, bin ich wohl, aber ich war es nicht in meiner Jugend.“
Wie ist das Verhältnis der schwarzen Mittelschicht zur armen, schwarzen Unterschicht?
„Das will ich Ihnen sagen. Ich habe mich rund zehn Jahre mit den Statistiken beschäftigt. Schwarze Amerikaner bilden 12 Prozent der Bevölkerung, das sind rund 30 Millionen. Ein Drittel davon ist eingesperrt in die Innenstädte. Die Gründe: Als ich ein Junge war, in Chicago, hatte mein Vater einen Volksschulabschluß und verdiente, was der Durchschnitt der Schwarzen in Chicago verdiente: 4000 Dollar im Jahr. Das war 1965/66. Als die Bürgerrechte allmählich Wirklichkeit wurden, waren die Scharzen, die eine bessere Ausbildung hatten, imstande, diese ärmliche Umgebung zu verlassen, und die meisten taten es, aber zehn Prozent blieben zurück. Die Jobs, mit denen man 4000 Dollar verdienen konnte - Nachtwächter, Straßenarbeiter, Fabrikarbeiter - gibt es entweder nicht mehr, oder sie werden von den neuen Immigranten gemacht. So bleibt nur noch die schlecht bezahlte Arbeit bei McDonalds oder sonstwo. Aber wenn die jungen Schwarzen in den Innenstädten in Teilzeitarbeit Drogen verkaufen, verdienen sie 25000 Dollar, und wenn sie es als vollen Job betreiben, dann fangen sie mit 40000 an. Es gibt also einen Grund, warum junge Schwarze sich den Drogen zuwenden. Vorher gab es eine zusammenhängende schwarze Gemeinschaft mit berufstätigen Schwarzen und armen Schwarzen, die einander halfen, es gab schwarze Unternehmer, die schwarze Angestellte beschäftigten, es gab die Kirche. Diese Milchflasche hier stammt aus der Molkerei meines Onkels, das einzige, was davon geblieben ist. Die Molkerei gab er in den Vierzigern auf, gründete eine Baufirma und baute Kirchen und Häuser in der Gegend, in der ich lebte. Mein Vater war nach Norden gegangen, um bei ihm zu arbeiten, deshalb kam er nach Chicago und begegnete dort meiner Mutter. Es gab also in den Vierzigern und Fünfzigern schwarze Unternehmer und eine schwarze Gemeinschaft, und das gerade wegen der Rassentrennung, denn die Schwarzen konnten ja nirgends sonst arbeiten. Und das brach mit dem Ende der Segregation zusammen, die Menschen gingen auseinander. Jetzt sind sind die Übriggebliebenen in die Innenstädte eingesperrt. Leute wie meinen Onkel gibt es dort nicht mehr, sie sind woandershin gegangen. Die schwarze Mittelschicht stellt sich dauernd die Frage: Was tun wir und was können wir tun, wie können wir diesen Menschen helfen? Ich glaube, daß die Nation darauf noch keine richtige Antwort weiß. Mein Onkel, der keine Ausbildung hatte, sagte immer zu mir, obwohl er erfolgreich war: Sieh zu, daß Du eine gute Ausbildung kriegst! Wir wissen, daß es keinen anderen Weg gibt, die Leute aus den Innenstädten und der Armut herauszuholen, als ihnen eine gute Ausbildung zu geben, und die muß eine neue Art von Industrie einschließen, die noch nicht existiert. Die Fabriken sind tot, es muß neue technische Jobs geben. Das ist der einzige Weg. Die Regierung mag zwar Arbeitsplätze schaffen können, aber die sind immer schlecht bezahlt. Deshalb gibt es gegenwärtig die große Debatte: Ob unser Erziehungssystem dem öffentlichen Bedürfnis so dient, wie es sollte.“
T.C.Boyle sagte mir gegenüber, die schwarze Frage sei unlösbar.
„Was meint er damit? Was ist daran unlösbar? Ich kenne ja alle die Zahlen über Arbeitslosigkeit, über die Zahl der unehelichen Kinder, die übrigens offenbar zurückgeht. Wenn wir all das aus der Distanz angucken, dann können wir die Perspektive umdrehen und sagen: Wenn einer von drei Schwarzen im Alter zwischen 17, 18 und Anfang 30 im Gefängnis sitzt oder in Untersuchungshaft, dann ist das schrecklich, und in Kalifornien sind es sogar 40 Prozent. Aber es bedeutet zugleich, daß zwei von drei Schwarzen dieses Alters nicht im Konflikt mit dem Gesetz sind und 60 Prozent in Kalifornien ebenfalls okay sind. Ist das Glas halb voll oder halb leer? Die Statistiken scheinen nahezulegen, daß es halb leer ist und keine Hoffnung besteht. Aber wenn man es als halb voll betrachtet, dann bekommt man ein völlig anderes Bild. Dann gibt es zum Beispiel 600.000 schwarze Unternehmer in Amerika. Alles kommt darauf an, wie man die Zahlen interpretiert. Mein Vater ist im Süden aufgewachsen, mitten in der Depressionszeit. Und in den Sechzigern war er der erste, der sagen mußte: Es hat einen Fortschritt gegeben. Er hat ja die Zeit von den Dreißigern bis zu den Sechzigern wirklich erlebt. Und seitdem hat es sogar noch mehr Fortschritte gegeben, obgleich es sicherlich noch nicht genug ist und man noch mehr tun müßte. Aber kann man ein solches Dilemma, das über hundert Jahre alt ist, über Nacht lösen? Ich selber schwanke ja oft genug, denke manchmal, daß das Glas halb voll ist, manchmal, daß es halb leer ist, aber ich möchte doch den Fortschritt nicht übersehen, den es gegeben hat und gibt.“
Ist Johnson ein Optimist?
„Ja, ich neige dazu, optimistisch zu sein. Wenn man die Geschichte der Schwarzen kennt, dann sieht man, daß die African Americans hier etwas erreicht haben, was eine Inspiration für die ganze Welt bedeutet. Ich habe gerade mit jungen Südafrikanern gesprochen und gemerkt, wie sehr sie von der schwarzen amerikanischen Literatur beeinflußt waren. Oder sehen Sie Nelson Mandela, dessen Autobiographie ich gerade rezensiert habe: Er war ungeheuer beeindruckt und beeinflußt durch die amerikanische Bürgerrechtsbewegung. Was wir getan haben - natürlich nicht ich, denn ich war zu jung, sondern meine Vorgänger und Vorfahren - war doch, daß wir der Nation bewußt gemacht haben, daß sie ihren zentralen und fundamentalen Idealen nicht gerecht wurde, und diese historische Leistung war eine Wohltat für jede andere Gruppe in diesem Land, ob wir nun an die Frauen denken, an die Hispanics oder an die Asiaten, alle profitieren sie von dem Blut, das wir vergossen haben.“
Aber die anderen, vor allem die Asiaten, sind oft erfolgreicher.
„Insgesamt ja, und daran ist nichts Geheimnisvolles. Wenn Sie wissen wollen, warum die Asiaten in der Schule besser sind, darüber gibt es Untersuchungen: Für sein Examen bereitet sich ein asiatischer Student etwa sechs Stunden täglich vor, ein weißer Student vier Stunden und ein schwarzer zwei Stunden. In Japan ist es üblich, daß sich die Mutter dasselbe Buch kauft wie ihr Sohn und es mit ihm zusammen durchgeht und paukt, während sie die Wohnung putzt. Da gibt es einen starken Bildungsdrang und ein hohes Leistungsbewußtsein. Und natürlich sehr starke Familienbande. Das ist ungeheuer wichtig. Die jungen Leute müssen erfolgreich sein, um ihren Eltern keine Schande zu machen. Und sehr oft, weil dort ein konformistische Kultur herrscht, gehen sie dann nicht in die Künste, wohin sie vielleicht gerne gingen, sondern in die Wissenschaft oder die Ökonomie, in die lukrativen Berufe. Und das ist ein Problem, mit dem die Asiaten sich auseinandersetzen müssen, mit dem Bedürfnis, sich indivuell verwirklichen zu können, anstatt etwas zu tun, was für die gesamte Gruppe gut ist. Das ist es: Sie studieren mehr, arbeiten mehr, und sind darauf innerlich besser vorbereitet. Eines der Dinge, die in der schwarzen Bevölkerung passieren müßten, wäre, Wissen und Kenntnis höher einzuschätzen. Wir müssen unsere Studenten mehr herausfordern. Und Schule ist ja nicht viel mehr als die Ausdehnung und Erweiterung der Persönlichkeit, die zu Hause herangebildet wird, beides muß zusammenwirken. Für diese Differenz gibt es also kulturelle Gründe. Und die kann man angehen, und sie werden angegangen.“
Was er hält er von der Diskussion über die Sozialfürsorge?
„Die Mehrheit der Fürsorgeempfänger ist weiß. Das ist ja auch klar: Die Schwarzen machen 12 Prozent der Bevölkerung aus, und davon leben 30 Prozent von der Fürsorge. Es gibt Schwarze, die schon in der dritten Generation davon leben. Und das ist das Problem. Was kann man tun, um aus dieser Abhängigkeit herauszukommen und sie nicht zu perpetuieren? Einige Staaten fangen damit an, die Dauer der Zuwendungen zu limitieren, in Michigan etwa: Du mußt nach zwei Jahren eine Arbeit finden und der Staat hilft dir. Sogar Clinton sagt, daß die Fürsorge, so wie wir sie kannten, an ein Ende kommen muß, und ich glaube, daß da viel dran ist. Die Fürsorge war als Sicherheitsnetz gedacht und nicht als eine ständige Lebensform. Denn dann beraubt sie die Menschen ihrer Fähigkeit, selbstverantwortlich zu sein, beraubt sie ihrer Selbstachtung. All das ist ein großes Durcheinander.“
Was ist der schwarze Beitrag zur amerikanischen Gegenwart?
„Wenn Sie an den Sport denken, an Unterhaltung, Musik, Tanz, Jazz, Schauspielkunst, dann ist der schwarze Beitrag riesig. Aber was heißt schwarz? Schwarze haben sich mit den Weißen im Süden in einem solchen Ausmaß vermischt, daß fast jeder Südstaaten-Weiße schwarzes Blut in seinen Adern hat. Wenn Sie die Schwarzen in diesem Land angucken: Die Schwarzen repräsentieren verschiedene Rassen. In unserem Blut ist auch weißes Blut. Es gibt keine reinen Schwarzen und keine reinen Weißen in Amerika. Sobald die Menschen in rigiden Kategorien denken, ist es schwierig, sich dieser Vielfalt bewußt zu sein. Eines der Merkmale der amerikanischen Erfahrung ist ihre Beweglichkeit und Offenheit. Gerade habe ich gelesen, daß 60 Prozent der Juden Nichtjuden heiraten. Das gilt ebenso für die Asiaten: Die meisten heiraten Nichtasiaten. Die Vermischung in Amerika ist sehr groß.“
Ausgenommen die Schwarzen. Die rassisch gemischten Ehen sind selten.
„Oh nein, sie sind häufig, da bin ich sicher. Auf der Tagung, die ich kürzlich besucht habe, waren drei schwarze Schriftsteller, die mit weißen Frauen verheiratet waren. Auch in meiner Familie gibt es zwei weiße Frauen. Das ist überhaupt nicht ungewöhnlich. Gucken Sie auf meine Straße: Mein Nachbar da hinten ist schwarz, da drüben lebt ein lesbisches Paar, nebenan lebt ein Ehepaar schwarz und weiß. Die Freunde meiner Tochter sind teils weiß, teils Asiaten, sie schläft mal bei denen, mal schlafen die bei uns. Das ist der Normalfall. Meine Nachbarn haben kürzlich geheiratet. Auf der Hochzeitsfeier waren Schwarze wie ich und meine Frau, es waren Weiße da, und der Priester, der sie traute, war Japaner. Ich dachte: Das ist Amerika. All diese Leute aus den verschiedensten Gegenden, verschiedensten Herkommens gemeinsam auf dieser Hochzeitsfeier. Ich liebe Hochzeiten, weil die Tatsache, daß sich zwei Menschen vor den Augen einer Gemeinschaft das Jawort geben, mich immer, auch für meine Romane, interessiert hat, und in diesem Fall war es eine rassisch gemischte Gemeinschaft. Das kommt mir in den Sinn, wenn ich an das alltägliche Leben in Amerika denke. Und das zerreißt diese Kategorien. Wenn der Sohn, ein Mulatte, einen Fragebogen ausfüllen muß, ob er schwarz oder weiß sei, dann wird er sagen: beides. Das erschüttert das ganze Konzept einer originären rassischen Natur. Wenn man tief genug in den familiären Hintergrund eines Menschen guckt und fünfzig Generationen zurückgeht, fünfzig, dann findet man, daß sie einen gemeinsamen Vorfahren haben. Neulich las ich in Time einen Aufsatz über Jesus. Wissenschaftler haben die Bevölkerung seiner Zeit geschätzt: Sie kamen auf 170 Millionen in der ganzen Welt. Die Durchmischung der Menschen ist gewaltig. Wir beide finden einen gemeinsamen Vorfahren, wenn wir nur weit genug in die Geschichte zurückgehen. Die Idee reiner Rassen ist künstlich, ist eine Vorstellung des 19. Jahrhunderts, und sie widerspricht der menschlichen Erfahrung.“
Die affirmative-action-Politik weist einen dauernd auf die eigene Rasse hin.
„Deshalb sage ich ja: Es war eine sehr unvollkommene Politik, die mit sehr künstlichen Kategorien gearbeitet hat, sie hatte gute Absichten, aber sie hat mehr Animosität und mehr Polarisierung verursacht, als man sich vor dreißig Jahren hätte träumen lassen. Das ist das Problem. Die Absicht war, die Integration in Amerika zu beschleunigen, und man dachte, das wäre ein guter Weg. Bis zu einem gewissen Punkt war es auch ein guter Weg. Es hat funktioniert. 1966 ging ich aufs College mit einer ganze Welle schwarzer Studenten, die in ihrer Familie die ersten waren, die jemals aufs College gegangen sind. Das hat allerdings nachgelassen. Wenn man sich die neuesten Zahlen ansieht: Der Prozentsatz der Schwarzen, die aufs College gehen, ist heute etwa so groß wie in den Sechzigern. Die höchsten Zahlen findet man in den Siebzigern. Die Tragödie ist: Mehr Schwarze sind im Gefängnis als auf dem College.“
Erlebt er Rassismus im Alltag?
„Die Frage ist, wovon genau wir reden.“
Ich erwähne einen Bericht der Los Angeles Times über die wenigen Schwarzen, die in Beverly Hills leben und andauernd von der Polizei schikaniert werden.
„Das stimmt. Ein Freund von mir lebt dort und könnte es bestätigen. Sicherlich. Niemand will schikaniert und drangsaliert werden, und man kann sich darüber aufregen. Aber ich kann mir vorstellen, was die Polizei denkt: Daß Schwarze in einer solchen Nachbarschaft leben, ist nicht gut, und deshalb stoppen sie Schwarze. Ich lebe hier seit 16 Jahren, und in dieser Zeit gab es zwei Einbruchsversuche. Bei einem hörte ich ein Geräusch am hinteren Fenster, und als ich den Vorhang zurückzog, war die Hand, die sich durch das Fenster streckte, schwarz. Ich brüllte, und der Mann rannte so schnell er konnte auf die Straße hinaus und verschwand. Die Schwarzen haben ein großen Anteil an der Kriminalitätsrate, und bevor das nicht aufhört, kann man die Leute nicht von solchen Generalisierungen und Stereotypen abbringen. Wenn Sie unter Rassismus verstehen, daß die Leute auf der Straße meine Hautfarbe wahrnehmen: Ja, natürlich tun sie das. Was auch daran liegt, daß derzeit ein jeder jede Hautfarbe wahrnimmt. Aber daß jemand deswegen außer Kontrolle gerät? Ich glaube es nicht. Natürlich, wenn ein Weißer in eine schwarze Nachbarschaft kommt, kann es Ärger geben. Oder wenn man in den falschen Pool oder den falschen Fitness Club geht, das schon. Aber das ist überall so. Gehen Sie mal in eine Gegend. wo nur Hispanics oder nur Asians wohnen: Sie sind fremd dort, sehen anders aus, man kennt Sie nicht, Sie stehen unter einer Art von Verdacht. Das ist eine traurige Seite des amerikanischen Lebens. Aber ich bin nicht sicher, ob das jemals anders war.“
Glaubt er an die Idee des melting pot?
„Er ist immer noch ein Ideal, aber es hat sich verändert. Ich glaube, daß die Amerikaner sich ihrer ethnischen Identität übermäßig bewußt sind, die letzten dreißig Jahre haben dem ein zu großes Gewicht gegeben. Trotzdem: Damit Amerika funktionieren kann, geht es nicht ganz ohne. Der Respekt vor dem Individuum ist notwendig, man muß jeden zuerst als Individuum wahrnehmen. Wir haben einen politischen Prozeß, für den die ethnische Erbschaft und der kulturelle Hintergrund wichtig sind. Das ist Amerika.“
Erfährt er Kritik von Schwarzen, er sei nicht radikal genug?
„Ich bin ein Integrationist, in der Tat. Ich bin so aufgewachsen. Meine Familie und ihre Freunde, alle waren sie für die Integration. Ich war als Kind auf einer integrierten High School, auf derselben, die schon meine Mutter besucht hatte. Ich erinnere mich an Weiße, die ich in unserer schwarzen Kirche gesehen habe. Was Martin Luther King zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung sagte, hat mir immer eingeleuchtet. Ich glaube, daß die Mehrheit der Amerikaner an der Integration zutiefst interessiert ist. Nur eine Minorität, eine radikale Gruppe am Rand der Gesellschaft kämpft dagegen. Louis Farrakhan und seine muslimische Nation etwa, auf der anderen Seite die weißen Suprematisten. Diese Leute repräsentieren überhaupt nicht die Mehrheit der Amerikaner. Die meisten Schwarzen sind für die Integration und gegen Farrakhan. Vielleicht sieht man das nicht in den Medien, denn die Leute, die den meisten Lärm machen, kriegen die meiste Aufmerksamkeit. Die Reporter gehen zu denen, die am unzufriedensten und am wütendsten sind. Aber der durchschnittliche Schwarze wie der durchschnittliche Weiße urteilt nicht nach der Hautfarbe, sondern nach dem, was jemand ist.“
Kennt er seine Leser?
„Ja, es sind natürlich viele schwarze Leser, aber auch sehr viele Weiße, auch Asiaten. Die Überfahrt wird in Schulen und auf Colleges gelesen. Ich rede viel mit Studenten darüber. Meiner Leser kommen nicht aus einer bestimmten rassischen Gruppe, und das wäre auch nicht meine Intention. Ich bin nur daran interessiert, etwas für Leute zu schreiben, die daran interessiert sind, etwas Interessantes zu lesen. Wir haben ohnehin zu viel Leute in Amerika, die nicht lesen können.“
Hat die amerikanische Literatur noch ihre Bedeutung? Ist eine Figur wie Mark Twain heute vorstellbar?
„Daß jeder Amerikaner Mark Twain gekannt hat - nein, das glaube ich nicht. Viele konnten ihn schon deshalb nicht kennen, weil sie Analphabeten waren. Noch heute ist der Prozentsatz der Analphabeten sehr hoch. Aber etwas anderes spielt eine ebenso große Rolle, jedenfalls für mich, und das ist die enorme Zahl der Buchclubs und der Lesezirkel, wo sich Leute wöchentlich treffen und über ein gemeinsam gelesenes Buch diskutieren. Das ist gerade auch unter schwarzen Lesern sehr verbreitet. Ich bin schon oft von weißen Buchclubs eingeladen worden, zusammen mit meiner Frau, manchmal zum Abendessen, wo man dann über meine Bücher sprach. Die Los Angeles Times hat eine Umfrage zum Leseverhalten der Amerikaner gemacht und festgestellt, daß nur 57 Prozent aller Amerikaner regelmäßig Bücher lesen. Und was sie lesen, ist normalerweise nicht Literatur, sondern Science-fiction oder Liebesromane. Der Anteil derjenigen, die wenigsten einmal im Jahr einen literarischen Text gelesen haben, einen Roman oder Gedichte oder ein Drama, belief sich auf sieben Prozent dieser 57 Prozent. Natürlich gibt es die Konkurrenz des Fernsehens, des Films, der Videos. Aber immerhin gibt es an die 50.000 Neuerscheinungen jedes Jahr, und irgendjemand wird das ja wohl lesen, jedenfalls hoffe ich das. Also ich glaube, daß die Lage nicht schlecht ist.“
Kümmert Johnson sich um die Bedürfnisse seiner Leser?
„Ja und nein. Mein Hintergrund ist die Philosophie, und so glaube ich, daß es die Aufgabe von Literatur ist, Wahrheit zu entdecken und etwas über unser aller Leben ausfindig zu machen, was vorher noch keiner entdeckt hat. Deshalb schreibt man doch. Das kann man nicht preisgeben. Zugleich muß man versuchen, mit dem Leser eine Verbindung herzustellen. Das gilt natürlich vor allem für den Journalismus, aus dem ja viele Schriftsteller herkommen. Es ist wichtig, sich der Tatsache bewußt zu sein, daß man ein Diener für andere ist. Die Menschen lieben Spaß und Unterhaltung, und das muß man berücksichtigen. Aber man darf nicht zuviel von sich selber preisgeben, nur um dem Publikum zu gefallen. Saul Bellow hat das mal in einem seiner Essays sehr gut gesagt: Der Schriftsteller erzählt der Gemeinschaft ihr Herzensgeheimnis, selbst wenn sie es nicht wissen will. Dafür ist der Schriftsteller da. Wozu sonst schreiben? Vielleicht, um ein Alleinunterhalter zu sein, aber für mich wäre das keine ernsthafte literarische Beschäftigung, die irgendeine kulturelle Bedeutung hätte. Aber man kann unterhaltsam und seriös zugleich sein.“
Wie hoch ist die Auflage der Überfahrt?
„Etwa 100.000 als gebundenes Exemplar, und jetzt ist es in der zehnten Auflage als Taschenbuch. Dafür war vor allem die Tatsache verantwortlich, daß der Roman Schullektüre geworden ist. In den Schulen benutzen sie ihn, um ihn mit Melville zu vergleichen, sie benutzen ihn für die African American Studies und für alle mögliche anderen Zwecke, was mir gefällt, denn das beschert dem Buch ein langes Leben.“
Ist es wichtig für ihn, daß seine Bücher ein langes Leben haben?
„Ja, das ist es. Als Philosoph denke ich, Philosophie sollte ein langes Leben haben, Hume und Locke und Kant und Plato sollten Teil unserer Erziehung sein, von jetzt an und für immer. Und Literatur sollte dieselbe Rolle spielen, denn beide dienen der Erkenntnis der Wahrheit und der Bedingungen unseres Daseins. So hoffe ich natürlich, daß mein Werk so dauerhaft sein wird wie das von Homer oder Shakespeare, das ist das Ideal, nach dem ein Schriftsteller strebt. Wenn man Glück hat, bleiben von den vielen Büchern, die man geschrieben hat, eins oder zwei übrig. Aus dem gewaltigen Oeuvre, das Autoren wie Huxley oder D.H.Lawrence geschrieben haben, bleiben vielleicht zwei Romane, die das Werk verkörpern und die Zeiten überdauern. So muß man also eine Menge schreiben, um vielleicht diese eine Werk zu schaffen. Es könnte sein, daß es nicht einmal das Werk ist, das dem Autor besonders wichtig ist, und das doch Jahrzehnte überdauert. Ich glaube übrigens, daß man einem Buch eigentlich erst nach fünfzig Jahren wirklich gerecht werden kann. Wenn eine Generation in diesem Buch einen Wert erkannt hat und die nachfolgende Generation ebenfalls, erst dann können wir über seine kulturelle Bedeutung ernsthaft reden. Dazu gehören für mich Der unsichtbare Mann von Ralph Ellison oder Native Son von Richard Wright. Darüber reden wir immer noch, fünfzig Jahre nach ihrem Erscheinen. Diese Romane haben die Prüfung durch die Zeit bestanden, weil sie Belange und Nöte behandeln, die uns immer noch interessieren, über die Generationen hinweg. Joyce Carol Oates hat einmal gesagt, es gibt massenhaft Bücher, aber nur wenig Literatur, und das stimmt. Von den 50.000 Neuerscheinungen sind vielleicht nur ein Prozent wirkliche Literatur, aber das ist es, was mich interessiert, Literatur, die unser Leben berührt und Teil unserer kulturellen Erfahrung ist. Und vielleicht schreibt man in seinem ganzen Leben nur einen Roman oder nur eine Kurzgeschichte oder nur ein einziges Gedicht, das diesem Anspruch genügt.“
Schreibt er Gedichte?
„Nein, ich habe es es mal versucht, aber es ist nicht meine Form. Ich glaube, ich bin ein Prosaschriftsteller, ein Erzähler, kein Poet. Man kann ja auch in der Prosa sehr lyrisch oder poetisch sein.“
Kennt er deutsche Literatur, deutsche Philosophie?
„Mein Fachgebiet war Phänomenologie, Husserl und Heidegger haben viel für mich bedeutet. Hegel natürlich, Kant, Marx... was wollen Sie noch? Die Deutschen haben der Welt einige der aufregendsten Philosophen geschenkt. Amerika hat auf diesem Gebiet nicht viel entwickelt, abgesehen etwa von William James oder John Dewey. Wir sollten unsere Intellektuellen mehr achten. Aber Amerika hegt gegen die Intellektuellen immer einen Verdacht. Man liebt mehr den Mann der Tat, den Mann aus der Mitte. Und das ist ja auch einsichtig, denn Amerika ist eine Demokratie, und in der Demokratie ist der durchschnittliche Mann der König. 25 Prozent aller Amerikaner gehen aufs College, die Hälfte davon gelangt bis zum Abschluß. Es haben also nicht mehr als 30 Millionen eine College-Ausbildung, und deshalb sieht man die Intellektuellen als fremdartige Spezies. Die Intellektuellen haben dieses Urteil bestätigt, sie haben sich kaum Mühe gegeben, sich verständlich zu machen. Viele haben sich freiwillig vom Publikum verabschiedet, indem sie ihm zu verstehen gaben: Du bist blöde, du weißt nicht, wovon wir reden. Das beschädigt die öffentliche Rolle der Intellektuellen.“
Der Ehemann von Faith scheint ein Nietzscheaner zu sein.
„Er ist ein klassischer Sexist, ein Chauvinist, und er redet vom Willen zur Macht, aber natürlich hat er keine Ahnung von Nietzsche. Ich hatte einen Bekannten, der ihm glich. Er war ein Geschäftsmann, sehr materialistisch, er war eine Schwarzer mit absolut bourgeoisen Werten, völlig unkritisch und unsensibel. Und daher ist diese Figur auch eine Kritik der neuen schwarzen Bourgeoisie mit ihrem Materialismus und ihrem Konsumismus.“
Die Figur ist auch ironisch: ein Asthmatiker mit dem Willen zur Macht.
„Genau, er bringt es nicht, er begreift es nicht. Hätte er mehr Stärke, dann würde er auch seine Grenzen erkennnen. Er ist eher eine Karikatur.“
Kann er sich vorstellen, daß es für seine Kinder oder seine Enkel eines Tages bedeutungslos ist, daß sie schwarz sind?
„Natürlich. Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der das fast keine Rolle spielte. In der High School wurde das so gut wie nicht wahrgenommen, ein Freund hieß Tom, der andere Bob, und das war es. Wir Schwarze hatten einen Anteil von etwa 15 Prozent. Ich arbeitete an der Schülerzeitung mit, wir waren in denselben Clubs. Mitte der Sechziger war es überhaupt nicht schick, Leute anhand ihrer Rasse zu beurteilen, jedenfalls, da wo ich aufgewachsen bin. Im Norden war das kein Thema. Ich glaube, wir müssen wieder dahin kommen. Die Menschen waren sich nicht in der Weise ihrer Rasse bewußt, wie sie es heute sind. Unter den Liberalen gab es eine große Begeisterung für die Idee der Brüderlichkeit. Heute spricht davon keiner mehr, das Wort ist im öffentlichen Wortschatz nicht mehr vorhanden. Für Martin Luther King hat es eine große Rolle gespielt. Er wollte hin zu einer farbenblinden Politik. Statt dessen sind diejenigen stärker geworden, die sich ihre Ethnizität auf die Stirn geschrieben haben, die schwarzen Nationalisten und die Afrozentriker. Die haben die Rassenfrage zur Priorität gemacht. Aber das ist falsch, und es spiegelt nicht die Stimmung der Mehrheit.“
Am Ende fragte ich ihn, wie er sich am liebsten genannt sähe: African-American, Black? Er lachte und sagte, am liebsten werde er Chuck genannt. Er sehe in der Bezeichnung keine Frage der Rasse, sondern der kulturellen Differenz. Beide Namen seien in Ordnung. In der Hauptsache sei er Amerikaner.
Wie solle man mit der Immigration umgehen? Die illegale Immigration müsse gestoppt werden, sagte Johnson. Generell aber sei Amerika ein Immigrationsland, er könne sich nur schwer vorstellen, Immigration überhaupt zu unterbinden, obwohl man angesichts der schwindenden Ressourcen darüber nachdenken müsse, wann die Grenzen erreicht seien. Es gebe zu viele Menschen auf der Erde.
Unterdessen war seine Tochter aus der Schule nach Hause gekommen, zusammen mit einer weißen Klassenkameradin. Sie fragte etwas, was ich nicht verstand. Dann hört man heftiges Gespolter. Die Mädchen entledigten sich ihrer Segeljacken und Gummistiefel und verschwanden nach oben. Es hatte den ganzen Tag aus Kübeln geschüttet, und ich dachte mit Sorge an die lange Rückfahrt durch Seattle bis zum Flughafen. Wir hätten wohl noch länger dasitzen können, denn Johnson wirkte gut gelaunt und animiert, aber mein Flugzeug würde nicht warten, und so trat ich, nachdem wir uns herzlich voneinander verabschiedet hatten, mit einem Gefühl des Bedauerns in den Regen hinaus. Die Maschine brauchte nach dem Start mehr als eine halbe Stunde, bis sie die knapp über dem Boden lagernden Wolkenpakete durchstoßen hatte. Beim Anflug auf Los Angeles aber lag unter einem nachtklaren Himmel das flimmernde Lichtermeer des Südens.