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Ulrich Greiner

Der Schmerz des Wirklichen

Im letzten Band seines autobiografischen Romans Min Kamp hält Karl Ove Knausgård Gerichtstag über sich selbst

Einen wie ihn hat die Welt noch nicht gesehen. Der Norweger Karl Ove Knausgård gibt sein 48 Jahre kurzes Leben auf rund viereinhalbtausend Seiten zur Besichtigung frei, und diese sechsbändige Romanserie ist ebenso monströs wie faszinierend. Sie schildert nicht nur intime Dinge wie seine Trunksucht und die ersten Liebschaften, nicht allein die ersten mühseligen Schreibversuche, den Tod des Vaters, die Heirat mit Linda, den aufreibenden und zugleich beglückenden Alltag mit drei kleinen Kindern. Sie beschreibt auch die fortwährende Suche nach Knausgårds Ort in der Welt, die Auseinandersetzung mit den vielen gelesenen Büchern. Er ist wahrhaft ein Bücherverschlinger. Nicht selten wird der Leser zum Voyeur, weit öfter jedoch zum Gefährten einer Expedition in das Gefilde jener literarischen und philosophischen Fragen, die nicht allein den Autor umtreiben.

Die sechs Bände, die im Original Min Kamp (Mein Kampf) heißen und nummeriert sind, heißen auf deutsch Sterben, Lieben, Spielen, Leben, Träumen und Kämpfen. Der letzte Satz des letzten Bandes steht auf Seite 1269 und lautet: „Es ist 07:07 Uhr, und der Roman ist endlich fertig. In zwei Stunden kommt Linda, dann werde ich sie umarmen und sagen, dass ich fertig bin und ihr und unseren Kindern nie wieder so etwas antun werde. Wir werden den Zug nach Louisiana nehmen. Ich soll dort auf der Bühne interviewt werden, und hinterher soll sie interviewt werden, denn ihr Buch ist erschienen, und es funkelt und leuchtet wie ein Sternenhimmel im Dunkeln. Danach werden wir den Zug zurück nach Malmö nehmen, uns ins Auto setzen und zu unserem Haus fahren, und auf dem ganzen Weg werde ich den Gedanken genießen, wirklich genießen, dass ich kein Schriftsteller mehr bin.“

Will Knausgård mit dem Schreiben aufhören? Nein. Es bedeutet nur, dass dieses gigantische Projekt der Selbsterforschung und Selbstenthüllung an sein unüberbietbares Ende gekommen ist – und damit ist auch ein Schriftstellertum, das sich radikal aufs Autobiografische wirft.

Dieser dickste Band ist der Gipfel von allem. Er bietet eine Spiegelung der Selbstbespiegelung, eine skrupulöse Rückschau, und das Fazit ist ernüchternd: „Will man in die Wirklichkeit eindringen, wie sie für den Einzelnen ist – und irgendeine andere Wirklichkeit gibt es nicht –, will man es wirklich, dann kann man keine Rücksicht nehmen. Und das tut weh. Es schmerzt, wenn keine Rücksicht genommen wird, und es schmerzt, keine Rücksicht zu nehmen. Dieser Roman hat allen in meiner Umgebung wehgetan, und er hat mir wehgetan, und in einigen Jahren, wenn sie groß genug sind, um ihn zu lesen, wird er meinen Kindern wehtun. Hätte ich ihn noch schmerzhafter werden lassen, wäre er noch wahrer geworden. Es war ein Experiment, und es ist missglückt, denn ich habe niemals auch nur annähernd gesagt, was ich eigentlich meine, und beschrieben, was ich eigentlich gesehen habe.“

Im ersten Band hatte Knausgård unter anderem erzählt, wie er und sein Bruder die Leiche des Vaters, der am Suff gestorben war, im verwahrlosten Haus der dementen Großmutter entdeckten. Und jetzt berichtet er, wie er den Text vor seiner Drucklegung an Freunde und Verwandte schickt und wie sie reagieren; darunter Hanne, eine frühe Liebe aus Schülertagen.

Er telefoniert mit ihr. Sie ist einverstanden, doch beim Plaudern merkt er, dass beide sich an verschiedene Dinge erinnern: „Ich erinnerte mich an ein paar Episoden extrem gut. Doch gab es andere, die mir nur vage im Gedächtnis geblieben waren. Denen hatte ich beim Schreiben zu einer Form verholfen. Indem ich zum Beispiel Dialoge erfunden hatte, die eventuell wahrscheinlich, aber nicht wahr waren.“ Zu einer Form verhelfen: Das ist Knausgårds Methode. Denn er plündert ja nicht bloß das Leben der anderen, er dramatisiert und rhythmisiert es. Seine Autobiografie ist ein Roman, also fiktiv. Aber er lebt vom Authentischen, er ist ein Zwitter. Dieses Zwittrige erweist sich nun als Problem.

Der schärfste Protest kommt von seinem Onkel. Er fordert, alle Namen zu tilgen und die Umstände unkenntlich zu machen, widrigenfalls ziehe er vor Gericht. Knausgård schildert, wie ihn Furcht und Panik überfallen. Er hat diesen Onkel immer geachtet, ja geliebt, und dessen unerwartete Wut raubt ihm den Schlaf. Er zweifelt daran, ob es richtig war, den Vater so erkennbar auftreten zu lassen: „Ich dramatisierte meinen Vater und stellte ihn als einen Charakter in der Erzählung dar; ich präsentierte ihn so, wie man fiktive Charaktere präsentiert, indem ich das 'als ob', das sämtliche Literatur betont, verbarg und damit seine Integrität auf grundlegende Weise verletzte, indem ich sagte, so war er.“

Knausgård hält in diesem Buch Gerichtstag über sich selbst. Er begründet seine Poetik des Autobiografischen – und er bezweifelt sie. In der Erzählung Wunschloses Unglück, mit dem Peter Handke seiner Mutter, die sich umgebracht hat, ein Denkmal setzt, erblickt Knausgård „ein Buch, in dem sie nicht präsentiert, sondern nur über sie referiert wird.“ Nicht die diskrete Distanz Handkes ist sein Ziel, sondern das Unmittelbare und Wiedererkennbare. Deshalb ist es ihm so wichtig, die Namen zu nennen. Nur wer einen Namen hat, ist ein Individuum.

Beim Nachdenken darüber fallen ihm Verse von Paul Celan ein: „Der Ort, wo sie lagen, er hat / einen Namen – er hat / keinen. Sie lagen nicht dort.“ Die Zeilen stehen in Celans längstem Gedicht „Engführung“ (1958). Was jetzt beginnt, ist – wie soll man es nennen: verrückt, großartig? Denn Knausgård interpretiert dieses Gedicht mit einer geradezu verzweifelten Ausführlichkeit. Er will herauskriegen, was es bedeutet. Er will wissen, wie es zu Auschwitz kam, zu einem System, das den Namen annullierte und an seine Stelle das „Wir“ setzte. Das Individuum hatte keine Bedeutung mehr.

Und nun wendet sich Knausgård Hitler zu. Er will sich dessen Herkunft und seinen Werdegang verständlich machen. Er liest „Mein Kampf“ und zitiert den Text, konfrontiert ihn mit Zeitzeugen wie Victor Klemperer, sucht Verständnishilfe bei Ernst Jünger und Martin Heidegger, bei Stefan Zweig und Hermann Broch, Emmanuel Levinas und Giorgio Agamben. Er will das Ungeheuerliche verstehen. Er sieht den neunstündigen Film „Shoah“ von Claude Lanzmann, und am Ende resümiert er: „Ich halte es für richtig zu sagen, dass alles, was damals geschah, eben nicht unmenschlich, sondern menschlich war, und dass es gerade deshalb so schrecklich und so eng, ganz eng mit uns selbst und unserem Leben verbunden ist, und dass wir es, um es zu sehen und dadurch zu beherrschen, an einen Ort außerhalb des Menschlichen rücken, als etwas Unantastbares, das nur erwähnt werden kann, wenn es auf eine bestimmte, sorgsam kontrollierte Weise geschieht. Aber es begann in einem Wir.“

Der Gedankengang ähnelt dem berühmten Aufsatz Bruder Hitler aus dem Jahr 1939, mit dem Unterschied freilich, dass Thomas Mann auf sieben Seiten zum Ziel kommt, während Knausgård 72 Jahre danach (die norwegische Ausgabe erschien 2011) viele hundert benötigt, weil er versucht, sich den seitdem nicht enden könnenden Denkprozess anzueignen.

Warum quält sich dieser Norweger mit einem Thema, das vor allem uns Deutsche angeht? Warum gibt er seinen Romanen den fatalen Titel Min Kamp? Im Nachlass des Vaters hat Knausgård ein norwegisches Exemplar von Hitlers Mein Kampf gefunden. Woher es kam, was der Vater darüber dachte, weiß er nicht. Aber es wird ihm zum Anlass, dem eigenen Kampf nachzuforschen und somit über jenen anderen Kampf nachzudenken, der mit dem Ersten Weltkrieg begonnen hat und noch immer nicht ausgestanden ist.

Folgen davon erkennt er bei dem Massaker auf der Insel Utøya (2011), wo Anders Breivik 69 Menschen umgebracht hat. Als Knausgård davon erfährt, weint er hemmungslos: „Es war die Finsternis der Trauer, aber auch die Finsternis der Untat, und es war die Finsternis des Todes. Doch auf den Bildern, die vom Ort des Geschehens gesendet wurden, herrschte Licht, und dieses Licht, das kannte ich, es war das Licht an einem norwegischen Fjord an einem regnerischen Tag im Juli. Ja, alle Bilder, die von dort gesendet wurden, waren mir vertraut. Die dunkelgrünen Kiefern, die bis zum Wasser hinabwuchsen, die grauweißen Uferfelsen und das Wasser, das schwer und still davor lag, ebenfalls grau. Dort, mitten im Vertrauten, lagen tote, mit Plastikplanen bedeckte Körper.“

Knausgårds ungeheure Ernsthaftigkeit, seine Radikalität, sein geradezu naives Wissen- und Ergründenwollen sind die Kraftquelle seines Schreibens. An seiner Seite erlebt man die Unheilsgeschichte wie von neuem. Im schönen Gegensatz dazu leuchtet seine Fähigkeit, Menschen und Situationen plastisch werden zu lassen. Man sieht die drei Kinder leibhaftig vor sich, und selbst noch die panische Suche am Morgen nach passenden Socken für den Jüngsten, der in den Kindergarten zu bringen ist, verfolgt man mit Neugier. Am Ende beschreibt er einen manisch-depressiven Anfall seiner geliebten Frau. Das ist erschütternd zu lesen, obgleich es etwas Ausbeuterisches hat. Der letzte Satz, er werde so etwas ihr und den Kindern nie wieder antun, ist ein Gelöbnis.

Der grandiose Roman Alles hat seine Zeit (2007) liest sich zu Beginn wie ein Sachbuch über das Wesen und die Bedeutung der Engel. Es erzählt von einem Engelforscher der Renaissance, den es nie gegeben hat. Der Roman tut so, als wären seine Erfindungen schiere Realität. Die autobiografischen Bücher hingegen tun so, als wäre die Realität eine Erfindung. Damit ist es vorbei, alles hat seine Zeit. Von nun an wird uns Knausgård als ein anderer begegnen.

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