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Ulrich Greiner

Alles klar!
Die Autobiografie des Mark Twain

Wer war der bedeutendste Schriftsteller? Wer der spannendste und wer der tiefsinnigste? Auf solche Fragen, wie sie in fortgeschrittener Runde spaßeshalber auftauchen, wüsste jeder eine andere Antwort. Über den beliebtesten jedoch würde man sich vermutlich rasch einig: Es ist Mark Twain. Nicht allein, weil fast jeder seinen bezaubernden Tom Sawyer kennt, sondern vor allem deshalb, weil Mark Twain als grandioser Komiker gilt, als Ausbund des schlagenden Witzes und der lachhaften Übertreibung. Von ihm kennt man nichts Böses oder Ödes. In den Kompendien, wo man treffende Zitate und hübsche Pointen sucht, steht er an vorderster Stelle.

Witzig war Twain wie kaum einer, aber heutzutage, da jeder Moderator unentwegt witzig ist, ist das kein Kompliment mehr – es sei denn, man verstände, wie noch im 19. Jahrhundert, unter Witz so etwas wie Scharfsinn und Weisheit. Das sind Tugenden, die ein gewisses Alter, eine gewisse Lebenserfahrung voraussetzen. Beide erwirbt man nicht zufällig. Als Mark Twain sich hinsetzte, um seine Autobiografie zu schreiben, hatte ihm das Leben schon herbe Schläge verpasst: 1896 den Tod der Tochter Susy, 1904 den seiner Frau Olivia, 1909 den der Tochter Jane. Schon 1872 war das erste Kind im Alter von sechs Monaten gestorben. Einzig die Tochter Clara hat Mark Twain, der 1910 einem Infarkt erlag, überlebt. Sie war Sängerin und verwaltete das Erbe bis zu ihrem Tod 1962.

Die erstmals vollständige Ausgabe seiner autobiografischen Schriften (erschienen im Aufbau Verlag, und bislang liegt wohlgemerkt nur der erste Band von dreien vor) ist in  Amerika als Sensation gefeiert worden. Ihr Titel Meine geheime Autobiographie weckt die Erwartung, es werde Delikates zur Sprache kommen. Davon kann keine Rede sein. Zwar findet man heftige Hiebe gegen Zeitgenossen, die sich jetzt vielleicht im Grabe umdrehen. In der Hauptsache aber waren die autobiografischen Fragmente schon früher bekannt. Sie waren nur von unverständigen Herausgebern gekürzt oder in eine künstliche Ordnung gebracht worden. Die wahre Sensation dieser Ausgabe ist der hervorragende Kommentarband. In Deutschland sind wir wissenschaftlich solide Editionen gewohnt, in Amerika sind sie weitaus seltener, weil das System öffentlicher Wissenschaftsförderung schwächer ausgebildet ist.

Der Gewinn dieser Ausgabe besteht also im vollständigen Abdruck aller Texte, geordnet nach dem Zeitpunkt der Niederschrift oder des Diktats. Das verlangt von uns, zeitliche Sprünge nachzuvollziehen, und es erlaubt uns, die Zeitumstände und den Stimmungswandel des Autors genauer zu verfolgen. Wenn wir zum Beispiel seine Notizen über die Villa Quarto in Florenz lesen, wo die Familie im Herbst 1903 für einige Monate Quartier nahm, dann wundern wir uns nicht über seine ziemlich unwitzigen und querulatorisch gereizten Kommentare, denn wir wissen: Das milde Klima sollte seiner schwer kranken Frau Linderung oder gar Heilung bringen, und er machte sich große Sorgen. Mit Recht, denn sie starb im folgenden Sommer.

Der Witz war für Mark Twain eine Methode, sich seelische Erleichterung zu verschaffen, und die hatte er bitter nötig. Er war ein äußerst empfindsamer und auch empfindlicher Mann, der Niederlagen und Kränkungen nicht leicht wegsteckte und lange damit haderte. Zugleich war er eitel und intelligent genug, um zu wissen, dass man mit einem beleidigten Gesicht nicht weit kommt und dass es befriedigender ist, die Lacher auf seiner Seite zu haben. Das gelang ihm mit wachsender Übung immer besser. Da Mark Twain aber, sonst wäre er nicht der große Schriftsteller, sich immer auch im Spiegel sah, wendete er den Witz nicht selten gegen sich selbst. Die eingestandene Schwäche wurde von einer sozusagen objektiven Heiterkeit beleuchtet und die Peinlichkeit, indem sie sich selber verspottete, glanzvoll aufgehoben. Als Twain einmal mit seinem Verleger das Projekt der ewig neu begonnenen Autobiografie besprach, notierte er dessen Reaktion: „Er sprach mir Lob und Anerkennung zu, was weise und umsichtig von ihm war. Hätte er eine andere Ansicht bekundet, hätte ich ihn aus dem Fenster geworfen. Ich mag Kritik, aber sie muss zu meinen Gunsten ausfallen.“

Worin besteht der Kern des Mark Twainschen Witzes? Vor allem in einer grotesken Übertreibung, die, weil sie mit beiläufiger Ernsthaftigkeit daherkommt, gar nicht im Modus des Witzes erscheint – wie ja auch der kunstvolle Clown über die eigenen Scherze nicht lacht, sondern sie wie tiefe Einsichten darbietet. Die Übertreibung ist aber auch das Vehikel, sich aus der Tristesse alltäglicher Realität zu befreien, sie ins Fantastische, Abenteuerliche zu heben. Dafür ist sein Held Tom Sawyer, der ihm in vieler Hinsicht gleicht, ein gutes Beispiel. Gegen die oftmals widrigen Realitäten seines Lebens kämpfte Mark Twain heldenhaft, und es bereitete ihm – auch das kann man diesen Erinnerungen ablesen – größte Genugtuung, dass er in diesem Kampf letzten Endes gut ab geschnitten hat. Leicht war das nicht. Wer nur den Komiker und furiosen Erzähler vor Augen hat, vergisst, dass sein rastloses, von Arbeit erfülltes Leben wenig verheißungsvoll begann und dem Scheitern oft nahe kam.

Eigentlich hieß er Samuel Langhorne Clemens. In seinem wunderbaren Buch "Leben auf dem Mississippi"  erzählt er, unter welchen Mühen er es schaffte, Lotse auf den Raddampfern zu werden, bis der Bürgerkrieg den Schiffsverkehr zum Erliegen brachte und dieser Karriere ein Ende setzte. Eine seiner Aufgaben bestand im Messen der Wassertiefe, denn der Fluss war von zahllosen Sandb.nken durchzogen. Wenn er »mark twain!«  melden konnte, und das heißt "Zwei Faden!", war die Tiefe ausreichend, und es bedeutete so viel wie "Alles klar!". Einen optimisterischen Schriftstellernamen wird man selten finden.

Zum Optimismus hatte er nicht unbedingt Anlass. Die Eltern bürgerlicher Herkunft erlebten Phasen des Erfolgs wie solche des Missgeschicks, bis an die Grenze der Armut. In einem der frühen autobiografischen Versuche schreibt er: "Sie siedelten sich in dem winzigen Dorf Florida in Monroe County an, und dort kam ich 1835 zur Welt. Das Dorf bestand aus hundert Einwohnern, und ich vermehrte die Bevölkerung um 1 Prozent. Das ist mehr, als der beste Mann in der Geschichte je für eine Stadt getan hat."

Später zog Mark Twains Familie nach Hannibal, einer nördlich von St. Louis gelegenen Kleinstadt am Mississippi, die damals wegen des regen Dampferverkehrs einen bescheidenen Wohlstand erreichte und heute, da Schiffe und Züge fast keine Rolle mehr spielen, ein trauriges Dasein fristet. Nur von den zahlreichen Mark-Twain-Memorabilien wird Hannibal etwas aufgehellt. Hier findet man in der Tat den berühmten Bretterzaun, den Tom zur Strafe neu tünchen musste, hier auch das Schiebefenster, aus dem er sich nachts hinwegstahl, um dringlichere Projekte zu verfolgen, als es die Schularbeiten waren.

In seinen Erinnerungen gibt Mark Twain zu, dass die legendäre Tante Polly im Tom Sawyer  ein nicht allzu schmeichelhaftes Porträt seiner Mutter darstellt und der ekelhaft folgsame Sid das unfaire Abbild seines jüngeren Bruders Henry ist. Diesen Henry hat er dann auf einem Raddampfer untergebracht und sich rührend um ihn gekümmert. Im "Leben auf dem Mississippi"  erä.hlt er, wie Henry, als der Dampfer explodierte, ums Leben kam. In seiner Autobiografie schildert er die näheren Umstände: dass Henry fast überlebt hätte, aber einer Überdosis Morphium, verabreicht von einem unverständigen Arzt, elend erlag. Es quält ihn, dass er das Ende des Bruders in einem Wahrtraum vorhergesehen hatte, ohne daraus Schlüsse zu ziehen. 

An anderer Stelle erzählt er von den goldenen Tagen der Kindheit, von Streifzügen durch die Wildnis, von abenteuerlichen Jagden. Und wenn er die Sommerwochen auf der Farm seines Onkels in seiner melodischen,
anmutigen Sprache schildert, das Paradies der Freiheit und den reich gedeckten Tisch mit allen ländlichen Köstlichkeiten, dann ist der Leser ebenso gerührt wie der Autor. Ein zweiter Glück ort ist seine Familie. Hier ist der Vater die von seinen Töchtern gefeierte Person. Er muss nicht etwa nur vorlesen, sondern er muss aus dem Stegreif und oft nach genauesten Vorgaben erzählen: "Die Geschichten mussten immer heiß aus dem Ofen kommen. Sie mussten vollkommen originell und neu sein." Und es erfüllt ihn mit Stolz, dass die Kinder seinen Roman ""Der Prinz und der Bettelknabe  als Theaterstück aufführen.

Einmal erzählt er von einem Vorfall, der ein helles Licht auf die pädagogischen Maximen der Familie wirft. Die Erntezeit naht, und in jenem Jahr (1880) dürfen die Mädchen Susy und Clara zum ersten Mal hoch oben auf dem Heuwagen mitfahren. Die Erfüllung ihres Herzenswunsches macht sie mächtig aufgeregt. Susy ist acht Jahre alt, Clara sechs. Am Vortag jedoch gibt es einen Streit, bei dem Susy ihre Schwester heftig schlägt. "Entsprechend den Regeln des Hauses ging Susy zu ihrer Mutter, um ein Bekenntnis abzulegen und über Umfang und Art der fälligen Bestrafung mitzuentscheiden. Susy und ihre Mutter erörterten verschiedene Strafen, doch keine davon schien angemessen. Das Vergehen war ungewöhnlich ernst gewesen und erforderte, dass im Gedächtnis
ein Gefahrensignal aufgestellt wurde." Die Debatte endet damit, dass Susy als Strafe das Verbot der Heuwagenfahrt verlangt, und Mark Twain notiert nach 26 Jahren: "Nicht ich  hatte Clara attackiert, aber die Erinnerung an die Heuwagenfahrt, die der armen Susy entging, versetzt noch heute mir einen Stich."

Solchen Notizen kann man entnehmen, dass die zarte, kränkliche Mutter eine willensstarke Person gewesen sein
muss, das emotionale Oberhaupt der Sippe. Mark Twain schildert, wie er neue Texte im Kreis der Familie vorträgt, wobei er Passagen einbaut, von denen er ahnt, dass sie den Kindern gefallen, seiner Frau Olivia aber missfallen werden. Am Ende beugt er sich Olivias Lektorat. Viele Jahre später macht er sich Vorwürfe, jähzornig und selbstsüchtig gewesen zu sein, und er schreibt: "Ich habe nur wenige Männer gekannt, die kleinlicher sind als ich." Dieses "schändlichste Detail" seines Charakters sei nur zwei Menschen bekannt gewesen: "Mrs. Clemens, die darunter litt, und mir, der ich unter der Erinnerung an die Tränen leide, die sie
meinetwegen vergoss." 1906 diktiert er: "Livy sagte immer, ich sei ihr schwierigstes Kind. Sie war sehr empfindlich, was mich betraf. Es peinigte sie, mit ansehen zu müssen, wie ich Kopfl osigkeiten beging."

Zu den Kopflosigkeiten zählt, dass er oftmals impulsiv handelt undsich dadurch in peinliche Situationen bringt. Einmal sitzt er bei einem festlichen Bankett neben dem deutschen Kaiser Wilhelm II. Als die Kartoffeln aufgetragen werden, bemerkt er, dass sie genauso zubereitet sind, wie er es liebt. "Ich stieß einen freudigen Willkommensruf für die Kartoffel aus und wandte mich an den Kaiser neben mir, statt abzuwarten, dass er das Gespräch eröffnete. Alle waren wie versteinert, und keiner hätte ein Wort herausgebracht, selbst wenn er es versucht hätte. Das grauenhafte Schweigen zog sich eine halbe Minute hin und hätte selbstverständlich bis heute fortgedauert, wenn nicht der Kaiser selbst es gebrochen hätte." Damals galt die Regel, dass bei solchen Ereignissen allein die ranghöchste Person das Gespräch eröffnen durfte, und es spricht für den meist als ziemlich unsensibel geschilderten Kaiser, dass er den Schriftsteller aus seiner peinlichen Lage befreite.

Mark Twain war der berühmteste Schriftsteller seiner Zeit. Es gab Tumulte, wenn nicht alle seiner zahlreichen enthusiastischen Bewunderer bei einer Lesung Platz fanden. Für seine Vorrä.ge erhielt er Honorare bis zu tausend Dollar. Er war mit einigen amerikanischen Präsidenten befreundet, darunter mit dem Bürgerkriegsgeneral Ulysses S. Grant, dessen Memoiren er verlegte, und mit Grover Cleveland. Als dieser noch Gouverneur des Staates New York war, stattete ihm Mark Twain im Kapitol einen Besuch ab. Lässig setzte er sich auf eine Ecke des Schreibtischs. "In dem geräumigen Zimmer schien es an die sechzehn Türen zu geben. Plötzlich trat aus jeder Tür ein junger Mann, und die sechzehn reihten sich auf, rückten vor und blieben mit einer Miene achtungsvoller Erwartung vor dem Gouverneur stehen. Einen Augenblick lang schwiegen alle. Dann sagte der Gouverneur: ›Sie sind entlassen, Gentlemen. Ihre Dienste werden nicht ben.tigt. Mr. Clemens sitzt auf den Klingeln.‹" Im Kommentar kann man nachlesen, dass Mark Twain seiner Frau von dem Vorfall berichtet hat. Dort spricht er von vier Klingeln. In Wahrheit werden es wohl zwei gewesen sein.

Diese Autobiografie ist für jeden an Amerika und seiner Geschichte interessierten Leser eine Fundgrube. Mark Twain hat nicht gezögert, die freundschaftlichen Beziehungen zu Präsidenten zum Wohl mancher Freunde einzusetzen. Andererseits hat er sich immer wieder politisch eingemischt, nicht selten zu seinem Nachteil. Heute würde man ihn einen Linken nennen. Aber er machte sich sowohl für den Republikaner Grant stark wie später für den Demokraten Cleveland. Jedenfalls hatte er ein starkes Gerechtigkeitsgefühl, und früh schon kritisierte er die Entgleisungen des amerikanischen Kapitalismus.

Eine seiner schärfsten Attacken geht gegen den Eisenbahnmagnaten Jay Gould, der sich in den 1860er Jahren auf brutale und betrügerische Weise verschiedene Unternehmen aneignete. Im Rückblick schreibt Mark Twain: "Jay Gould war die größte Katastrophe, die je über dieses Land hereingebrochen ist. Schon vor seiner Zeit hatte das Volk Geld begehrt, er aber lehrte es, davor niederzuknien und es anzubeten. In unseren Tagen leistet das Evangelium, das Jay Gould hinterlassen hat, gewaltige Arbeit. Seine Botschaft lautet: ›Beschaff dir Geld. Beschaff ’s dir schnell. Beschaff ’s dir im Überfluss. Beschaff ’s dir in riesigem Überfluss. Beschaff ’s dir auf unehrliche Weise, wenn du kannst; auf ehrliche, wenn du musst.‹ . Mitt Romney hätte das sicherlich etwas anders ausgedrückt.

Er war ein zorniger Zeitgenosse, dieser Mark Twain, niemals gleichgültig, immer erregt. In seiner Autobiografie zeigt er sich begeistert, wenn ihm eine Sache einleuchtet, und zerknirscht, wenn er seine Fehler erkennen muss. Und doch, so spannend diese rund 700 Seiten sind (und es kommen die 400 Seiten des Kommentar- und Ergänzungsbandes hinzu): Zuweilen seufzt der Leser angesichts einiger Weitläufigkeiten. Auch das hat Samuel Lang horne Clemens gewusst, denn er schreibt: "Ich bin nicht daran interessiert, mit irgendetwas fertig zu werden. Ich bin nur daran interessiert, draufloszuschwatzen und nach Belieben abzuschweifen, ohne Rücksicht auf das Ergebnis für den künftigen Leser"r..

Das ist ein wahrhaft offenes Wort, und es erlaubt uns, die eine oder andere Seite zu überschlagen. Das Gefühl jedoch, das am Ende bleibt und alle anderen Eindrücke überwiegt, besteht ganz einfach darin, einem höchst aufrichtigen und sympathischen, einem animierenden und kämpferischen Geist begegnet zu sein. Er war eben nicht nur ein  beliebter, sondern auch ein großer Schriftsteller.



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