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Ulrich Greiner

Seht, euer Bruder

"Stoner": Dier späte Entdeckung des wunderbaren Romans von John Williams

Das ist die Geschichte von William Stoner, der als Bauernsohn mitten in Missouri aufwächst, jung heiratet, Professor wird, zu bescheidenem Wohlstand gelangt und im Alter von 65 Jahren stirbt. Es ist die Geschichte vom Unglück einer Ehe, vom Glück einer späten Liebe, vom Schmerz der Einsamkeit, vom Zweifel am Sinn des Lebens, vom Tod.

Eine hundsnormale Geschichte also, und doch hat man sie so noch nie gelesen. Sie wirkt nicht wie ein Roman, nicht wie die kunstfertige Erzählung einer fiktiven Biografie, die man interessiert zur Kenntnis nähme. Sie wirkt wie der unabänderliche Bericht über das Leben eines Mannes, der sich selber nicht begreift, gar nicht begreifen will, weil er anderes zu tun hat als seinem Inneren nachzuspüren. Was ihn antreibt, sind Wissensdurst und Arbeitslust – sowie das Bedürfnis, seine Studenten damit anzustecken.

Der Berichterstatter liebt diesen William Stoner und möchte wissen, warum er wurde, wie er war, und was dieses Leben bedeutet. Das Resultat seiner Recherche ist vollkommen verständlich und zugleich vollkommen rätselhaft. Sehr bald sehen wir diesen Mann leibhaftig vor uns, erkennen das Spiegelbild der eigenen Existenz in all ihrer Dunkelheit. Wir freuen uns mit Stoner, wir hadern mit ihm, wir leiden mit ihm – und zuweilen so sehr, dass wir nicht weiterlesen mögen.

Und wir begreifen: Man kann das Leben nur leben, so gut es eben geht. Wirklich verstehen kann man es nicht. Vielleicht ist das die größe Stärke dieses bewegenden Buches: dass es seinen Helden nicht durchschaut, nicht zurechtdefiniert. Es stellt ihn in all seinen Stärken und Schwächen, in all seiner mittleren Menschlichkeit vor uns hin und sagt: Seht, euer Bruder!

Stoner geht in die Krisen und Konflikte hinein wie ein Tor. Wenn es sein Fach (englische Literaturgeschichte) betrifft, ist er kompetent und scharfsinnig wie wenige. Doch wenn es ums kommunikative Können geht, um Taktik, um Verstellung, um Diplomatie, versagt er nicht anders als Dostojewskis Idiot. Wie dieser ist Stoner von seltsamer Blödigkeit. Und eben die rührt uns an. Sie ist der Inbegriff einer schönen, unberührbaren Einfalt. Sie hat mit Stoners Herkunft zu tun. Die Eltern, die sich dem Joch ihrer erbärmlichen Landwirtschaft sprachlos beugen, sind imstande, dem Jungen ein ärmliches, aber schützendes Zelt der Kindheit zu errichten. Das macht ihn stark, unbeugsam, und er wird diese Störrischkeit bis an Ende behalten. Sein Nomen, das an den Stein gemahnt, ist durchaus ein Omen.

Edith, seine Frau, ist anders. Auch hier versorgt uns der Roman nur unzureichend mit Erklärungen. Die wohlhabende Bankiersfamilie aus St. Louis wird als entsetzlich kalt geschildert, aber was es damit näher auf sich hat, bleibt verborgen. Ist Edith von ihrem Vater missbraucht worden? Man weiß es nicht. Jedenfalls ist sie eine hübsche, zarte Erscheinung, in die sich Stoner auch deshalb augenblicklich verliebt, weil er nie zuvor Anlass hatte, eine Frau offen in den Blick zu nehmen.

Um die Umgangsformen zu verstehen, muss man wissen, dass die Szene Anfang der zwanziger Jahre spielt. Der Erste Weltkrieg, an dem Stoner, im Gegensatz zu den meisten seiner Kommilitonen, nicht teilgenommen hat, ist eben zu Ende gegangen. Warum blieb er am College? Es hat mit seinem Einzelgängertum zu tun, dem Heroismus nichts bedeutet, und auch mit seinem Ideal: der Lehre und der Wissenschaft zu dienen. Er macht das auf dieselbe asketische Weise, mit der er den einst vorbestimmten Weg, die väterliche Farm zu übernehmen, beschritten hätte.

Schon die erste Begegnung zwischen Stoner und Edith ist gespenstisch. Beide haben sie nicht die geringste Erfahrung, und ihr Gespräch, umstellt von Geboten der Konvention, ist nicht viel mehr als ein großes Missverständnis. In der Hochzeitsnacht wird es sichtbar. Edith sträubt sich mit allen Anzeichen des Ekels. Der scheue Stoner lässt ab von ihr und widmet sich seinen Studien. Als Edith endlich beschließt, Mutter zu werden, erzwingt sie geradezu selbstmörderisch die dafür notwendigen Begegnungen. Ihre zweifellos pathologischen Stimmungsschwankungen verletzen Stoner. Umso liebevoller widmet er sich der heranwachsenden Tochter, während die Mutter über lange Zeit unpässlich und unansprechbar bleibt.

Man fragt sich, warum man sich diesen nicht sehr erfreulichen Wendungen schutzlos ausgeliefert fühlt. Dass die Sprache des Buchs höchst suggestiv ist, einen stoischen, selbstvergessenen Rhythmus hat, spielt sicherlich eine Rolle. Entscheidend kommt hinzu, dass der Erzähler nur im äußeren Detail mitteilsam ist und poetische Bilder zaubert, in den psychologisch-existenziellen Momenten hingegen wortkarg und sachlich bleibt, als wollte er sich hüten, seinen Personen zu nahe zu treten und ein Wissen vorzugeben, das er nicht hat.

So etwa bleibt der ewige Streit zwischen Stoner und dem Kollegen Lomax letztlich unerklärt. Lomax ist ein eloquenter, eitler, geistreicher Krüppel. Sein Lebensziel erblickt er in den Gratifikationen des akademischen Lebens, wo sein Handicap nicht wirklich zählt. Den buckligen Zwerg Lomax und den knochigen Riesen Stoner verbindet anfangs eine kollegiale Freundschaft, die sich plötzlich in eine abgrundtiefe Feindschaft verkehrt.

Aus welchem Grund? Wiederum kann man nur raten. Stoner hat mit Hilfe des schwiegerväterlichen Darlehens ein Haus gekauft und lädt die Kollegen zu einer Party ein. Zum allgemeinen Erstaunen erscheint auch Lomax, der sich bei solchen Gelegenheiten nie blicken lässt. „Lomax war ziemlich betrunken, was man ihm allerdings kaum anmerkte; er ging so vorsichtig, als trüge er eine Last über unebenes Terrain, und ein Schweißfilm lag auf dem schmalen, blass schimmernden Gesicht.“

Die meisten Gäste sind schon gegangen, eine kleine Runde sitzt noch beisammen, und hier erzählt Lomax von seiner Kindheit, „von der Isolation, die ihm von seiner Missbildung aufgezwungen wurde, und den frühen Schamgefühlen, deren Ursache er nicht begriff.“ In diesem Augenblick fühlt sich Stoner dem Kollegen sehr nahe. Haben sie nicht beide in der Universität ihre Genugtuung und ihre Heimat gefunden?

Gegen vier Uhr morgens verabschiedet sich Lomax: „Er ging zu Edith, ergriff ihre Hand, um sich für das Fest zu bedanken. Und dann, wie von einem stummen, spontanen Einfall getrieben, beugte er sich ein wenig vor und legte seinen Mund auf ihre Lippen; Edith fuhr ihm mit der Hand leicht ins Haar, und einige Augenblicke verharrte beide in dieser Stellung, während die anderen zuschauten.“ Und dann heißt es: „Es war der keuscheste Kuss, den Stoner je gesehen hatte, und er schien ihm ganz natürlich.“

Hat sich Stoner mit dieser Interpretation getäuscht? Wir wissen es nicht. Fortan jedenfalls begegnet ihm Lomax mit erbitterter Feindseligkeit – mag sein aus Scham über die betrunken unfreiwillige Selbstenthüllung. Es mag jedoch auch sein, dass in diesem Augenblick zwischen Lomax und Edith, den beiden unterschiedlich Verkrüppelten, ein Nähe entstanden ist, die Stoner in seiner Arglosigkeit nicht bemerkt. Nachfolgend jedenfalls wird ihm der Hass des Kollegen und der kaum mindere seiner Gattin viel Kummer bereiten.

Und dann widerfährt dem fast schon Sechzigjährigen die große Liebe. Doch Stoner sieht sich außerstande, die Familie, den Beruf aufzugeben und der jungen Dozentin, die um ihn gekämpft hat, bedingungslos zu folgen. Er ist ein Mann, der dort ausharrt, wohin die Pflicht ihn gerufen hat. Auch das hat etwas Bäurisches.

Der Roman erzählt von gewöhnlichen Dingen. Sie würden uns nicht treffen, wäre nicht Stoner ein seltsam reiner, sich selbst verschlossener Held des Lebens, der gebeugt, aber nicht geschlagen jenem Ende entgegengeht, das niemanden verschont. In seinem Fall ist es der Krebs, der ihn inmitten seiner seiner friedvollen späten Jahre ereilt. Auf dem Sterbebett gleiten die Bilder seines Lebens an ihm vorbei. Es kam, so scheint es ihm, einem Scheitern, einem Versäumnis ziemlich nahe. „Was hast du denn erwartet, fragte er sich.“

Und jetzt, im Angesicht des Todes, setzt sich Edith zu ihm aufs Bett: „Eine neue Ruhe breitete sich zwischen ihnen aus, eine Stille, die wie der Beginn einer Verliebtheit war, und beinahe ohne nachzudenken wusste Stoner, warum sie gekommen war. Sie hatten sich das Leid vergeben, das sie einander zugefügt hatten, und betrachteten selbstversunken, was aus ihrem gemeinsamen Leben hätte werden können.“

Und dann kommt das Ende. Oder ein Anfang? „Er spürte, dass er aus langem Schlaf erwachte, und fühlte sich erholt. Es war Ende Frühling oder Anfang Sommer. Auf den Blättern der großen Ulme lag ein satter Schimmer, und der Schatten, den der Baum warf, war von einer frischen Kühle, wie er sie schon einmal gespürt hatte. Wieder atmete er tief ein, hörte das Rasseln und spürte, wie sich die Süße des Sommers in seinen Lungen sammelte. Und ebenso spürte er mit diesem Atemzug, wie sich tief in ihm etwas verschob, eine Verlagerung, die etwas anhielt und seinen Kopf fixierte, weshalb er ihn nicht bewegen konnte. Dann ging es vorbei, und er dachte: So ist das also.“

Der Texaner John Williams, der als Pofessor in Denver gelehrt, zwei Gedichtbände und vier Romane veröffentlicht hat, ist 1994 gestorben und wurde vergessen. „Stoner“ erschien 1965 ohne nennenswerte Resonanz. Es ist ein Glück, das wir ihn jetzt entdecken können.


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